Die Wut, die über den Trümmern hängt

23. Februar 2023

Das Erdbeben in der Türkei Anfang Februar hat tiefe Wunden hinterlassen: Inmitten der Trauer bricht immer mehr Wut bei Betroffenen hervor – auch bei jenen, die in Österreich leben. Der Druck auf Präsident Erdoğan wird immer größer. Auf der Suche nach Verantwortlichen; zwischen Angst, Verzweiflung und Kritik, die man nicht immer äußern darf.

 

 

 

"Erdoğans Wählerschaft wurde in den letzten 22 Jahren mit Nationalismus, Religion und Angst berieselt. Er schuf dieses Bild von „Wir sind alleine, alle sind gegen uns.“ Und damit hat er Erfolg gehabt. Ich denke, ein kleiner Teil seiner Basis wird sich von ihm abkehren, aber viele Wählerstimmen wird er dadurch nicht verlieren, sondern einfach weiter mit der Strategie fahren, wie bisher“, erzählt Ali. Ali ist Kurde, 61 Jahre alt, Sozialarbeiter und lebt seit über 30 Jahren in Wien. Er ist in Pazarcık in der Provinz Kahramanmaraş in der Türkei geboren und aufgewachsen. Einreisen darf er in die Türkei nicht mehr, aufgrund vergangener kritischer Äußerungen gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Ali selbst hat bei dem Erdbeben seine Tante, die eine Ersatzmutter für ihn war, und mehrere Freunde verloren.

 

Collage: Zoe Opratko
Collage:Zoe Opratko

 

 

Erdbebensteuer, leere Versprechen, Korruption

Das Erdbeben in der Türkei und in Syrien Anfang Februar hat bis dato 48.000 Menschen das Leben gekostet. Ganze Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Zigtausende Menschen haben ihre Verwandten, ihre Häuser und ihre gesamte Existenz verloren. Eine Naturkatastrophe kann zwar niemand verhindern, ihre Folgen und das Ausmaß hätten in diesem Fall aber minimiert werden können, beklagen immer mehr Menschen. Die türkische Bevölkerung fühlt sich im Stich gelassen, es wird nach Verantwortlichen gesucht.

Erdoğan gerät derzeit immer mehr unter Druck. Die Opposition wirft ihm Totalversagen vor. Ingeneuri:nnen werfen ihm vor, dass trotz Risiken Vorschriften zur Gebäudesicherheit ignoriert wurden, Wissenschafter:innen kritisieren, dass Warnungen nicht beachtet wurden. Die Reaktion der Regierung: Twitter wurde lahmgelegt, Erdoğan ließ Bauherren festnehmen, kritische Berichterstattung wird im Keim erstickt. So kursieren auf Social Media immer mehr Videos, bei denen Interviews des türkischen Staatsfernsehens mit Betroffenen unterbrochen werden, sobald diese sich kritisch gegenüber der Regierung äußern. Und Erdoğan? Er bezeichnet das Erdbeben als "Schicksal". Er steht mit seiner konservativen Partei Adalet ve Kalkınma Partisi (auf Deutsch: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), kurz AKP, seit 2003 an der Spitze der Türkei. Er regiert schon so lange, dass man seine Reaktion auf andere Erdbeben im Land herbeiziehen kann: Im Jahr 2003 zum Beispiel, als er erst Premierminister geworden ist, gab es ein Erdbeben in der Provinz Bingöl. Erdoğan versprach Konsequenzen, er wolle sich anschauen, wer sich beim Bau bereichert habe. Und er sagte, man könne das Beben "nicht als Schicksal abtun".

So äußert sich auch die Grünen-Abgeordnete Berivan Aslan bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Erdbebens am 16. Februar am Wiener Stephansplatz: „Jeder stellt sich die Frage: Wie kann das sein? Der Mensch ist hilflos gegenüber Naturkatastrophen und wahrscheinlich wäre jedes Land mit dem Ausmaß dieser Katastrophe überfordert gewesen“, so die Juristin.  „Aber es sind nicht nur die Bauherren dafür verantwortlich, dass sehr viele Menschen gestorben sind. Es ist auch die korrupte Politik verantwortlich. Aufgrund der Korruption sind sehr viele Menschen gestorben.“ Sie kritisiert die strukturellen Probleme und die mangelnden Präventivmaßnahmen: „Viele machen sich unbeliebt oder werden angefeindet, wenn sie strukturelle Probleme und auch diese Korruptionsprobleme ansprechen. Aber es kann nicht sein, dass Gebäude, die vor drei Jahren gebaut wurden, heute komplett in Schutt und Asche liegen. Es kann nicht sein, dass in einer Region, die zu den erdbebengefährdetsten Regionen der Welt gehört, so wenige Präventivmaßnahmen vorgenommen wurden.

