Ich möchte nicht nach Hause gehen und ungefragt einen fremden Penis präsentiert bekommen

07. Mai 2021

Freitagmorgen und ich spaziere durch die Straßen Wiens. Das Wetter spielt seit Tagen verrückt und wieder einmal schieben sich auch jetzt Wolken vor die Sonne und Graupelschauer prasseln auf den Boden. Ich ziehe meine Jacke noch ein bisschen mehr zu und setze mir meine Mütze auf, Mama meinte ja immer, wenn man‘s um die Ohren kalt hat, dann friert der ganze Körper. Durch meine Kopfhörer ertönt „The World is Yours“ von Nas und genau so fühle ich mich gerade auch, als ob mir die Welt gehören würde.

Ich spaziere weiter um die Ecke, vorbei an einem Solarium und einem Lebensmittelgeschäft, kurz vor meinem Wohnhaus trifft mein Blick die Augen eines Mannes. Abrupt schau ich wieder weg, mir ist irgendwie unbehaglich zumute. Nochmals wandert mein Blick in seine Richtung und da sehe ich, wie er dabei ist seinen Gürtel zu öffnen und seine Hose aufzuknöpfen. Ich bin irritiert und mein Puls beschleunigt sich. Mein Herz schlägt immer schneller und ich wechsle die Straßenseite. Ich setze einen Fuß vor den anderen, nur mit dem Gedanken, so schnell wie möglich meine Wohnungstür zu erreichen. Ich blicke mich fragend um, ob denn kein anderer Mensch auf der Straße das gerade sieht, aber alle scheinen ihren Tätigkeiten nachzukommen. Ein Mann auf der anderen Straßenseite ist damit beschäftigt die Mülleimer zu entleeren und eine Dame mittleren Alters trägt behutsam ihre Einkäufe nach Hause. In mir jedoch herrscht Alarmstimmung. Kurz bevor ich bei meiner Haustüre angelangt, bin blicke ich nochmals zurück und sehe, dass mir der Mann nicht gefolgt ist. Er steht noch immer am selben Ort. Hat sich wohl kein Stück gerührt. Die Haustür fällt ins Schloss und mir gleichzeitig ein Stein vom Herzen. Ich bin in Sicherheit. Angekommen im ersten Stock, sperre ich meine Wohnungstür auf und nach Betreten der Wohnung auch gleich wieder zu. Dann setze ich mich erst einmal hin. Die Ruhe nach dem Sturm?

Ein Erlebnis, so individuell gedacht, so subjektiv erlebt und gefühlt, jedoch so strukturell für die gesamte Gesellschaft, dass es nicht ungeschrieben, ja gar ungesagt bleiben soll. Wir sitzen nicht alle im selben Boot, wir gehen alle durch denselben Sturm. Tag ein, Tag aus. Die Kämpfe des Alltags werden fortwährend ausgetragen. Seien es nun Frauen, die sich nachts nur mit Schlüssel in der Hand und Smartphone am Ohr auf dem Nachhauseweg sicher fühlen, oder im gleichen Atemzug die Männer, die bewusst und absichtlich die Straßenseite wechseln, wenn eine Frau alleine vor ihnen geht, nur um sie nicht zu verunsichern. Über Alltagssexismus können weiter Bücher gewälzt und Gedanken gestapelt werden, bis einem bewusst wird, dass man sich auf dem Trümmerhaufen der strukturellen Probleme der Gesellschaft befindet. Grundlegende Fragen breiten sich dabei aus: Warum werden Frauen zur Vorsicht erzogen? Warum wird Opferschutz und kaum Täterprävention betrieben? Und warum verdammt fühlt sich irgendein Typ dazu befähigt, mir mein Sicherheitsgefühl wegzunehmen?

In dieser Woche wurde bereits der elfte Femizid im Jahr 2021 in Österreich verübt. Elf Opfer in vier Monaten. Das ist ein Mord alle zwei Wochen. Österreich ist das einzige EU-Land, in dem mehr Frauen als Männer getötet werden. Dabei tötet man nicht aus Liebe und romantischen Gefühlen, vielmehr tötet man aus Macht. Es handelt sich hierbei um keine vermeintlichen, in zahlreichen Boulevardblättern als Beziehungsdramen betitelten Fälle, sondern um patriarchale Machtdemonstration. Um ein kaputtes System. Eben um einen Trümmerhaufen der Gesellschaft, der gerade immer mehr zum Vorschein kommt. Die Frauenministerin Susanne Raab meint, sie „würde alles in ihrer Macht stehende tun.“ Dabei werden seitens der Regierung 210 Millionen Euro für Inserate ausgegeben und hingegen nur 15 Millionen Euro für Gewaltprävention. Dass es dabei einen Haken gibt, scheint offensichtlich. Aber es scheint eben nur, oder Frau Ministerin?

Laut einer Studie des DELTA-Instituts beobachten 12 Prozent der weiblichen deutschen Staatsbürgerinnen pro Woche mehrmals sexistische Vorfälle, wobei hingegen nur 5 Prozent der Männer diese wahrnehmen. Die Zahl der Vorfälle bleibt gleich, die Veränderung liegt bloß in der Wahrnehmung. Was auch zahlreiche Diskussionen im engen Bekanntenkreis, auf WG-Parties oder am Arbeitsplatz zu erklären vermag, wenn wieder einmal behauptet wird, dass Frauen ja eh gleich gestellt sind und was denn Feministinnen überhaupt noch wollen? Ja, was denn? Vielleicht in Ruhe nach Hause spazieren, ohne ungefragt einen Penis zu Gesicht zu bekommen? Ist das wirklich zu viel verlangt?

Und die einfache Antwort lautet: Nein. Und Punkt. Wir sitzen nämlich nicht alle im selben Boot. Nicht die ganze Gesellschaft, nicht Männer und Frauen und auch schon gar nicht alle Frauen. Jeder hat andere Ressourcen zur Verfügung, jeder ein anderes soziales Kapital, jeder eine unterschiedliche Ausgangssituation. Wir gehen nur alle durch denselben Sturm. Durch die gleichen strukturellen Probleme. Die Empfindung darüber variiert jedoch stark, von Mensch zu Mensch, von Frau zu Frau. Was dem Grundproblem jedoch nicht seine Tiefe nimmt. Der Sturm ist da, er ist Fakt. Nur weil alte weiße Cis-Männer auf ihren protzigen, teuren Yachten davon nichts mitbekommen heißt das noch lange nicht, dass es ihn nicht gibt.

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