(Politische) Heimatlosigkeit

05. September 2022

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Yasser
Mein Vater Yasser, Anfang der 70er Jahre.

Am 5. September 2022 ist das Münchner Olympia-Attentat genau 50 Jahre her. Warum ausgerechnet dieses tragische Ereignis dazu führte, dass ich eine Österreicherin bin.

Im Frühjahr 1971 kommt ein junger Palästinenser nach München. Der 20-jährige Yasser hat es mit großer Unterstützung seiner ganzen Familie geschafft, eine Ausreise aus dem Gaza-Streifen nach Deutschland zu erhalten. Mit im Gepäck: Sein israelisches Reisedokument, ein sogenanntes Laissez-Passer für Staatenlose wie ihn, einen Platz für einen Deutschkurs im Goethe-Institut und der Plan, sich nach dem viermonatigen Deutschkurs für einen Platz an der Freien Universität in West-Berlin zu sichern, damit er Medizin studieren kann. Und dieser Plan haute tatsächlich hin: Er sollte im Oktober 1972 per Flug aus Tel Aviv nach West-Berlin für sein Medizinstudium kommen. Dieser Mann ist mein Vater. 

Doch genau heute vor 50 Jahren kam bei den olympischen Spielen in München alles anders: Acht palästinensische Terroristen der Gruppe „Schwarzer September“ nahmen elf Sportler aus der israelischen Mannschaft als Geiseln. Nach einer kläglich gescheiterten Befreiungsaktion, mit insgesamt 17 Toten – alle elf Israelis, ein Polizist und fünf der palästinensischen Terroristen starben – wurde als Folge ein Einreiseverbot für alle Palästinenser verhängt. Mein Vater hatte einen Platz an der Universität in Deutschland und plötzlich keine Möglichkeit mehr, dort hinzureisen. Er probierte es, über Österreich ein deutsches Visum zu bekommen, doch auch in Wien verjagten sie ihn aus dem deutschen Konsulat mit den Worten: Palästinenser raus! Lufthansa! Keine Palästinenser!

Hätte Österreich damals wie Deutschland ein Einreiseverbot für alle Palästinenser verhängt, wäre mein Vater womöglich niemals aus seiner Heimatstadt Khan Younis, der zweitgrößten Stadt im Gaza-Streifen, gekommen. Und auch mich würde es heute nicht geben, die diesen Text niederschreibt, da er meine Mutter nicht geheiratet hätte, und sie niemals aus Kairo nach Wien gezogen wäre. „Der Kreisky hat mich aber reingelassen“, pflegt mein Vater heute zu sagen. Statt Arzt in Deutschland wurde Yasser El-Azar Diplomkrankenpfleger in Österreich. Er hatte, anders als manche Bekannte von ihm aus Gaza, einen Weg des Friedens gewählt und wollte sich in Europa eine Zukunft aufbauen. Er hatte nichts mit jenen Terroristen zu tun, welche die israelischen Olympia-Sportler umbrachten oder die Lufthansa-Maschine entführten. Wäre er damals für die Untaten seiner Landsleute mitbestraft worden, hätte sein Leben ganz anders ausgesehen. Als mein Vater 1981 die österreichische Staatsbürgerschaft bekam, hatte er längst nicht mehr vor, in den Gaza-Streifen zurückzukehren. Als Staatenloser hatte er keine andere Staatsbürgerschaft, die er für die österreichische hätte aufgeben müssen. Österreich wurde seine Heimat. Und somit die Heimat meiner Mutter, sowie meine und die meiner vier Geschwister.

Heute, 50 Jahre nach dem Münchner Olympia-Attentat, beschäftigt mich die Frage, ob der Ukraine-Krieg und die im Zusammenhang damit verbundene Visa-Sperre für russische Staatsbürger letztlich dazu führen könnte, dass mein Mann keinen Aufenthalt mehr in Europa bekommen könnte. Auch er hat nichts mit diesem Konflikt zu tun, doch scrollt man durch die Kommentare auf Social Media, merkt man schnell, wie sich die Gesinnung verändert hat. Die Geschichte wiederholt sich zwar ständig, aber muss man all ihre Fehler genauso wiederholen? Ich hoffe, dass letztlich nicht nur der Frieden siegt, sondern auch die Vernunft der europäischen Politiker. Pauschalisierungen ganzer Bevölkerungsgruppen haben niemals etwas Gutes gebracht. Das sollte man gerade in Österreich wissen – unser Staatsvertrag liegt schließlich trotz allem ironischerweise in Moskau.

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