Warum verfremdet Österreich seine Kinder?

09. September 2020

Delna Antia-Tatic

Delna Antia-Tatic
Zoe Opratko

Wer in Österreich geboren wird und aufwächst, sollte die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen – ganz ohne Integrationsbeweise.

Dann solle ich doch Österreicherin werden, meint er, der Bürgermeister. Im ersten Moment bin ich sprachlos. Der meint das ernst. Österreicherin werden? Are you for real, möchte ich mit Gif-Gestik antworten. Es würde nicht nur bedeuten, dass ich auf alle Fragen a la „wer bist du, woher kommst du, wohin gehst du?“ antworten müsste: I am from Austria. Emotional eine glatte Lüge. Leider ist „Wienerin“ ja keine Nationalität. Österreicherin zu sein würde vor allem einen Verlust bedeuten: Ich wäre nicht mehr Deutsche. Und das geht leider gar nicht. Die Staatsbürgerschaft ist nun einmal ein Identitätszeugnis. Das weiß er, das weiß ich und das weiß vor allem jeder „echte“ Österreicher.

30 Prozent der Wienerinnen und Wiener dürfen nicht mitwählen. Krasse Sache, um es deutsch auszudrücken. Unter diesen 500.000 Menschen sind vor allem Junge, die ausgeschlossen werden: Es sind EU-Bürger wie ich, die zumindest auf Bezirksebene mitbestimmen dürfen. Und es sind Wienerinnen wie meine Bekannte Enisa. Sie, die Lektorin, die mit dem Germanistikmagister, die in Wien geboren wurde, hier zur Schule ging und aufwuchs, die also nichts anderes ihr „Daham“ zu nennen weiß – Enisa darf gar nicht mitbestimmen. Auf keiner Ebene. Ihre Eltern flüchteten aus Bosnien, einem „Drittstaat“. Der Name ist hier wohl Programm - sie fühlt sich stets wie ein "Mensch dritter Klasse". Sieht so demokratische Teilhabe 2020 aus? Der Bürgermeister zuckt mit den Schultern und sagt: Bundesgesetz – kann er nichts machen – man müsse sich schon entscheiden. Denn das Wahlrecht wird nicht durch die Aufenthaltsdauer bestimmt, sondern basiert auf der Staatsbürgerschaft.

Das böse Kind wird verstoßen.

Warum verfremdet Österreich konsequent und kontinuierlich seine Kinder? Warum wird nicht jeder Säugling, der auf österreichischem Boden geboren wird, zu einem österreichischen Kind? In Deutschland ist das möglich. Dort gilt ein eingeschränktes „Geburtsortprinzip“ – nicht nur für die stets privilegierten EU-Bürger sondern auch für Migranten aus Drittstaaten. Beispiel: Sofern zumindest ein türkisches Elternteil mindestens acht Jahre in Deutschland lebt, ist Baby Mustafa ab Geburt Deutscher. Gute Lösung, oder? Das alleinige Festhalten am bloßen Abstammungsrecht, wie es in Österreich praktiziert wird – also die Vererbung der Staatsbürgerschaft über das Blut –  ist nicht nur fremdenfeindlich, sondern vor allem dumm. Sie erzeugt eine emotionale Spaltung bei den Betroffenen, die nicht notwendig ist. Wer stets die Staatsbürgerschaft zur Integrationskrönung stilisiert, die man sich durch Leistung verdienen soll und sich monetär auch leisten können muss, verfremdet gezielt einen großen Teil der eigenen Gesellschaft – bzw. des eigenen Nachwuchses.

