Jeden Tag fahre ich mit der U4. Zwischen Hütteldorf und Heiligenstadt begegnen mir die unterschiedlichsten Menschen. Mal setzt sich ein Business-Mann neben mich, mal ein Obdachloser. Mir ist alles gleich, Hauptsache sie sprechen mich nicht an. Ich bin ein U-Bahn-Muffel. Ich rede prinzipiell nicht in öffentlichen Verkehrsmitteln. Sobald ich also einen Fuß in die U4 setze, mache ich meinen MP3-Player an - und stell die Welt aus. Mir entgehen so bestimmt interessante Gespräche, wichtige Informationen und neue Bekanntschaften, aber was solls - mit Frank Sinatra im Ohr ist eben kein Platz für den Rest.


Hypnose

Doch seit Kurzem übertönen zwei dünne Stimmchen, Sinatras big voice. Irgendwann zwischen Längenfeld und Landstraße, betreten Tag für Tag zwei Roma-Mädchen die U-Bahn und betören die Fahrgäste mit ihrem Gesang. Ich habe noch nie solch hypotisierende, mitreißende, gruselige und gleichzeitig wunderschöne Stimmen gehört. Ich weiß nicht worüber sie singen, aber sie ziehen mich in ihren Bann. Wer wie ich, im Pokémon – Zeitalter aufgewachsen ist, kann sich diesen Klang wie Pummeluffs – Schlaflieder vorstellen.

Die Mädchen wandern weiter durch den Wagon und halten den Fahrgästen dezent die knochigen Händchen entgegen, dabei hören sie aber niemals auf zu singen. Die wenigsten geben ihnen Geld, die meisten schauen weg - aber hören zu. Denn es ist unmöglich diesen Stimmen zu entkommen, sie sind von einer anderen Welt. Ich frage mich nur von welcher? Woher kommen die zwei? Worüber singen sie? Werden sie morgen wieder in die U4 steigen? Ich für meinen Teil, werde den MP3-Player zu Hause lassen.