10.000 KM durch Albanien

21. Oktober 2020

Einst die größte Freiluft-Hanfplantage, heute die schönsten Strände: Warum Albanien viel mehr zu bieten hat, als du denkst.

Albanien
Franziska Tschinderle

Es sei das neue Griechenland, erklärt die Reiseführerin Gijikuria auf Seite 123.Und wer Wiener Bobos in den letzten Jahren nach ihrem Sommerurlaub gefragt hat, wird diese Sicht teilen: Albaniens Riviera mit ihren ewiglangen Sandstränden ist als Urlaubsdestination hip geworden. In der Ex-Yu-Community sorgt das allerdings nicht selten für Kopfschütteln: Albanien? Da fährt man doch nur hin, um dreckige Geschäfte zu machen. Und genau zwischen diesen Gegensätzen bewegt sich Franziska Tschinderle: Die Journalistin hat mit „Unterwegs in Albanien“ ein Buch herausgebracht, das weder ein Reiseführer über Traumstrände sein will noch ausschließlich die Themenfelder Blutrache und Drogen abhandelt. Ihr geht es darum, das kleine Balkanland kennenzulernen – durch seine Geschichte. Immerhin war Albanien Jahrzehnte lang vom Rest der Welt isoliert, über 40 Jahre herrschte ein kommunistischer Diktator und jede Religion war verboten. Heute ist das Land eine Demokratie und möchte Teil der EU werden, gleichzeitig hat es mit politischem Stillstand und Abwanderung zu kämpfen. Franziska fährt los mit ihrem roten Golf und die Übersetzerin Aida ist stets dabei – zusammen sind die beiden Frauen über 10.000 Kilometer unterwegs und führen über 100 Interviews mit Bauern wie Professoren. Biber findet das Ergebnis der 26-Jährigen sehr gelungen und druckt drei Passagen aus ihrem Buch als Appetizer ab. Es geht um guten Kaffee, den man bitte im Sitzen und nicht „to-go“ nimmt, um gegrillten Fisch und stets einer Pistole im Hosenbund, und natürlich um Drogen, die in Form von Cannabis wie Kartoffeln angebaut wurden. Aber lest selbst!

Albanien
Franziska Tschinderle

ALLES BEGINNT MIT EINEM „KAFE“

Es scheint, als hätte in Albanien jede noch so kleine Spelunke eine Espressomaschine, auch in den entlegensten Dörfern auf dem Land. Kaffee aus Automaten, wie man ihn an Flughäfen bekommt, wären, da bin ich mir sicher, für jeden Albaner und jede Albanerin ein Affront – ebenso wie durch die Gegend hetzende Menschen mit Coffee-togo-Bechern. Für den „kafe“, wie es im Albanischen heißt, setzt man sich hin. So viel Zeit muss sein. Schnell lernte ich, dass Kaffeetrinken in Albanien auch eine Form der Vertrauensbildung ist. Oft tadelte mich Aida für meine Ungeduld. „Du kannst den Mann nicht einfach anrufen und erwarten, dass er dir sofort alles am Telefon erzählt“, meinte sie nach wenigen Wochen zu mir, „so läuft das hier nicht. Lade ihn erst mal auf einen „kafe“ ein.“ Genau das ist in Albanien aber geradezu unmöglich. Selbst Gesprächspartner, die sich stundenlang Zeit für einen nehmen, bestehen darauf, am Ende die Rechnung zu zahlen. „Wir teilen die Rechnung nicht“, sagt Evi, eine Hotelbesitzerin, die ich in Tirana kennengelernt habe, „denn das ist eine Beleidigung.“ Ismail, mein Vermieter, gab mir gegenüber einmal zu: „Über das deutsche ‚Zusammen oder getrennt?‘ machen sich hier alle lustig.“ Selbst Studenten, die noch bei ihren Eltern wohnen, weil sie sich keine eigene Wohnung leisten können, schütteln lachend den Kopf, wenn man beginnt, in der Hosentasche nach 200 Lek zu graben. Das sind umgerechnet 1,60 Euro und in etwa der Preis für zwei Macchiatos. „Du zahlst das nächste Mal“, winkt auch Irdi bei unserem ersten Treffen ab. Das Problem ist nur: Das nächste Mal besteht er wieder darauf, die Rechnung zu begleichen. Das hat übrigens nichts mit Machogehabe zu tun, auch Frauen machen das. Die vollen Cafés in Tirana und überall auf dem Balkan haben auch eine Schattenseite. Sie sind ein Indikator dafür, dass die Jugendarbeitslosigkeit bei 27 Prozent liegt. Und noch etwas erzählt der „kafe“ über die wirtschaftliche Situation im Land: „Viele Kellner“, sagt Blerta, meine Sprachlehrerin, „haben eigentlich studiert, sind dann aber in der Gastronomie hängen geblieben, weil sie keinen Job finden.“

