Selbstoptimierungszwang auf Instagram

20. April 2020

Gedichte schreiben, Lasagne kochen, das neue Workout von Pamela Reif ausprobieren: Corona bedeutet – neben Social Distancing – für viele vor allem mehr Zeit. Doch während einige die Muskeln spielen lassen und sich selbst neu erfinden, leiden andere unter dem Gefühl, täglich auf’s Neue zu scheitern.

Teppich, Training
Foto: Jara Majerus

„Ich hab‘ schon an einem Yogakurs, einem Workout, einem Tanzkurs und einem Schreibworkshop teilgenommen“, schreibt meine beste Freundin in die WhatsApp-Gruppe, in der sich gerade alle über ihre Quarantäne-Beschäftigungen austauschen. Ich sitze im Homeoffice meiner Mutter – ein kleiner Schreibtisch und ein Regal in ihrem Schlafzimmer – schaue vom Handybildschirm auf und aus dem Fenster. Es regnet. Ich denke nach. Was mach ich eigentlich die ganze Zeit?  Ich habe nämlich nicht an einem Schreibworkshop und auch nicht an einem Livestream-Training teilgenommen.

Dabei wäre all das doch gerade so einfach. Überall warten Menschen auf mich, die mir ihre Fähigkeiten in Form von Workshops zur Verfügung stellen wollen – gratis! Insbesondere auf Instagram zeigen mir gefühlt fünfzig Leute wie sie täglich auf dem Hometrainer strampeln, ihre Bauchmuskeln definieren, drei Bücher auf einmal lesen und ein Gemälde malen, das mit Rembrandts Nachtwache mithalten kann. Ich hingegen schwitze in Quarantäne nicht mehr auf dem Hometrainer als normalerweise auch, habe Moby Dick noch immer nicht gelesen und meine künstlerischen Tätigkeiten beschränken sich auf Kritzeleien am Rand meines Notizblocks. Ich telefoniere noch nicht mal mehr als sonst. Kurz: Ich nutze die Quarantänezeit nicht um mich selbst zu optimieren, zu verwirklichen oder zu finden. Und das ist in Ordnung, auch, wenn ich mir das immer wieder vor Augen führen muss.

Die Leistungsgesellschaft kennt keine Auszeit

Denn gerade fühlt es sich noch viel mehr so an, als ob der eigene Wert an den täglich erbrachten Leistungen gemessen wird. Es ist so, als ob man die Zeit – die ja jetzt alle zu haben scheinen – unbedingt nützen müsse, indem man so produktiv wie möglich ist und Dinge tut, für die man sonst nie Zeit hatte. Der Gruppen-Optimierungszwang auf Instagram verleitet zum Vergleichen und neben den auf Social Media angepriesenen Errungenschaften der anderen, wirkt der eigene Alltag schnell wie klägliches Scheitern. Man möchte nicht zu denen gehören, die ihre Zeit verschwendet haben und deshalb nach der Krise nicht mit der selbstoptimierten Masse mithalten können. Manche mag das alles motivieren, sich täglich selbst zu übertreffen. Menschen, die durch die Krise weniger Zeit haben – weil sie sich um ihre Kinder kümmern müssen oder durch die aktuelle Situation beruflich stärker eingespannt sind – setzt das jedoch unter Druck. Und mal abgesehen davon: Selbst, wenn man mehr Zeit hat, bedeutet das nicht automatisch, dass man mehr Energie hat, um zur Verkörperung der Produktivität zu werden.

Workout oder Sims – total egal

Die Corona-Krise muss nicht als „Das Jahr, in dem ich mich selbst verwirklicht habe“ in die Lebensläufe eingehen. Man muss nicht alles, wofür man all die Jahre keine Zeit hatte, in ein paar Monaten nachholen. Es ist in Ordnung, den Stillstand des Hamsterrads namens „Alltag“ ein bisschen zu genießen und eigentlich gibt es sowieso nur eine Sache, die man in dieser Zeit so gut wie möglich tun sollte: auf sich achten. Und wenn man das tut, indem man sich durch ein 60ig-minüntiges HIIT Workout zwingt, dann ist das toll! Aber wenn man auf sich achtet, indem man auf dem Laptop der kleinen Schwester Sims spielt und den Nachmittag damit verbringt ein Haus mit Turm, alten italienischen Fliesen und Wintergarten auf dem Dach zu bauen, dann ist das auch gut genug.

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Kommentare

 

danke für den Blog. Sobald ich das Wort "Selbstoptimierung" höre, suche ich mir schnell einen Stressball, bevor unschuldige Menschen zu Schaden kommen ;)

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