Sivas 1993: Dort wo ein Mahnmal hingehört steht ein Kebab-Restaurant
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Am 2. Juli 1993 stand ein Hotel in Flammen. Nicht irgendeiner. Sondern eines, das zum Synonym für ein alevitisches Trauma geworden ist.
Es gibt Bilder von Verbrechen, die sich in das kollektive Gedächtnis von Volksgruppen einbrennen. Die Bilder vom „Sivas-Massaker“ sind solche. Es hat das Bewusstsein der Aleviten (die größte religiöse Minderheit in der Türkei) nachhaltig geprägt, dass 20.000 wütende Islamisten die Straßen der zentralanatolischen Stadt stürmen, um das „Madımak Hotel“ zu verbrennen. Aleviten, die an einem 2. Juli ihren Geburtstag feiern, lassen ihn ersatzlos ausfallen. Auf Demonstrationszügen gegen die türkische Regierung sind die Bilder der 37 Opfer allgegenwärtig. Immer wieder werden in kulturellen Veranstaltungen an Männer, Frauen und einem Kind gedacht, die qualvoll an einer Rauchvergiftung starben. Kein anderes Thema emotionalisiert das Alevitentum so sehr, wie dieses Verbrechen. Doch die türkische Regierung geht damit um, wie sie mit allen Massakern in ihrer Geschichte umgegangen ist: Den „Vorfall“ mit relativierenden Begriffen unter den Teppich kehren.
„Zu Feige und Dumm für die Demokratie“
Doch was genau ist passiert, dass in einem Hotel friedlich feiernde Menschen am Ende mit ihrem Leben bezahlen mussten? Im Sommer 1993 erklärte der türkische Schriftsteller Aziz Nesin während eines alevitischen Kulturfestivals zu Ehren des Dichters Pir Sultan Abdal öffentlich, dass die türkische Bevölkerung zu „feige und dumm“ sei, sich für die Demokratie einzusetzen. Zudem hat Nesin den für Muslime ketzerischen Roman „Die satanischen Verse“ von Salman Rushdie übersetzt und teilweise veröffentlicht. Konservative sunnitische und islamistische Kreise fühlten sich extrem provoziert und säbelten bei Fernsehauftritten mit den Rasseln. Am 2. Juli desselben Jahres hielten sich Aziz Nesin sowie alevitische Musiker, Schriftsteller, Dichter und Verleger im Madımak Hotel auf. Da es ein Freitag war, nutzten islamistische Prediger die Freitagsgebete dazu, um Hass gegen Aleviten zu schüren. Tausende von Menschen sammelten sich vor dem Hotel, schrien Allah Akhbar (Gott ist Groß) und warfen schließlich Brandsätze auf das Gebäude. Wegen der Menschenmenge draußen vor dem Hotel, wagten es die Hotelgäste nicht ins Freie zu flüchten und wurden schließlich vom Feuer eingeschlossen.
„Sie sollen alle verbrennen, die Ungläubigen“
Rädelsführer der Täter war der islamistische Stadtratsabgeordnete von Sivas Cafer Erçakmak. Als die Feuerwehr eintraf und Aziz Nesin mit der Leiter ins Freie gelangen wollte, versuchte der Islamist den Schriftsteller wieder hochzujagen. Daraufhin rief er der Menge zu: „Sie sollen alle verbrennen, die Ungläubigen.“ Und die Polizei? Sie schaute zu und ließ gewähren. Die Staatsgewalt hatte sich in dem Moment entschieden, ein Komplize zu sein. Der damalige Bürgermeister von Sivas, Temel Karamollaoğlu, sprach zu seinen Bürgern und versuchte auf sie einzuwirken. Nicht um sie zu beruhigen, sondern um sie zu unterstützen. Süleymann Demirel war zu der Zeit Staatspräsident. Als Journalisten versuchten ihn zu erreichen, antwortete er mit Ignoranz.
Kebab-Restaurant statt Mahnmal
Die Geschehnisse von damals sind kaum verarbeitet worden. Rädelsführer Erçakmak konnte sich bis zu seinem Tod 2011 unbehelligt in Sivas aufhalten. Zahlreiche Täter sind noch auf der Flucht. Viele von ihnen halten sich in Deutschland auf. Es gibt keine Reue, keine Auseinandersetzung. Die türkische Regierung weigert sich nach wie vor das Massaker anzuerkennen und spricht lieber von einem „traurigen Vorfall.“ Das Hotel existiert immer noch. Dort, wo eigentlich ein Mahnmal hingehört, steht ein Kebab-Restaurant.

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