 

Foto: Yasin Akgul/AFP/picturedesk.com
Foto: Yasin Akgul/AFP/picturedesk.com

Seit 1999 gibt es in der Türkei die Erdbebensteuer. Diese wurde nach dem großen Erdbeben von Gölcük, bei dem über 17.000 Menschen ums Leben gekommen waren, eingeführt. Mit diesem Steuergeld sollte dafür gesorgt werden, dass Gebäude erdbebenfest gemacht werden. Dennoch sind viele Gebäude in den betroffenen Provinzen dem Erdboden gleichgemacht. Viele Bürger:innen in der Türkei fragen sich, was mit dem Geld passiert ist, wenn es nicht in die Erdbebensicherheit investiert wurde. Unter der AKP-Regierung hat die Türkei in den letzten 20 Jahren einen Bauboom erlebt, dabei haben vermehrt regierungsnahe Firmen die Aufträge bekommen. Seit Jahren ist die Rede von Nepotismus und Korruption. Die Gebäude, die im Zuge des Erdbebens im Februar zusammengefallen sind, darunter auch Krankenhäuser oder Flughäfen, sind alle im staatlichen Auftrag gebaut worden. „Erdoğan hat seine Versprechen nicht eingehalten. Nichts hat er eingehalten und dabei stehen Menschen dahinter und glauben ihm. Nur so viel dazu: Diese Häuser sind ja nicht von heute auf morgen eingestürzt“, so Hatice Sahin İlter, stellvertretende Bundesvorsitzende der Organisation „freie-aleviten österreich“.

 

Billigbauten besonders in Gebieten, in dicht kurdisch besiedelten Gebieten

Tausende von Menschen sind aufgrund von billig errichteten Wohnungen, die angeblich das Wohnungsproblem lösen sollten, gestorben. Insbesondere betroffen sind kurdische Menschen, die aufgrund von jahrzehntelanger militärischer Besatzung in die Städte und Vorstädte des Landes gezwungen wurden. Der Krieg, Naturkatastrophen und die systematische Verarmung haben dazu beigetragen, dass viele Menschen in die Provinzhauptstädte des Landes umgesiedelt wurden, wo die militärische und politische Kontrolle einfacher zu bewerkstelligen waren. Nach der Zerstörung vieler Dörfer in den 1990er Jahren war der billige Bauboom unter dem 2003 an die Macht gekommenen Präsidenten eine schnelle, aber tödliche Lösung für viele kurdische Menschen, die keine andere Wahl hatten. Die charakteristischen mehrstöckigen Billigwohnbauten boten den Menschen zwar ein Dach über dem Kopf, zerstörten aber auch viele kurdische Gemeinschaften, deren politische Stärke gerade in ihrem Zusammenleben bestanden hatte.

„Das war ein sprechendes Bild dafür, dass diese Menschenleben in den Augen des Staates weniger Wert haben“, erzählt Damla aufgebracht über die verspäteten Hilfeleistungen. Damla selbst stammt aus Istanbul und ist somit nicht direkt vom Erdbeben betroffen. Indirekt allerdings schon, denn ihre Familie ist jüdisch und somit zählt sie zu einer Minderheit in der Türkei. Die 25-Jährige empfand ihre Heimat immer als unglaublich gastfreundlich und fühlte sich wohl, doch vor zehn Jahren begann sich ihre Sicht zu ändern. Die stiefmütterliche Behandlung von Minderheiten, und die Tatsache, dass einige Freunde ihrer Familie in der Türkei politisch Verfolgte sind, brachte sie immer wieder zum Nachdenken. Trotz alledem hätte sie niemals damit gerechnet, dass die Ersthilfe in den Gegenden wie Hatay, in denen viele Minderheiten leben so rar ausfallen würde. In einigen Gebieten der Türkei mussten Betroffene über hundert Stunden auf Hilfe warten. „Das türkische Volk hat sehr lange und stark an seine Führung geglaubt. Dass die Menschen dann so stark im Stich gelassen werden in solchen Momenten wie beim Erdbeben, ist einfach erschütternd.“ Damla hat die Hoffnung, dass wenigstens die Wahlen diesmal anders ausgehen werden, denn laut ihr seien selbst die Menschen, die an die AKP geglaubt haben, nun wütend. Ihre einzige Sorge ist jedoch, ob es Wahlkabinen im Raum rund um Hatay geben wird und die Betroffenen überhaupt zum Wählen kommen werden.

