Hängende Hoffnung

16. Mai 2013

Milchkaffee für einen Obdachlosen und ein Stück Käse für arme Pensionisten: Die Bulgarische Aktion ,, Hängender Kaffee" löst eine Welle des Mitgefühls im ganzen Land aus und füllt die Mägen der Hungrigen.

Ein Mann - gut gekleidet, teurer Mantel – tritt in das kleine Café hinter der Universität in Sofia ein: „Drei Kaffee mit Sahne bitte. Einer zum Mitnehmen und zwei hängend“, sagt der Mann. Die Kellnerin macht einen Kaffee und reicht dem Herrn einen Pappbecher. Er bezahlt und geht. Auf die Rechnung schreibt die Kellnerin „zweimal Milchkaffee hängend“ und pickt den Kassabon sichtbar auf die Fensterscheibe.

20 Minuten später kommt eine alte Frau mit viel zu großen Schuhen und einem geflickten Mantel herein. Sie fragt ganz leise: „Bitte ent- schuldigen Sie, aber hätten Sie vielleicht einen hängenden Kaffee übrig?“ Die Kellnerin reicht ihr eine Tasse Milchkaffee. Die Frau nimmt das heiße Getränk und setzt sich schüchtern an einen Ecktisch gleich neben dem Eingang. Die Kellnerin nimmt den Kassabon vom Fenster und streicht das „zweimal“ durch.

Jetzt hängt nur noch ein Kaffee. „Wir jungen Leute sind es gewohnt, dass uns der Staat und die Regierung nicht helfen, also helfen wir uns selbst – und den anderen“, sagt Alen Popovic. Er ist 30 Jahre alt und leitet eine Social-Media-Agentur in Sofia. Alen und seine Freunde haben eine Facebook-Seite und eine Homepage online gestellt, die „hängender Kaffee“ heißt. Dort können sich Wirte und Händler melden, in deren Geschäft Leute Essen oder Kaffee für Bedürftige kaufen können. Sie seien von der Geschichte eines bulgarischen Schriftstellers inspiriert worden. Er hat beschrieben, wie ein mongoloides Mädchen, das auf der Straße lebt, in Sofia aus einem Nobellokal grob vertrieben wurde. In nur zehn Tagen hatte die Initiative 30.000 Likes gesammelt.

VON FACEBOOK IN DEN KÜHLSCHRANK

Das Prinzip ist einfach – auf der Homepage können sich Kaffeehäuser, Geschäfte oder Lokale registrieren. Sie bekommen einen Sticker, den sie an ihre Eingangstüren kleben. Kunden können dann dort Brot, Milchprodukte und Kaffee kaufen, ohne diese mitzunehmen. Die Kassabons für die bezahlten Waren werden sichtbar aufgehängt. Im letzten Schritt können dann Leute, die sich keinen Kaffee, kein Fleisch, nicht mal Brot leisten können, in diesen „hängenden“ Geschäften das vorher bezahlte Essen mitnehmen.

KLEINE HILFE, GROSSE WIRKUNG

Violeta Dardowa hat sich gleich in den ersten Tagen auf der Homepage als „hängendes“ Geschäft registriert. Die 34-Jährige betreibt das kleine Lebensmittelgeschäft „Vom Kloster“ in Sofia. Sie verkauft nur regionale Produkte. Ihr Käse, Brot und Ayvar wurden von Mönchen in einem Kloster hergestellt. „Von meinem Geschäft aus sehe ich den ganzen Tag alle 15 Minuten jemanden im Müll nach Essen wühlen. Das bricht mir das Herz. Als ich von der Aktion auf Facebook gelesen habe, habe ich mich sofort registriert“, sagt Violeta. In nur zwei Stunden durchwühlen insgesamt acht Menschen die Müllcontainer vor ihrem Laden auf der Suche nach Altpapier, Metall und Essen. „Dank meiner Kunden können wir jetzt wenigstens ein paar Leuten eine Mahlzeit schenken, die sie sich nicht leisten können“, sagt sie. Täglich bezahlen 10 bis 15 Kunden Essen, das sie dann nicht mitnehmen. „Manche Leute werfen mir vor, ich würde Profit daraus schlagen. Mein Umsatz ist tatsächlich seit der Aktion um 30 Prozent gestiegen, aber meine Kunden und ich ernähren täglich drei bis fünf Leute. Dafür muss ich mich nicht schämen und ich kann jeden Abend ruhig schlafen.“ An der Aktion haben sich ausschließlich kleine Händler und Lokalbetreiber beteiligt. Keine große Supermarktkette, keine Fastfoodriesen, keine international bekannten Kaffeehäuser unterstützen die Initiative. Lediglich eine in- ternationale Sandwich-Kette plant demnächst den Einstieg.

