Großmutters Münzen

08. April 2016

Ihr Leben lang hat sie als Bäuerin geschuftet. Sieben Kinder brachte sie zur Welt, zwei davon starben im Babyalter. Die räumliche Trennung zum Rest ihrer Kinder brachte der Bosnienkrieg. Ein klassisches Beispiel von Kindern und Enkeln in der Diaspora prägt auch meine Familiengeschichte. Oma blieb einsam im Dorf, wartete Jahr für Jahr auf unsere Heimaturlaube. Wir kamen, erzählten über unser Leben. Sie hörte zu, lächelte und schien überglücklich zu sein, dass wir die Zeit fanden mal vorbeizuschauen. Über sich erzählte sie kaum und vor allem beschwerte sie sich nie. Wir fragten auch nicht besonders viel, vielleicht in der dummen Annahme, dass da nicht viel über die Nachbarschaft zu erzählen sei, was uns interessieren könnte. Irgendwann verschwanden wir wieder. Sie blieb alleine zurück und wartete Tag für Tag, dass wir wieder kommen. Und dann starb sie.

Kaiser Franz Joseph und John F.Kennedy

Der Tod dieser schweigsamen, meist in sich gekehrten Frau löste in mir eine tiefe Betroffenheit aus. Und das nicht nur, weil sie meine Oma war, sondern weil ich nach dem Begräbnis in ihrem Kleiderschrank alte Münzen fand, die sie in einem alten Stofftaschentuch aufgehoben hatte. Einige davon sehr alt. 1 Florin aus dem Jahr 1878 mit der Büste von Kaiser Franz Joseph. Ein halber Dollar aus dem Jahr 1966, auf dem John F. Kennedy zu sehen ist. Italienische, ungarische Münzen und viele andere aus den unterschiedlichsten Ländern, Jahrzehnte in einem Stofftaschentuch aufbewahrt. Und plötzlich wurde mir bewusst, wie wenig ich über sie wusste und nicht mehr die Gelegenheit hatte zu fragen. Auf einmal versuchte ich mir all die Augenblicke vorzustellen, in denen sie diese geschenkt bekam und scheinbar seit ihrer Kindheit eine Leidenschaft fürs Sammeln entwickelte. Für Münzen aus fremden Ländern, die sie nie bereisen konnte.

Wer schenkte ihr den Florin? Bekam sie den halben Dollar von Verwandten aus den USA? Wie alt war sie? Welche Freude empfand sie dabei? Fanden die zehn Schilling den Weg ins Stofftaschentuch, als sie uns in Österreich besuchte? Welche Träume, Wünsche blieben unerfüllt? Wollte sie verreisen, all die Länder sehen, aus denen ihre Münzen kamen? Und es war nie jemand da, um sie danach zu fragen.

„Oma, was hast du erlebt?“

Plötzlich war sie nicht mehr die alte Frau aus meiner Erinnerung, die stundenlang vereinsamt in die Luft starrte und Tag ein Tag aus darauf wartete, bis Besuch kam. Ihre Gedanken füllten sich in meiner Phantasie mit Träumen, die sie niemandem anvertrauen und noch viel weniger ausleben konnte.

Sie war eine der vielen Großmütter aus unseren Heimatdörfern, die ihre ganze Lebenskraft dafür aufbrachten, ihre Kinder satt zu bekommen, hart zu arbeiten, ohne einen Augenblick an sich und die eigenen Träume zu denken. Sie blieben alleine in der Heimat zurück, passen auf unsere Häuser auf und zählen die Tage, bis sie uns wieder zu Gesicht bekommen. Und auch dann nützen sie die Augenblicke, uns zu bekochen, verwöhnen, aber nicht um über sich zu erzählen. Irgendwann ist es zu spät sie danach zu fragen, was sie an Jahrzehnten für Geschichten zu erzählen haben. Dann hätte sie vielleicht auch nicht ihre Träume im Kleiderschrank verstauen müssen, in einem kleinen Stofftaschentuch verpackt. Ich fühle mich wie eine Egoistin, weil ich kostbare Augenblicke mit der Großmutter verpasst habe, in denen ich sie erzählen ließe und fragte „Oma, wovon hast du im Leben geträumt?“

 

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