Ein Brief an Hatay, meine Heimatstadt.

14. April 2023

 

 

Foto:Mercan Falter
Foto:Mercan Falter

 


Von Mercan Falter (Text und Fotos)

 

Hatay, Memleketim [Anm., Türkisch für „meine Heimatstadt]. Ich bin nicht auf deiner Erde geboren, aber meine Wurzeln gehen tief. Ich bin die gesamten Sommer meiner Kindheit und darüber hinaus durch deine Straßen gelaufen, habe dein Salzwasser geschmeckt, wurde in deine klimatische und menschliche Wärme gehüllt und aufgezogen. Jedes Jahr kam ich als ein anderer Mensch bei dir an, ein bisschen älter, größer und reifer. Du bist im Grunde immer gleich geblieben, eine vertraute Konstante. Letztes Jahr kam ich dann auch zu zweit, habe dir meinen Lebenspartner vorgestellt, dein Henna auf meine Hände gestrichen bekommen. Umkreist von den wärmsten, liebevollsten und aufopferndsten Menschen, die du zu bieten hast. Sie haben dich zu dem gemacht, was du für mich bist. Meine Heimat.

 

 Es wirkt doch alles immer noch wie ein Albtraum. 

Sechs von diesen Menschen fehlen heute. Und wie sie fehlen. Ein dunkler Schleier hat sich über die Stelle in meinem Körper gelegt, in der ich all meine leuchtenden Erinnerungen an dich gespeichert habe. Die heutige Reise zu dir ist gleich von Beginn an völlig anders. Ich fliege nicht direkt, sondern lande in der nächstgelegenen Provinz Adana und nehme den Bus zu dir. Dein Flughafen ist zerstört. Die Reise ist es aber nicht, die mich nervös macht. Zum ersten Mal in meinem Leben steige ich nicht mit Vorfreude ins Flugzeug zu dir. Ich bin traurig, nervös und habe Angst vor dem, was ich wohl sehen werde. Wochenlang habe ich Bilder und Videos von dir studiert und versucht, vertraute Gegenden zu erkennen, doch es wirkte alles wie ein surrealer Film. „Bereite dich darauf vor, was du sehen wirst, sagt mir meine Familie. Wie bereitet man sich auf so was vor? Es wirkt doch alles immer noch wie ein Albtraum. 

 

.
Spielsachen, Zettel, Fotos: Viel ist nicht übrig geblieben. ©Mercan Falter

 

 

Und so bleibt es auch, als ich das erste Mal deine zerstörten Häuser erblicke. Es sackt nicht. Ich beobachte die Zelte, die an jeder Ecke und vor jedem Haus aufgestellt sind. Ich erblicke einen Kinderspielplatz, drei Zelte sind um die bunten Klettergerüste gespannt. Jede deiner freien Flächen wird genutzt. Seit Wochen schlafen alle deine Menschen in diesen Zelten, wenn sie nicht schon in andere Provinzen geflohen sind. Die Nachbeben waren so häufig und heftig und fast alle deine noch stehenden Gebäude zu beschädigt, um in ihnen beruhigt die Augen schließen zu können. Jedes Zelt sieht anders aus: Manche sind blau mit chinesischen Schriftzeichen, auf manchen steht UK Aid, andere sind weiß mit dem AFAD-Logo. Doch viele, so viele sind selbst gemacht. Mit Planen und Paletten und Schnüren an die noch stehenden Häuser aufgebaut.

 

Sie sind dem Boden gleich. 

Und dann stehe ich da. Dein Cay Viertel in Iskenderun, ich erkenne es nicht wieder. Kein Stein steht auf dem anderen. Was von deinen vielen Häusern hier übrig geblieben ist, ist ein einziger Haufen. Sie sind dem Boden gleich. Dazwischen ragen Kleider, Zettel, Schuhe, Spielsachen hervor. Entlang der Trümmer haben deine Menschen überall Fotos ausgebreitet, die sie aus den Trümmern gezogen haben. Ich frage mich, wie viele von all jenen, die mir aus den Familienalben herauslächeln, hier wohl ihr Leben verloren haben.

 

Ich gehe behutsam durch die schmale Spur, die durch die Verwüstung gezogen wurde, und bin an meinem Ziel. Die Adresse, die wir hilfesuchend vier Tage lang durch alle Kanäle gejagt haben. Die Adresse des neuen Hochhauses, das meine Tante, meinen Onkel, meinen Cousin, seine Frau und ihr 10 Monate altes Baby unter sich vergraben und in den Tod gerissen hat. Statt pompöse 15 Stockwerke, finde ich vor mir einen Haufen, der keine zwei Stockwerke hoch ist. Ich verstehe jetzt, wieso wir in Wien leichter auf gute Nachrichten von dir hoffen konnten. Hier steht nichts. Die wenigen, viel zu dünnen Stahlträger leuchten wie Spaghetti ineinander geflochten rostrot aus dem Grau. 

