Das Moria vor unserer Haustür

05. November 2020

Mit einer riesigen Österreich-Flagge „bewaffnet“ und mit der noch größeren Transportmaschine Antonow 124 ließ sich Innenminister Karl Nehammer vor einem Monat in Athen als Europas neugeborener Held der von der Regierung propagierten „Hilfe vor Ort“ feiern.

Von den - unter anderem - 7.400 Decken, 400 Familienzelten und 2.700 aufblasbaren Matratzen für Moria ist aber vor Ort selbst gar nichts zu sehen. Sie sind nämlich bis heute nicht bei den Kindern, Familien, Frauen und Männern angekommen, die mittlerweile vom abgebrannten ins neue Horrorlager Kara Tepe flüchten mussten. Von den Millionenzahlungen Österreichs an die UNHCR und an andere internationale Organisationen ist ebenso wenig zu erkennen: Die Menschen leben auf Lesbos weiter in menschenunwürdigen Bedingungen, die Schauplätzen aus Horrorfilmen ähneln. Und der Winter steht unmittelbar vor der Tür…

 

Peter Rosandic, Kid Pex, Flüchtlinge, Balkanroute

224 km von Spielfeld entfernt
Der europäische Boden ist mittlerweile aber nicht nur in Griechenland zum Symbol für eine völlig gescheiterte und eiskalte, kompromisslos dehumanisierte Asylpolitik geworden. Nicht einmal drei Autostunden von Spielfeld entfernt bahnt sich bereits ein neues, bald winterliches Moria an: Im Nordwesten Bosniens, an der EU-Außengrenze zu Kroatien, spielen sich jene Bilder ab, die unser Bundeskanzler Sebastian Kurz bereits vor Jahren ankündigte.
Ja, richtig: Es sind hässliche Bilder. Bilder von Menschen, von denen viele seit Jahren in Bosnien feststecken und mittlerweile - aus Angst vor Gewalt der Polizei und den rechten Mobs - immer mehr in die naheliegenden Wälder flüchten. Tausende Menschen sind diesen Sommer aus den Stadtgebieten so in die Wälder vertrieben worden nachdem - unter Führung von lokalen Rechtspopulisten - rechte Bürgewehren vor Ort formiert wurden. Im aktuellen Kommunal-Wahlkampf sind Flüchtlinge wieder nur ein Spielball der Politik. Dabei ist die Situation diesen Sommer bereits völlig eskaliert: In Facebook-Gruppen wurden Attacken auf Geflüchete ganz öffentlich und unverschämt geplant, während die Polizei die „ungewünschten Gäste“ gleich ins „Niemandland“ aussetzte. Und zwar nach Otoka, zwischen die administrativen Grenzlinien der Entitäten Republika Srpska und Föderation. Letztes Jahr wurden sie noch auf der einstigen Müllhalde von Vučjak „entsorgt“, ins Horrorcamp, welches auch unsere Initiative auf den Plan rief. Wer diese Menschen unterbringt, wird denunziert und mit Gewalt und Schikanen bedroht. Wer sie auch nur zum nächsten Spital fährt, wird als Schlepper strafrechtlich verfolgt. Wer ihnen hilft, tut dies - aufgrund der Kriminalisierung von NGOs - noch immer illegal.

 

Europa schafft sich ab
Österreichische und deutsche Volunteers wie Jasmin, Kathy, Mattheo, Vivianne, Bex, Sophie, Denise sowie die zwei Medizinnerinnen Miki und Sophie, die vor Ort unter anderem eine Küche für Geflüchtete aufrecht erhalten, könnten uns stundenlang Horror-Geschichten von menschlichen Schicksalen an der EU-Außengrenze erzählen. Dabei reicht aber eigentlich nur eine, um zur Conclusio zu kommen, dass Europa seine eigenen Menschenrechte bereits abgeschafft hat.

 

Sowohl von uns unterstützte lokale HelferInnen als auch die Wiener Studentinnen Vivianne, Bex und Denise, die täglich Essen in die Wälder bringen, haben auch keine gute Nachrichten für uns. Im Gegenteil: Immer mehr Gruppen von Geflüchteten berichten von der Brutalität der kroatischen Grenzpolizei. Immer mehr Menschen kommen verletzt und geschlagen von der kroatischen Seite zurück und werden Opfer illegaler und gewaltsamer „Push-Backs“, bei denen sie nach Bosnien zurückgeschoben werden. Auch The Guardian hat aktuell mehrere Fälle detailliert recherchiert, die nicht nur polizeiliche Folter mit Schlagstöcken, Elektroschocks und Peitschen, sondern auch den sexuellen Missbrauch von Geflüchteten bestätigen.