Nochmal: Ich rede von Kindern, die hier in Österreich geboren werden, die hier aufwachsen, zur Schule gehen und später einen Job verrichten. Warum pickt man diese quasi schon im Kreißsaal heraus und tätowiert ihnen schlechtere Startbedingungen auf die Stirn, mit dem Hinweis: Du musst dich erst beweisen! Warum fühlt man sich nicht für diese Kinder verantwortlich – unterstützt sie, in guten wie in schlechten Zeiten? Warum müssen sie erst knapp 2000 Euro auf den Tisch legen und sicherstellen, genügend Einkommen vorweisen zu können? Ich finde das zutiefst ungerecht, denn für ihre Startvoraussetzungen in diesem Land können sie nichts. Und obgleich ihr Österreichleben schon mit Hürden beginnt, wird von ihnen das Bravsein noch besonders erwartet. Wer schlimm ist und Mist baut, der könnte disqualifiziert werden. Es gilt die Unbescholtenheit laut Einbürgerungsgesetz. Das kann so weit gehen, dass schon mehrere, für sich genommen leichte Verkehrsstrafen die Verleihung der Staatsbürgerschaft vereiteln können. Österreich erzieht per Passvergabe, indem der gute Migrant belohnt wird. Das böse Kind wird verstoßen und man zieht sich aus der Verantwortung.

Künstliche Verfremdung schafft innere Entfremdung!

Das ist nicht konsequent sondern kontraproduktiv. Immerhin besitzt ein Viertel aller guten und schlechten Österreicher Migrationshintergrund. Und im Hinblick auf den 15. Wiener Gemeindebezirk ist das Resultat dieser Methode katastrophal. Dort dürfen nämlich unglaubliche 42 Prozent der Bewohner nicht den Gemeinderat wählen. Tendenz steigend. Und ein Blick auf die Einbürgerungsrate zeigt: Wurden 2003 noch fast 19.000 Menschen eingebürgert, sind es im Jahr 2019 nicht einmal 5000 gewesen. Quasi ein Erfolg für die Verschärfung der Hürden. Da muss man sich wirklich nicht wundern, wenn bei dieser künstlichen Verfremdung von oben auch eine innere Entfremdung stattfindet: Wenn Jugendliche extra Gegenidentitäten aufbauen und beginnen, die Heimat der Eltern zu verherrlichen. Wer den Pass dann irgendwann trotzdem ergattert, für den verliert er meist genau das, was er als ultimative Integrationslizenz ja eigentlich soll: Ihm geht jegliche emotionale Bindung ab, es ist ein Papier, das käuflich erworben wurde.

Zum Erwerb gehört dann auch ein Verzicht: Wer sich einbürgert, kann nicht „beides“ sein. Ausnahmen sind Sternchen aus Musik und Sport, die Glanz und Gloria für Österreich bringen. Solche Ausländer müssen nicht „entweder-oder“ sagen, sie sind ja ein Gewinn, da drückt man bei der zweiten Staatsbürgerschaft gern ein Auge zu. Es liegt ja im sogenannten „Interesse der Republik“!  Nicht im Interesse der Republik sind hingegen türkische Doppelstaatsbürger, da wird ganz genau hingeschaut und wehe, hier ist einer auf Erdogans Wahlliste. Es kann schon vorkommen, dass Österreich ratzfatz die Staatsbürgerschaft wieder entzieht. Ein Austrotürke mit österreichischem und türkischem Pass, ihn als Gewinn zu sehen übersteigt jede Fantasie. Wo kämen wir da hin? 

Ins deutsche Gesetz, möchte ich hier antworten. Denn in Deutschland dürfen ausdrücklich auch Kinder von Migranten aus Drittstaaten – wie eben der Türkei – mehrere Staatsbürgerschaften besitzen. Es soll ihrer besonderen Situation Rechnung getragen werden. Der „Deutschtürke“ wird nicht unterbunden sondern ermöglicht, seine Identität des „sowohl-als-auch“ anerkannt. In Österreich wird in diesem Punkt mit zweierlei Maß gemessen. Während Anna Netrebko zwei Pässe haben darf, weil sie so schön singt, muss sich jeder Normalsterbliche bei der Einbürgerung entscheiden: Entweder nur Österreicher oder gar nicht. Schade. Weil ansonsten, lieber Herr Bürgermeister, könnte ich mir das womöglich schon vorstellen: Österreicherin zu werden und Deutsche zu bleiben.

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