Welcome to Romania! Mit dem Zug in die Heimat
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Ich bin ein verzogenes Kind. Ich fliege immer in die Heimat und sehe es nicht mehr als ein Privileg, in anderthalb Stunden schon zu Hause zu sein. Vor einem Monat habe ich mich spät entschlossen, den Juli in Rumänien zu verbringen. So blieb mir keine andere günstige Möglichkeit übrig als mit dem Zug zu fahren: Ganze 21 Stunden (ohne die zwangsläufige Verspätung) in einem Zugabteil mit noch fünf Unbekannten. Ich war gespannt!
Die Suche nach Steckdosen
Ich sitze ruhig in meinem Abteil mit einer Österreicherin und einer Ungarin: Es ist schon 20:30 und der Zug hätte schon um 19:40 abfahren sollen. Wir jammern alle – der effektivste Gesprächsstarter, oder? Der Zug fährt endlich mit einer Verspätung von mehr als einer Stunde ab und ich wundere und freue mich, dass die Abteile so leer sind.
Man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben stimmt jetzt mehr als je zuvor. Es ist schon Mitternacht und am Keleti Bahnhof in Budapest steigen Menschen scharenweise zu. Mittlerweile wollte ich schummeln und habe mich in die erste Klasse eingeschlichen. Da war fast niemand und ich hatte nur vor, meinen Laptop kurz aufzuladen (ja, in der zweiten Klasse gibt es halt keine Steckdosen). Pech gehabt! Nach maximal 15 Minuten jagen mich zudringlich zwei aggressive Kontrolleure weg und ich muss zurück zu meinem Platz. Oder ein paar Zehner hinblättern. Nein, danke.
Ich verstehe nur Bahnhof
In meinem Abteil sitzt jetzt eine ganze Familie. Überall hängen Tücher, T-Shirts und Chips-Verpackungen. Meine Nachbarn sprechen nichts anderes als Ungarisch und ich denke nur, dass ich die nächsten sechs Nachtstunden da im Sitzen verbringen muss. Ich mache die Augen zu, sie reden extrem laut und mir wird langsam klar, dass ich erneut irgendwoanders hin muss.
Samt einem tonnenschweren Gepäck und zwei Taschen mache ich mich auf den Weg zu einem leereren Abteil. Und ich finde es: Normalerweise für die Kontrolleure reserviert, aber jetzt ganz leer. Schlaf gut!
Sleep is for the weak
Von wegen! Nach einer halben Stunde kommt ein alter Mann rein. Der wurde vor Kurzem aufgefordert, aus dem Zug auszusteigen, denn er hatte kein gültiges Ticket. Jetzt versteckt er sich da vor den Kontrolleuren. Der Kontrolleur folgt ihm nach und in Kürze werde ich Zeuge eines Handgemenge, das sich als sehr wild entpuppt. Alles wieder nur auf Ungarisch. Der Zugbegleiter ist bald weg und niemand wurde verletzt. Der Alte flüstert mir leise auf Rumänisch zu: „Dreckiges Schwein! Er hat Sie aufgeweckt, gell?“
Wir unterhalten uns bis zur Morgendämmerung. Mein neuer Nachbar ist Ungar aus Rumänien, mittlerweile lebt er in Budapest und jetzt fährt er zu einem Treffen mit früheren Gymnasiumskollegen nach Arad. 60 Jahre nach dem Abschluss ist der Anlass dazu. Seine Frau ist gestorben, Kinder hat er nicht und nun verfolgt er seinen alten Traum aus den Kinderzeiten: Pilot werden! Er hat den Pilotenschein gemacht und bis jetzt ist er nach Südafrika, Brasilien und Australien geflogen. Mit so einem Gesprächspartner verzichtet man gerne auf seinen Schönheitsschlaf, oder?
Ein glücklicher Zufall
Leider muss ich mich in der Früh von ihm verabschieden. Zwei Stunden später entscheide ich mich, in Sibiu (dt. Hermannstadt), eine zweieinhalb-stündige Autofahrt von meiner Heimatstadt entfernte Stadt, auszusteigen und weiter den Bus zu nehmen. Ich konnte es nicht mehr bis zum Abend im Zug aushalten.
Ich stehe verwirrt vor dem Bahnhof und sehe einen Mann, der auf sein Auto zugeht. „Wissen Sie wie ich mit den Öffis zum Busbahnhof komme?“, frage ich ihn höflich. „Keine Ahnung. Ich fahre nicht mit dem Bus, aber steigen Sie zu! Ich fahre in dieselbe Richtung.“ Ich verlasse mich sehr oft auf mein Bauchgefühl und diesmal flüsterte es mir nichts Schlimmes zu. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
Bald sind wir am Busbahnhof, wo es nur einen einzigen Bus gibt. Die Passagiere stellen sich schon auf, um einzusteigen. Was für ein glücklicher Zufall: Der Bus fährt direkt in meine Heimatstadt und sogar in fünf Minuten. Ich frage den Busfahrer, ob es noch Plätze gibt: „Theoretisch nicht, aber wir können für Sie einen schaffen.“
Welcome to Romania
Nur ein kleines Problem: In meinem Portemonnaie gibt es nur Euro-Scheine. Der einzige Geldautomat in der Nähe befindet sich am anderen Ende der Hauptstraße. Drei Minuten und ein Autorennen später darf ich dank meinem Gelegenheitsfahrer in den Bus zusteigen.
Auf dem Sitzplatz direkt hinter dem Busfahrer bin ich die einzige im ganzen Bus ohne Klimaanlage, die sich der Kühle von dem kleinen Ventilator des Fahrers erfreuen kann. Somit wusste ich, dass ich endlich zu Hause angekommen bin: Es gibt keine klaren Regeln und nichts steht sicher, aber irgendwie klappt trotzdem alles. Welcome to Romania!
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