 

Wie der so oft von unserer Regierung und anderen rechtspopulistischen Staaten propagierte „Grenzschutz“ vor Ort tatsächlich aussieht, haben wir bereits vor Corona bei der Ausstellung des Wiener Museums der Migration gezeigt: Blutüberströmte Gesichter, grün und blau geschlagene Rücken, systematisch gefoltert von der Armee kroatischer Grenzpolizisten. Die Nationalratsabgeordnete Nurten Yilmaz, zugleich die einzige Politikerin aus Österreich die mit uns runtergefahren ist, hat mit uns in Bosnien diese Menschen und deren Verletzungen gesehen. Ihr Antrag für ein verstärktes Engagement Östereichs, um gegen diese Grenzgewalt und die Zustände in unserer Nachbarschaft zu kämpfen, scheiterte an der schwarz-blauen Mehrheit in der Parlament.

Der Antrag mag an der zugleich kalten und völlig planlosen Abschottungs- und Abschreckungspolitik der Regierung gescheitert sein, aber er ist zur selben Zeit für uns AktivistInnen auch ein Erfolg: Niemand von den Damen und Herren im Hohen Haus kann mehr sagen, nicht zu wissen, was sich vor unserer Haustür abspielt. Und je näher der Winter kommt, umso mehr wird auch den letzten Protagonisten dieser ignoranten Politik klar werden müssen: Moria ist bald hier, in unserer Nachbarschaft.

 

Peter Rosandic, Kid Pex, Flüchtlinge, Balkanroute

„Österreich und der Balkanrouten-Schließer“
Wir haben vor einem Jahr begonnen Spenden zu sammeln, als wir geschockt und traumatisiert aus dem Horrorcamp Vučjak nahe der Stadt Bihać zurückkamen. Wir haben in Vučjak den Glauben an die Welt verloren, doch nicht an die Menschen. Mittlerweile haben wir dreizehn Transporte gemacht, zahlreiche lokale HelferInnen unterstützt, viele Leute runtergeschickt, machen unten eine Küche und versuchen, dass was wir immer versucht haben: Das Leid zumindest etwas zu lindern und es für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen.

Doch, wir stoßen jeden Tag an unsere Grenzen: Das unendliche Faß an Elend im Nordwesten Bosniens wird immer größer, die Ressourcen für kleine Organisationen wie unsere sind knapp und dürftig. Österreich muss - als „Balkanrouten-Schließer“-Heimat - nicht nur politisch Verantwortung übernehmen. Wenn die Regierung aber nicht einmal Kinder, Minderjährige und Familien aus der bosnischen und griechischen Hölle rausholen will (Schande!), dann sollten sie zumindest das von ihnen propagierte Konzept der „Hilfe vor Ort“ ernstnehmen und ernsthafte Hilfstransporte und Aktionen machen, die dann beim Empfänger idealerweise auch landen.

 

Ernst wird es aber wahrscheinlich viel früher in Bosnien als am Ballhausplatz. Denn niemand fragt sich scheinbar: Wie werden diese Menschen überhaupt den Winter schaffen?

SOS Balkanroute ladet alle ein, am 10. November am Zeltlager-Protest der Plattform für menschliche Asylpolitik in Wien teilzunehmen. Die Politiker sollen spüren, dass die Zelte und Bilder von Moria, Velika Kladuša, Vučjak oder Kara Tepe nicht wegzuwischen sind. Sie sind ein lebendiger Spiegel unserer Gesellschaft. Der Protest beginnt am Dienstag um 18 Uhr am Ballhausplatz und endet am Mittwoch um 9 Uhr früh, nach dem Reingehen der politischen Verantwortlichen zur Ministerratssitzung. Bitte auf die Covid-Regelungen achten, dazu mehr Infos hier: https://www.facebook.com/events/476078553326535

 

 

Zum Autor:

Petar Rosandić musiziert nicht nur gegen die umenschliche Asylpolitik als Rapper Kid Pex, sondern kennt die Auswirkungen dieser aus erster Hand. Seit über einem Jahr sammelt die von ihm ins Leben gerufene Initiative „SOS Balkanroute“ Sachspenden, macht humanitäre Transporte nach Bosnien und rückt das Thema der katastrophalen Notlage der dortigen Horror-Lager in das Bewusstsein der österreichischen und europäischen Öffentlichkeit. Am 20. Juni 2020 bekam Justizministerin Alma Zadić von SOS Balkanroute die Beweise über die brutale Polizeigewalt gegen Menschen auf der Flucht entlang der kroatischen EU-Außengrenze. Eine von SOS Balkanroute erwünschte Offensive Österreichs - in erster Linie für die Herstellung menschenwürdiger Verhältnisse vor Ort, aber zugleich auch die Evakuierung und Aufnahme notbedürftiger Menschen in die heimischen Gemeinden, die bereits lautstark „Wir haben Platz“ sagen - ist derzeit nicht in Sichtweite.



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