„Es ist ein Schlag ins Gesicht“ – über die Serie „Bir Başkadır“

17. Dezember 2020

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Bir Başkadır
Foto: Netflix

Eine türkische Serie, Gesellschaftsstudie und ein Psychogramm acht in Istanbul lebender Menschen, die derzeit der türkischen Gesellschaft den Spiegel vorhält. Die Diskussionen über die Serie zeigen, dass das nicht immer erfreulich, wenn nicht sogar schmerzlich sein kann. Darüber habe ich mit einer Freundin aus Istanbul gesprochen.


„Bir Başkadır“ (türkisch für „ein Anderes“) ist eine untypische türkische Serie, wenn ich ehrlich bin. Im Unterschied zu dem türkischen Serienmarkt, der nur von kitschigen Seifenopern trieft, ist „Bir Başkadır“ eine Serie, die nicht unterhalten, sondern verstehen will. Sie gaukelt den Menschen hinter den Bildschirmen keine alternative Realität vor, die sie sowieso nie erreichen können, sondern erzählt sehr realitätsnah vom facettenreichen Leben in Istanbul. Vom Leben der High Society kann man sich gut distanzieren, von einer Darstellung, die sehr nah an der eigene Realität ist, nicht. „Es ist ein Schlag ins Gesicht“, kommentiert Rabia die Reaktionen in der Türkei. 

Die Serie des türkischen Regisseurs Berkun Oya überzeugt bereits in den ersten Minuten mit seinen langsamen, detailverliebten und bedachten Aufnahmen im 70er-Jahre-Stil. Die Serie portraitiert auf einfühlsame Art das Innenleben acht in Istanbul lebender Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Versuch, die Hauptfiguren hier in ihrer Tiefe zu beschreiben, würde der Serie nicht gerecht werden und ihn seiner visuellen Kraft berauben. Denn die visuelle und vor allem kontrastreiche Kommunikation ist eine der Besonderheiten dieser Serie. Allen Figuren gemein ist, dass sie sich danach sehnen, die soziokulturellen Spaltungen und Grenzen in sich und in ihrer Gesellschaft überwinden zu wollen. Alle fühlen sie sich fremd in ihrem eigenen Land, in der eigenen Familie oder auch in den eigenen Gedanken. 

 

Bir Başkadır
Foto: Netflix

 

Im Konkreten liegt das Universelle 

Peri, die genug davon hat, immer die bürgerlich emanzipierte Frau zu spielen. Meryem, die gegen das konservative und patriarchale System ankämpft und arbeiten gehen möchte. Sinan, der von einem One-Night-Stand zum nächsten springt, sich aber nach Nähe und Beständigkeit sehnend in seine Putzfrau, Meryem, verschaut hat. Hayrunnisa, die lesbische Tochter des Hodschas, die heimlich zu Techno feiern geht. Psychische Krankheiten, die nicht ernst genommen und verstanden werden. Zwischen Aberglauben und Wissenschaft. Zwischen Emanzipation und Unterdrückung. Zwischen Kurden und Türken. Zwischen Frau und Mann. Es sind die Kontraste und Brüche. Die Grenzen sind schwammig. Die Serie spielt mit Wahrheiten und bringt sie da zusammen, wo wir sie nicht erwarten würden. In welcher Serie sieht man schon, dass ein Hodscha eine lesbische Tochter hat? „Bir Başkadır“ bricht mit Normgewohnheiten und widerlegt die festgefahrenen Vorurteile einer Gesellschaft, die aufgehört hat Fragen zu stellen. Auf einmal kann eine kopftuchtragende Frau auch emanzipiert sein und, man glaubt es kaum, auch Männer in patriarchalen Gesellschaftsstrukturen Gefühle haben.  

 

Bir Başkadır
Peri und Meryem, Foto: Netflix

 

Wem gehört die Wahrheit?

Die Serie nimmt sich zurück: beobachtet, hört zu und urteilt nicht. Wie sehr uns diese Distanz abhandengekommen ist, zeigen bereits die Debatten, welche die Serie ausgelöst hat. Das Rechtfertigungsbedürfnis beider Seiten bestätigt, wie nah die Serie an die Realität kommt. Die konservative Seite empört sich über die Darstellung der Sittenlosigkeit und möchte lieber Bilder einer scheinbar geeinten Gesellschaft vorgegaukelt bekommen. Die linksliberale Seite geht in Abwehrhaltung, bei dem als überheblich dargestellten Bildungsbürgertum. Die soziokulturelle Defensive ist wirklich tragikomisch, weil die Serie ja genau das thematisiert: Wer hat das Deutungsrecht über die Wahrheit? 

 

Bir Başkadır
Foto: Netflix

 

„Diese acht Menschen, die in der Serie beschrieben werden, sind nicht erfunden. Die gibt es wirklich. Man sitzt mit ihnen in der Tram; sitzt ihnen im Café gegenüber; isst mit ihnen zu Abend; vielleicht nennt man sie auch Mama oder Papa; vielleicht ist man es stückweit auch selbst.“, beschreibt Rabia das Gefühl der Serie. Auch für mich, die ich nicht in Istanbul lebe, enthält die Serie unglaubliches Identifikationspotenzial. „Bir Başkadır“ zeichnet ein Bild eines Landes, welches mit vielen Wahrheiten kämpfen muss und wie sich dieser Kampf in jedem einzelnen der Charaktere niederschlägt. Die Serie beschreibt konkret anhand einzelner Menschen, universelle Prozesse, deswegen dreht sich die Serie im Kern auch um Fragen, die nicht nur die türkische Gesellschaft, sondern auch unsere, betreffen. 

 

Die Serie findet ihr auf Netflix. Es lohnt sich!

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