DREI SPRACHEN UND KEIN GELD FÜR BROT

An Violetas Auslage hängen heute drei Brote, zwei Becher Joghurt und 200 Gramm Käse. Eine alte Frau mit Gehstock bleibt vor der Tür stehen. Sie starrt lange auf die Kassabons. Ihre Fingernägel sind lackiert, sie hält sich an ihrem Gehstock fest und trägt eine Lederjacke, die vor 30 Jahren sehr schick gewesen sein muss. Die alte Dame dreht sich um, kommt wieder zurück, geht wieder weg. Sie schämt sich, dass sie nach kostenlosem Essen suchen muss. Violeta stürmt raus: „Kommen sie rein, wir haben heute frisches Brot und sehr guten Käse“, sagt die Besitzerin. „Aber ich habe kein... Ich habe meine Brieftasche zu Hause vergessen“, antwortet die alte Frau etwas beschämt. „Sie brauchen kein Geld, die sind schon bezahlt. Ich schenke sie ihnen“, erwidert Violeta. Die Dame tritt misstrauisch ins Geschäft und zwitschert ein „Bonjour Mademoiselle.“ Sie heißt Nora Tenewa und ist 91 Jahre alt. Früher war sie Mikrobiologin und spricht fließend drei Sprachen. Sie hat in Krankenhäusern in Libyen und Russland gearbeitet. Heute ist sie Witwe und bekommt 360 Lewa Pension – das sind 170 Euro im Monat. Damit gehört sie noch zu den Spitzenverdienern unter den Rentnern in Bulgarien.

Violeta packt ein Brot, ein Stück Käse und ein Joghurt in die Tasche von Nora. Sie schiebt auch zwei Kekse rein, die keiner vorher bezahlt hat. „Das reicht, meine Liebe. Sonst bleibt doch nichts für die anderen übrig, wenn Sie mir alles geben“, sagt Nora- „Wissen Sie, der Winter war sehr lang, ich musste sehr hohe Stromrechnungen bezahlen. Dann wurde ich auch noch krank und habe Medikamente gebraucht. Und jetzt...“, rechtfertigt sich die Frau. Unter den über 1.400 registrierten Teilnehmern auf der Homepage der „hängenden Kaffees“ sind nicht nur Lokale und Geschäfte. Auch Friseursalons, Theater, Zahnärzte und Apotheken beteiligen sich an der Aktion und hängen große Sticker an ihre Eingangstüren. „Wir wollten eine Möglichkeit finden, die Leute dazu zu bringen, sich gegenseitig zu helfen“, sagt Alen. Das System basiert nur auf Vertrauen. Die Kunden müssen darauf vertrauen, dass die Händler die bezahlte Ware tatsächlich an Bedürftige weitergeben. Und die Händler vertrauen darauf, dass wirklich nur Menschen in Not von der Großzügigkeit ihrer Kunden Gebrauch machen. In Bulgarien lebt laut Eurostat ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Jedes zweite Kind unter 18 ist armutsgefährdet. „Wenn ich ein Brot oder ein Stück Schinken da lasse, habe ich das Gefühl, ich tue etwas Gutes“, sagt eine Kundin, die in Noras Geschäft regelmäßig Essen „hängen“ lässt. „Diese Leute haben ihr Leben lang gearbeitet – als Ärzte, Lehrer, Arbeiter. Und jetzt sind sie so arm, dass sie sich keine Tasse Kaffee leisten können. Der „hängende“ Kaffee ist eine Möglichkeit, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie immer noch Teil der Gesellschaft sind und sich jemand um sie schert. Der Staat tut es nämlich nicht“, sagt Alen.

 

Marina Delcheva (Text und Fotos) aus Sofia

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