"Die Türkei muss aufwachen"

31. Mai 2015

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Erdogan, Türkei
SEDAT SUNA / EPA / picturedesk.com

Am 7. Juni wählt die Türkei ein neues Parlament. 2,8 Millionen Auslandstürken können in türkischen Konsulaten ihre Stimmen abgeben. Eine Woche vor der Wahl war Biber in Wien unterwegs und hat potenzielle Wähler nach ihrer Meinung zum möglichen Wahlausgang gefragt. 

„Egal wie die Wahl ausgeht: Die politische Stimmungslage wird sich nicht ändern.“, meint Hilal, eine Ladenboutique-Besitzerin auf der Schweglerstraße im 15. Bezirk. Was ihr sorgen mache ist der zunehmende Einfluss religiöser Moralvorstellungen. „Schau dir Österreich an, schau dir Deutschland an. Wird da auf Wahlkampfveranstaltungen „Allah Akbar“ (Gott ist groß) gerufen? Religion hat in der Politik nichts verloren.“ Aus diesem Grund würde sie keine der Parteien wählen. Entweder seien sie zu religiös, zu autoritär oder zu voreingenommen. Echte Demokratie sei ein Fremdwort in diesem großen Land.

Opposition warnt vor Diktatur

Das Land mit 77 Millionen Einwohnern steht womöglich vor einer richtungsweisenden Wahl: 58 Millionen Wahlberechtigte bestimmen am 7. Juni die neue Zusammensetzung der „Großen Nationalversammlung“ (türkisch: Türkiye Büyük Milli Meclis). Allein 2,8 Millionen davon sind Auslandstürken. In 112 türkischen Vertretungen in insgesamt 54 Ländern, darunter auch Österreich, können sie ihre Stimmen abgeben. Während die AKP auf die absolute Mehrheit hofft, um das präsidentielle System mit Recep Tayyip Erdoğan an der Spitze zu etablieren, setzt die Opposition im Wahlkampf alle Hebel in Bewegung, um dies zu verhindern. Allen voran die prokurdische „Demokratische Partei der Völker“ (HDP) mit ihren beiden Spitzenkandidaten Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. Sie warnen vor der Errichtung einer Diktatur, sollte die AKP die absolute Mehrheit erreichen und Erdoğan alleiniger Staatspräsident werden. In der Tat hängt es am Ende von der HDP ab. Sollte sie die Zehn-Prozent-Hürde überschreiten, müsste sich die AKP einen Koalitionspartner suchen und kann die Verfassung nicht alleine ändern.

"Alles unterentwickelt nur wegen Erdoğan"

Für Deniz, die auf der Mariahilfer Straße shoppen ist, wäre das ein Horrorszenario. Die 20-jährige Kurdin macht sich Sorgen, dass sich die Türkei in die falsche Richtung verändert und möchte Veränderungen sehen: „Alle reden davon, dass Erdoğan die Türkei sehr weit gebracht hat. Doch was ist mit der Demokratie, Minderheitenrechte und Geschlechtergerechtigkeit in diesem Land? Alles unterentwickelt nur wegen Erdoğan und seiner Truppe. Ich hoffe, dass die HDP ins Parlament kommt.“

„Der Präsident überschreitet seine Befugnisse“

Kemal (32), Murat (35) und Sinan (36) haben bereits gewählt und ihre Stimme an die „Republikanische Volkspartei“ (CHP) gegeben. Die Partei Atatürks ist für die Drei die einzig wählbare Fraktion, da der Laizismus für sie das höchste Staatsprinzip ist. Aber auch die autoritäre und die befugnisüberschreitende Amtsausübung Erdoğans ist ihnen ein Dorn im Auge: „Die Türkei entwickelt sich immer weiter zurück. Sie war einst ein Musterland, wenn es um die Trennung von Religion und Staat geht. Jetzt steht ein Mann an der Spitze, der sich für den größten Imam hält und sich in die privaten Angelegenheiten der Menschen einmischt.“, deutet Murat auf Erdoğans Aussage hin, wonach eine türkische Familie mindestens aus drei Kindern bestehen sollte. Für Kemal hat das System: „Natürlich spricht Erdoğan vor allem seine eigene Anhänger an. Sie sollen ihm zukünftige Wähler auf die Welt bringen.“ Sinan hält den türkischen Präsidenten schon jetzt für einen machtbesessenen Diktator: „Ein Staatspräsident sollte sein Amt neutral und gewissenhaft ausüben. Stattdessen reist er wieder nach Deutschland um Wahlkampf zu machen und überschreitet seine Befugnisse. Damit will er seine Macht demonstrieren.“ Obwohl die Drei auf dem Reumannplatz ihr Bier genießen, merkt man ihnen an, wie die politische Situation in der Türkei sie aufregt. Für sie steht fest: „Die Türkei muss aufwachen und diesen Diktator abwählen.“

Auch Ekim (19) und Jekta (19) haben die CHP gewählt. Die beiden sitzen vor einem Kebap-Lokal im Brunnenmarkt und sind überzeugt, dass sich ihr Spitzenkandidat Kemal Kilicdaroğlu für soziale Gerechtigkeit zwischen den Generationen einsetze. „Viele Arbeitnehmer und Pensionisten können kaum von ihren Löhnen leben. Gleichzeitig baut sich Erdoğan ein Palast.“, empört sich Ekim und vergleicht den Präsidenten mit einen verschwendungssüchtigen Sultan.

Wechselstimmung?

Auffällig ist, dass sich nur wenige AKP-Sympathisanten auf den Wiener Straßen finden lassen. Man könnte daher meinen, dass eine Wechselstimmung herrsche und ein Umdenken bei den Wiener Türken stattgefunden habe. Doch womöglich trauen sich die Meisten nicht, sich öffentlich als Erdoğan-Anhänger zu outen. Die Unterhauswahlen in Großbritannien vom 7. Mai dienen hier als hervorragendes Beispiel. Alle Umfragen sagten ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Konservative und Labour voraus. Überraschenderweise erreichten die Konservativen die absolute Mehrheit. Experten gehen davon aus, dass sich die meisten Anhänger von David Cameron nicht getraut haben, öffentlich ihre Meinung zu äußern.

„Erdoğan umarmt uns“

Es gibt sie nach wie vor, die Erdoğan-Anhänger. Cemal ist einer von ihnen und steht zu seinem Präsidenten. Der 40-jährige, der am Westbahnhof auf die U3 wartet, wird seine Stimme an die AKP geben und ist überzeugt, dass Erdoğan nur das Beste für die Türkei wolle: „Die Türkei steht heute so gut da, wie nie zuvor. Der Präsident denkt stets an sein Volk und lässt uns nicht im Stich.“ Während Österreichs Politiker ständig schlecht über Türken reden würden, nähme Erdoğan sie unter Schutz. „Er gibt uns das Gefühl der Umarmung.“

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Kommentare

 

Ist vielleicht auch eine Altersfrage, warum ihr wenige AKP Waehler gefunden habt.
Oder ein Stadt/Land Unterschied?
1. ) Ihr habt in dem Artikel nur Leute unter 40 gefragt. Aeltere Menschen sind wohl überall auf der Welt konservativer.
2.) War am Konsulat erstaunt wieviele aeltere Menschen den Weg auf sich genommen haben. Viele sind von der AKP in Bussen zum Waehlen gebracht worden.

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