Albanien
Franziska Tschinderle

AN DER ALBANISCHEN RIVIERA

 Heute klafft die Schere zwischen Arm und Reich in Albanien weit auseinander, auch an der Riviera. Auf der einen Seite stehen Besitzer von Luxusresorts und Fischfarmen, auf der anderen Hirten und Bauern, die im Hinterland als Selbstversorger leben. Angjel, der Besitzer des Luciano, kennt beide Welten. Im Sozialismus hatte er nichts als ein paar Ziegen, heute gehöre er zu den größten Steuerzahlern im Süden, wie er stolz behauptet. Neben dem Restaurant besitzt er eine Olivenölfabrik und eine Fischzucht. Aus Dukat, seinem Heimatdorf, ist er nie weggezogen. „Im Leben muss man viel ausprobiert haben“, sagt Angjel, der jetzt mit grünem Arbeitsoverall, Strickpullover und Zigarette in der Hand neben mir auf dem Flachdach seiner Olivenölfabrik sitzt, raucht und auf die umliegenden Hügel blickt. Zur Zeit des Sozialismus streifte er dort mit seinen Ziegen umher, bis hinauf auf den Gebirgspass, wo im Winter Schnee liegt. „Zum Meer bin ich nie gegangen, dafür brauchte man eine spezielle Genehmigung“, erinnert er sich. Nach der Wende wurde Angjel Fischer. Am Strand von Dhërmi stand in den Neunzigerjahren die Ruine eines ehemaligen Feriencamps für Gewerkschaftsmitglieder. Die Fischer nutzten das leerstehende Gebäude als Unterstand. Meze, Angjels Frau, erzählt mir: „Die Bewohner begannen, meinem Mann Fisch abzukaufen, und irgendwann fragte ich ihn: ‚Angjel, warum grillst du ihn nicht gleich und servierst Rakia dazu?‘“ Also mietete Angjel das Gebäude, oder zumindest das, was davon übriggeblieben war – drei Räume mit zwei Tischen und einigen Stühlen. „Ein Jahr lang habe ich mit Pistole im Hosenbund serviert, weil die Gegend von Gangs kontrolliert wurde“, erzählt er. Als in Albanien die Anarchie ausbrach, diente die Küste als Umschlagplatz für Flüchtlinge, Drogen und Waffen. Darauf angesprochen, gibt sich Angjel ahnungslos: „Die Leute stiegen auf die Boote nach Italien, und ich grillte meinen Fisch.“

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Franziska Tschinderle

DAS ENDE VON LAZARAT

 Es gibt eine weitere Geschichte, die Aida und ich in Gjirokastra recherchieren wollen. Es geht um ein kleines Dorf namens Lazarat, das weltweite Berühmtheit erlangt hat. Mehr als zehn Jahre lang wurden in Lazarat illegal hunderte Tonnen Cannabis angebaut und nach Westeuropa geschmuggelt. Das Bergdorf galt als die größte Freiluft-Hanfplantage Europas. 2014 fand all das ein jähes Ende: Die Regierung ließ von der Polizei das Dorf stürmen und viele Bewohner, die jahrelang vom illegalen Anbau gelebt hatten, landeten im Gefängnis. Eine Zeit lang gingen Videos aus Südalbanien um die Welt: Vermummte Polizisten posierten neben brennenden Cannabispflanzen. Dann geriet Lazarat in Vergessenheit. Wir wollen herausfinden, was aus dem Dorf geworden ist. Wie leben die Bewohner heute dort? Wächst dort wirklich kein einziges Blatt Marihuana mehr? In Gjirokastra verabreden wir uns mit einem Polizisten. In Lazarat selbst gibt es keine Polizeistation mehr. Die Bewohner haben sie einst niederbrennen lassen, damals, als das Geschäft mit dem Gras noch florierte. Der Polizist stimmt einem Treffen zu, solange wir seinen Namen nicht nennen. Schließlich sitzt uns ein Mann Anfang 40 gegenüber, Glatze, seit bald 20 Jahren ist er Polizist, heute ausnahmsweise nicht in Uniform, sondern in Zivil. Er trinkt seinen Morgenkaffee und blickt uns fragend an, fast so, als wüsste er nicht, warum wir hier sind. „Wir wollen über Lazarat reden“, erinnert ihn Aida. Der Mann sieht nicht so aus, als hätte er große Lust dazu. Dann fängt er doch an zu sprechen: Über Europas größte Cannabisplantage – und den Sommer, als sie in Flammen aufging. „Wir konnten Lazarat jahrelang nicht betreten“, beginnt der Polizist, „und wenn, dann nur mithilfe von Spezialeinheiten.“ Die Bauern dort bauten Gras an wie andere Kartoffeln. Und die Regierungen, erzählt uns der Polizist, ließen Lazarat gewähren – bis zum Juni 2014.

 

 

Albanien Buch
© Dumont
Albanien
© privat

 

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