 

 

„Ich habe früher Erdoğan gewählt, ich habe die AKP unterstützt.“

Nach der Katastrophe ist in der Türkei auch eine Diskussion darüber entbrannt, ob Präsident Erdoğan die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die eigentlich für den 14. Mai angesetzt sind, verschieben wird.

Laut aktuellen Prognosen liegt die AKP bei 35,7 %, die Umfragen wurden allerdings noch vor dem Erdbeben gemacht. Welche Auswirkung wird das Erdbeben auf die Wählerstimmen haben? Wer wird sich von ihm abwenden? Laut Meinungsumfragen, die noch vor den Erdbeben veröffentlicht wurden, muss sich Erdoğan auf einen harten Wahlkampf einstellen. Seine Beliebtheit hat unter anderem aufgrund steigender Lebenshaltungskosten und der schwächelnden Landeswährung Lira gelitten, auch die hohe Inflation sorgt für Unmut in der Bevölkerung. Nun wird Erdoğan dafür kritisiert, wie seine Regierung auf das verheerende Erdbeben reagiert hat.

Laut der offiziellen Website des türkischen Wahlrats (YSK) waren bei den letzten Präsidentschaftswahlen in der Türkei im Jahr 2018 insgesamt 106.004 türkische Staatsbürger:innen in Österreich wahlberechtigt. Dies entspricht etwa 3,4 % der insgesamt etwa 3,2 Millionen wahlberechtigten Türk:innen weltweit. 

Eine von ihnen ist Ebru. Ebru ist 25 Jahre alt und ist türkischstämmige Österreicherin und Muslima. „Ich habe früher Erdoğan gewählt, ich habe die AKP unterstützt. Weil er in der eher laizistischen Türkei den Frauen, den kopftuchtragenden Frauen, die Freiheit bei der Ausübung der Religion anerkannt hat.“ Ihre Einstellung hat sich aber im Laufe der letzten Jahre geändert. „Mittlerweile sehe ich das nicht mehr so: Ich bin kein Fan von seiner autoritären politischen Regierungsart und seiner zunehmend aggressiven Außenpolitik.“  Ebru sieht Erdoğans Politik als eine Bedrohung für die Demokratie in der Türkei und als Hindernis für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes.

 

Foto: Sameer Al-Doumy/AFP/picturedesk.com
Foto: Sameer Al-Doumy/AFP/picturedesk.com

 

„Ich habe Angst, auf dem Radar der türkischen Regierung zu landen.“

 

Seit Mitte Oktober 2022 existiert in der Türkei das Desinformationsgesetz. Ziel ist es, die Verbreitung von Fehlinformationen zu stoppen. Ein Teil der Bevölkerung sieht darin allerdings nur den Versuch, Regierungskritiker:innen einzuschüchtern. Wer vermeintliche Desinformationen verbreitet, muss mit bis zu drei Jahren Haft rechnen. Aus diesem Grund schlucken viele Bürger:innen ihre Wut runter, statt sie öffentlich auszusprechen.

„Ich habe Angst, auf dem Radar der türkischen Regierung zu landen“, erzählt die Wienerin Sila nervös. Die 22-Jährige kommt aus Malatya, einer Stadt, die durch das Erdbeben fast vollständig zerstört wurde. Sie ist wütend und hätte viel an der Regierung zu kritisieren, allerdings gestaltet sich das nicht so einfach. Sila erzählt von türkischen Bürger:innen, die über Twitter Kritik äußerten und danach eine Klage am Hals hatten. „Erdoğan schränkte die Nutzung von Twitter und Instagram ein, mit der Begründung, dass Fehlinformationen verbreitet und eine falsche Angst geweckt werden würde.“ Sie sieht diese Maßnahme Erdoğans als einen Versuch, nur Propaganda aus seinen eigenen Reihen an die Öffentlichkeit zu lassen. Sila berichtet von Videos, in denen die AKP-Regierung und Erdoğan gezeigt werden, wie sie Betroffene im Krankenhaus besuchen und erzählen, dass sie keinen im Stich lassen würden. „Sogar als viele Länder ihre externe Hilfe angeboten hatten, erklärte er, dass die Türkei keine Hilfeleistungen brauchen würde. Die AKP-Regierung würde mehr als genug für die Bürger:innen tun.“ Laut der 22-Jährigen kursiert das Gerücht, dass Personen, die sich kritisch zu der Erdbebensituation oder der Erdbebensteuer äußern, früher oder später dafür bestraft würden, weshalb auch sie ihre Wut einfach runterschluckt. ●

 Foto:Yasin Akgul/AFP/picturedesk.com
Foto:Yasin Akgul/AFP/picturedesk.com

 

 

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