Das Warten auf Maher

27. November 2017

Hallo, mein Name ist Maher. Ich lebe seit über zwei Jahren in Österreich. Ich besuche seit 16. Oktober einen Medienkurs, in dem ich lerne, Interviews zu verfassen, Meldungen zu schreiben oder auch Deadlines einzuhalten. Vor allem beim letzten Punkt gab es anfänglich Irritationen – pünktlich zu sein oder pünktlich etwas abzugeben ist im Irak ein sehr dehnbarer Begriff.


Wie ihr euch vorstellen könnt, gibt es einige kulturelle Unterschiede zwischen dem Leben im Irak und dem Alltag in Österreich. So wie ihr euch wahrscheinlich über die Unpünktlichkeit der Reisebusse in Ägypten ärgern würdet, so war ich auch hier – diplomatisch ausgedrückt – sehr verwirrt über die österreichische Beziehung zur Zeit und die Konsequenz, falls man ein Treffen etwas später als ausgemacht aufsucht.

Schock Nr.1: Mein erster Tag in Österreich. Traiskirchen, morgens, mein Magen knurrt. Ich freue mich auf das Essen. Uns wurde gesagt, von 7-9 Uhr gebe es Frühstück. Passt, denke ich mir und tauche um 9:15 in der Kantine auf. Niemand da. Wie in einem Zombiefilm, in dem die Menschen plötzlich verschwinden. Nur eine Putzkraft lässt mich die Theorie eines Weltuntergangs verwerfen. Ich komme auf sie zu und frage sie mit Händen und Füßen: „Wo kriege ich was zu essen?“ Sie blickt mich ungläubig an und sagt mir gebrochenem aber viel besserem Deutsch als meinem: „Niemand mehr da, um Punkt 9 Uhr sind die Küchengehilfen gegangen.“ - „Was sind das für ungeduldige Leute?“, fragte ich mich. Genauso wie bei den Deutschkursen, die ich oft mit zehnminütiger Verspätung besucht habe. Im Irak war das zehnminütige Zuspätkommen überhaupt kein Ding, so ähnlich selbstverständlich wie die akademische Viertelstunde an den Unis.

Warten, Uhr, Maher, Asylwerberkurs
@Mushtaq Khani

Schock Nr.2: Ja, mit Deutschlehrern kann man ja reden, aber was macht man, wenn man in ein Land kommt, in dem Züge die meiste Zeit pünktlich den Bahnsteig verlassen? Wenn der Zug weg ist, dann ist er weg. Der letzte Satz war mein Motto und zugleich Trost in den ersten Monaten in Österreich. Im Irak ist die Uhrzeit höchstens eine Art Orientierung aber nicht unbedingt bindend. Außer man landet bei einem Arzt, der sich nicht mit Geld bestechen lässt! Unter uns: So einen Arzt gibt es nicht.

Schock Nr.3: Auch unter Freunden musste ich mich in Österreich zeittechnisch flexibel zeigen. Und zwar flexibel unflexibel. Wenn man mit einer Freundin im Kaffeehaus verabredet ist, sollte man sie nicht warten lassen – zumindest in meiner neuen Heimat. Im Irak läuft es so: Freundin ruft an und sagt: „Wo bleibst du, ich warte auf dich im Kaffeehaus.“ Ich versichere ihr, in fünf Minuten zu kommen und quäle mich mal aus dem Bett. Dann muss man schließlich auch frühstücken und stinkig möchte ich sie auch nicht treffen, weswegen ich mich noch schnell unter die Dusche schmeiße. Wenn sie mich in der Theorie verärgert fragt (in der Praxis würde man diese Frage übrigens nie gestellt bekommen) warum ich so lange gebraucht habe, schiebe ich es auf die Polizeikontrollen im Straßenverkehr.

In Österreich ist die ganze Uhr-Pünktlichkeit-Analogie auf den Kopf gestellt. Wenn ich vergesse, wie man sich zu bestimmten Anlässen zu benehmen hat, frage ich mich immer: „Wie würde ich es im Irak machen?“ Dann beantworte ich meine selbst gestellte Frage und mache es genau andersrum. Unser Kursleiter Amar kann selbst ein Lied davon singen und hat uns Pünktlichkeit so lange vorgelebt, bis wir uns alle daran gehalten haben. Da nutzen alle Polizeikontrollen gar nix.

Maher (26) kommt aus dem Irak, besucht den Biber-Medienkurs für Asylwerber und hat diesen Text überpünktlich abgegeben.

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