Das Trauma auf sozialen Medien

03. November 2020

Während seriöse Medien genau auf ihre Berichterstattung achten, bedenken was sie zeigen, auf Fakten achten - kursiert auf Social Media "brutales" Chaos: Das ist gerade für junge Leute gefährlich, da sie oft ungefiltert Bilder sehen und dadurch Fake News und brutalen Videos ausgesetzt sind.

„Ein letztes Mal…“

Montagabend. 20 Uhr. Wien-Mitte Landstraße. Meine Mitbewohnerin und ich stehen vor „The Mall“ und warten auf einen weiteren Freund von uns. Geplant war ein Abend gemeinsam im Kino. Ein letztes Mal vor dem Lockdown den Kulturbereich genießen, bevor er schließen muss. Im nächsten Moment fahren mehrere Krankenwagen und Polizeiautos vorbei. Sie fahren alle in dieselbe Richtung: Schwedenplatz.

TW: Dieser Text beinhaltet graphische Beschreibungen vom Attentat in Wien.

Meine Mitbewohnerin öffnet Instagram und erblickt ein Video auf einer Story. „Schießerei in Wien“, schreibt einer auf das Video. Man sieht im ersten Moment nur Blaulicht und Polizisten. „Geht auf Twitter“, sagt ein fremder Mann neben uns. „Es soll ein Amoklauf beim Schwedenplatz stattgefunden haben. Auf Twitter gibt es Videos und Bilder.“ Während mein Herz fast aus meiner Brust explodiert, öffne ich Twitter, danach Instagram, Facebook und TikTok – wie ein Teufelskreis tippen meine Finger von der einen App auf die andere. Es wird mir ein TikTok von einem syrischen Flüchtling in der U-Bahn abgespielt. Im Video hört man ihn beten: „Lieber Gott. Wir sind von Syrien geflüchtet um dort nicht zu sterben. Jetzt werden wir hier sterben müssen. Lieber Gott, beschütze uns.“ In seinem mittlerweile gelöschten Video sieht man wie Menschen auf dem Boden in der U-Bahn liegen und sich verstecken. Es sind grausame Szenen. Mir wird bewusst, wie ernst die Lage ist – als Aktivistin ist es mir ein Anliegen meine Community zu warnen: Ich starte auf Instagram einen Aufruf, dass sich alle in Wien in Sicherheit begeben sollten. Während ich versuche meine Freunde, die sich zu dem Zeitpunkt dort befinden, zu erreichen, werden mir von fremden Menschen auf Instagram Videos und Bilder vom Tatort geschickt – ohne jegliche Trigger-Warnung. Bilder, wo man Menschen in Blutlacken liegen oder an einer Wand erschossen werden sieht. Es sind Aufnahmen aus einem Fenster in der Nähe des Tatortes. Ein anderes Video zeigt, wie ein Polizist erschossen wird. Knalllaute Schusstöne. Videos, wo ganze Menschenmassen in dieselbe Richtung laufen und schreien. Es sind Bilder, die sich in meinen Kopf einpflanzen. Es sind Bilder, die mich in dieser Nacht wachhalten. Bilder, die mich an Krieg erinnern. Krieg, den meine Eltern entkommen mussten.

Fake News, Gerüchte und Retraumatisierung

Der 11-jährige Bruder einer Freundin soll diese Inhalte auch zugeschickt bekommen haben. Wenn Videos und Bilder auf sozialen Medien ohne Trigger-Warnungen gepostet werden, dann kann das eine echte Traumatisierung in Menschen auslösen – vor allem, wenn diese Inhalte in WhatsApp Gruppen von minderjährigen Schulkindern geteilt werden. Und genau dieses ungefilterte Teilen von solchen Videos ist das gefährliche am Internet. Umso gefährlicher ist es, wenn Kinder oder Menschen mit Angststörungen, PTBS und anderen mentalen Erkrankungen diese Inhalte sehen. Solche Szenen zu sehen, kann schwerste Retraumatisierungen in Menschen auslösen, die vom Krieg geflüchtet sind oder Angehörige im Krieg verloren haben. Wenn die Behörden dazu aufrufen, die Bilder und Videos nicht auf sozialen Medien zu teilen, dann hat das einen wichtigen Hintergrund: Mit dem Hochladen solcher Videos, wo man erkennen kann, dass Polizisten schießen oder sich an bestimmten Orten positionieren, profitieren die Attentäter davon, weil sie die Strategien und Standpunkte der Polizei auf diesem Weg herausfinden können. Dadurch können sie dann strategisch die Orte wechseln und leichter entkommen. Es ist aber nicht nur das: Es zeigt eine Respektlosigkeit den Opfern, ihren Familien und Angehörigen gegenüber, wenn Videos und Fotos vom kaltblütigen Mord an ihren Liebsten im Internet kursieren. Der Moment des Mordes ist für immer im Internet gespeichert. Was die Behörden bei ihrer Arbeit gefährdet und stört, sind zusätzlich Gerüchte und Fake News, die im Privaten und öffentlich ausgetauscht werden. Das Problem ist, dass Fake News sich sechs Mal schneller im Internet verbreiten als echte Nachrichten. Und indem diese Fake News und die brutalen Videos und Bilder mehrfach geteilt werden, spielen wir uns nur in die Hände der Extremisten und Terroristen: Denn sie sind diejenigen, die uns in Angst, Schrecken und Trauma versetzen wollen.

Auf dem Weg nachhause in der U3 versuche ich meine Freunde zu erreichen, die in Bars und Restaurants beim Schwedenplatz arbeiten. Der Nachhauseweg fühlt sich an diesem Tag besonders lang an. Mittlerweile wissen weder meine Mitbewohnerin noch ich, was real ist und was nicht. Dabei muss es vielen Menschen so gehen wir mir heute. Chaos, Angst, Verwirrung und Trauer begleiten mich noch am selben Tag – und auch jetzt, während ich diese Zeilen tippe. In Gedanken bin ich bei den Opfern und Angehörigen. Unsere Solidarität muss ihnen gehören.

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