"Eines Tages heirate ich vier von euch!"

17. August 2021

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Nada El-Azar
(C)Zoe Opratko

Über die Ohnmacht, welche die Szenen aus Afghanistan bei uns auslösen und wie auf einen Schlag die Zukunft von Millionen Frauen und Kindern ausgelöscht wird.

Die dramatischen Szenen vom Flughafen in Kabul gingen gestern durch die ganze Welt. Menschen, die sich verzweifelt an ein US-Flugzeug klammern, Tote auf dem Flugfeld, weinende Kinder, die über Schranken gehievt werden – ein Mensch stürzt aus mehreren hundert Metern vom Flugzeug in die Tiefe, wie ein sinkender Punkt am blauen Himmel über das im Chaos versinkende Afghanistan. Gerade diese letzten Bilder erinnern sehr stark an jene vom 11. September 2001, als Menschen durch die Rauchschwaden des World Trade Centers in den Tod sprangen, weil sie keinen anderen Ausweg sahen.

Ein ganzes Land kollabiert binnen Tagen.

Damals, als sich 9/11 ereignete, war ich gerade einmal fünf Jahre alt und wir feierten zuhause den vierten Geburtstag meiner jüngeren Schwester Shirin. Erst viele Jahre später, als ich alt genug war, um zu verstehen, welch ein einschneidender Tag das gewesen ist, betrachtete ich die Fotos von uns als Kindern, mit Torte, Gummibärchen und Soletti ganz anders. Wenn ich mit älteren FreundInnen und Bekannten spreche, wissen sie natürlich alle ganz genau, was sie am 11. September 2001 gemacht haben. Was sich in Gesprächen mit KollegInnen, FreundInnen, Bekannten, und Gleichaltrigen abzeichnet, ist ein unglaubliches Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Situation. Wir sehen zu, wie ein ganzes Land binnen Tagen kollabiert, und durch Social Media eröffnet sich ein ganzes Kaleidoskop von Leidensgeschichten in Echtzeit.

Wer verteidigt die Burka jetzt?

Besonders nahe gehen mir, wie sicherlich vielen anderen auch, die hautnahen Berichte von Frauen, die ihre Wohnungen aus Angst vor Vergewaltigung und Schlägen nicht mehr verlassen können. Eine Bewohnerin Kabuls, die an der Universität studiert, beschreibt in einem Bericht im britischen Guardian unter anderem, wie ihr Frauenwohnheim evakuiert werden soll, weil die Taliban in der Stadt angekommen waren. Frauen, die keine Burka tragen, würden dann von den Talibananhängern geschlagen werden. Sehen diejenigen, welche die Burka in Europa vor Kurzem noch als selbstbestimmte Entscheidung von Frauen und ein Ding der „Religionsfreiheit“ verteidigten, ihre Dummheit zumindest jetzt ein? Taxi- und Busfahrer verhinderten den Einstieg von Studentinnen, weil sie keine Verantwortung dafür übernehmen wollten, Frauen zu befördern. Männer lachten hämisch über Frauen und riefen „Geh‘ und zieh‘ dir eine Burka über! Das wird euer letzter Tag auf der Straße sein. Eines Tages heirate ich vier von euch!“

Journalistinnen und Aktivistinnen rechnen mit Hinrichtung.

Mädchen werden von nun an nicht mehr zur Schule gehen können und im schlimmsten Fall den Talibankriegern zur Zwangsheirat übergestellt werden müssen. Es gibt Videos von mutigen Ärztinnen und Lehrerinnen, die ihre Berufe nicht mehr ausüben werden. Journalistinnen und Aktivistinnen fürchten indes um ihre Leben und rechnen mit Hinrichtung. Junge Frauen, die ihre Zukunft und ihre Karriere nur mehr in den Sand setzen können. Menschen werden ihre Lieblingsmusik nicht mehr ohne die Angst, dafür Prügelstrafen zu bekommen, hören können. Was können wir dagegen tun? Die Ohnmacht wächst immer weiter. Wir haben einen Innenminister, der weiter auf Abschiebungen pocht, und sich dafür nicht in Grund und Boden schämt, einen Außenminister, der mit den radikal-islamischen Taliban „verhandeln“ will und auch nicht merkt, wie – offen gesagt – bescheuert das eigentlich klingt.

Frauen und Kinder am meisten im Stich gelassen.

Ein Flugzeug der Deutschen Bundeswehr evakuierte sage und schreibe sieben Menschen aus Afghanistan, aber soll laut Medienberichten im Rahmen des Abzugs schon 22.500 Liter Bier, Wein und Sekt, sowie einen 27 Tonnen schweren Gedenkstein aus Maser-e-Sharif an den Schwielowsee bei Potsdam gebracht haben. Zum Vergleich: Gestern drängten sich in ein US-Militärflugzeug, das eigentlich für 114 Menschen ausgelegt ist, unglaubliche 640 Passagiere. Sie alle wurden aus Kabul ausgeflogen – wobei man dazu sagen muss, dass zumindest auf den Fotos kaum Frauen und Kinder zu sehen sind. Sie werden in dieser Situation am meisten im Stich gelassen. ExpertInnen warnten vor den Gefahren durch den Abzug von US-Truppen, was Donald Trump veranlasste und sein Nachfolger Joe Biden nun zu Ende bringt – koste es, was es wolle. Sie wurden nicht gehört. Wo ist das Schuldbewusstsein in Washington, natürlich auch angesichts der wesentlichen Einmischung in die Politik des Nahen Ostens? Den Taliban und ihrer angeblich friedlichen Machtübernahme ist „nichts zu glauben“, wie Politikwissenschaftlerin Petra Ramsauer in der ZIB betonte. Und wir können nichts unternehmen.

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