 

.
Hatay in Trümmern – kein Stein steht mehr auf dem anderen. ©Mercan Falter

 

Und nun kommen sie endlich, die Tränen. Ich hatte lange auf sie gewartet. Sie brechen aus mir heraus, aber der Schmerz dringt nicht durch die Taubheit. Jedes Mal, wenn ich an deinen Trümmern vorbeifahre, halte ich unbewusst den Atem an. Das Gesicht verzieht sich schmerzvoll, aber der Schmerz bleibt aus. „Wie sollst du dich nur jemals davon erholen?, flüstere ich dir zu. Viele Wochen nach der Katastrophe hat sich eine merkwürdige Stimmung in deinen Straßen entwickelt. Eine Kombination bestehend aus akuter Krise und dem Versuch, weiterzumachen. Gegenüber eines schwer beschädigten und verlassenen Hauses suchen die Menschen Zerstreuung durch Sport und trainieren in der Auslage eines Fitnesscenters. Viele Autos fahren durch deine Straßen, es sind Menschen unterwegs, aber niemand schlendert oder spaziert gemeinsam. Deine Promenade steht unter Wasser. Die Menschen, die unterwegs sind, haben alle Gründe, warum sie da sind. Sie stehen vor ihren Trümmern, suchen nach einem funktionierenden Bankomaten, versuchen Proviant zu besorgen oder sind eine von den vielen freiwilligen Helfer:innen, die angereist sind, um in deinen Zeltstädten auszuhelfen. Ich habe innerhalb einer Woche niemanden von AFAD, Polizei oder anderen Hilfsorganisationen auf deinen Straßen gesehen. Du wurdest dir selber überlassen. Menschen stehen Schlange vor deinem ebenso schwer beschädigten Gerichtsgebäude, das im Notbetrieb zu funktionieren versucht. Was für ein nahezu lachhaft plakatives Symbol für den Zustand deiner Demokratie.

 

Deine Menschen brauchen Hoffnung, Hatay. 

 

Ich begleite jeden Tag meinen Cousin und meine Cousine bei dem Versuch, ihre Amtswege nach dem Verlust ihrer Eltern zu begehen. Bei jeder Einleitung und Erklärung, dass ihre Eltern gestorben sind und sie sich deshalb hier jetzt um die Stromrechnung / Wasserrechnung / Kredite / Auto s/ Versicherungen / usw. von ihnen kümmern müssen, kommt eine höfliche Beileidsbekundung und dann gleich zur Sache. Deine Menschen erschüttert das nicht mehr, sie begegnen jeden Tag nur noch Menschen, die alles verloren haben. Sie erzählen mir, wie sie die Nacht erlebt haben, in der sich alles für immer geändert hat. Sie konnten nichts tun, außer sich festzuhalten, zu beten und auf das Ende der ersten Entladung zu warten, um im Pyjama in die Kälte hinaus zu fliehen. Sie erzählen davon, wie tagelang keine Hilfe kam. „Wir waren auf uns alleine gestellt. Wenn du selber keine Menschen unter den Trümmern hattest, bist du zu anderen Häusern hin und hast den Angehörigen beim Graben geholfen, erzählt mir mein Onkel. Er schläft nicht, er hat zu viele Leichen geborgen. Darunter auch die Leichen unserer Familie. Doch zumindest konnten wir sie bergen, sie deiner Erde übergeben und verabschieden. In einer deiner Wohnsiedlungen in Arsuz wurde mit den Arbeiten noch nicht mal begonnen. Es riecht nach Verwesung.

 

Zwischen all den zerstörten Gebäuden ragen immer wieder makellose Hotels, Einkaufszentren u.Ä. heraus. Sie stechen als schmerzhafte Erinnerung an dich heraus und beklagen, dass dieses Ausmaß nicht hätte sein müssen, dass deine Häuser – ordentlich gebaut – nicht so leicht in sich zusammengefallen wären und nicht diese unvorstellbar hohe Todeszahl zur Folge gehabt hätten und: Dass Korruption tötet. 

 

Deine Menschen brauchen Hoffnung, Hatay. Sie sind resilient, stark und lehnen sich, so gut sie können, gegen ihr Schicksal auf. Doch mit jedem Schlag, jedem Unwetter, jeder weiteren Präsentation des Unwillens der Regierung, zu helfen, wächst ihre Verzweiflung. Sie sind schwer traumatisiert. Niemandem geht es gut. Die Welt hat bereits nach kurzer Zeit weitergemacht, während ihre seit dem 6. Februar still steht. Ihr einziger Hoffnungsschimmer ist die Wahl im Mai. Alle wollen sie für Veränderung wählen. Bis dahin bleiben sie auf jeden Fall hier, sagen sie. „Wir sind nicht weg, wir sind da, schreiben sie auf deine Mauern. Bis dahin machen sie weiter, existieren in den Tag und in die Nacht hinein. „Das wird sich alles an diesem Maitag weisen, erklären sie mir. Bis dahin ist ihre Zukunft ungewiss und zu abstrakt für Pläne. „Und wenn sich nichts ändert?, frage ich vorsichtig. Doch daran denkt niemand, sie glauben an dich, Hatay. Sie glauben daran, dass deine Identität, deine Geschichte und deine gelebten Werte der Einigkeit zu stark sind, um völlig zerstört zu sein. Inmitten des Elends kehrt der Frühling bei dir ein. Du strahlst grün und streckst dich der Sonne entgegen. Deine Zitronenbäume sind bereit für die Ernte. Der Morgen riecht nach Jasmin. Du kehrst zurück zu uns, Hatay, und wir immer wieder zu dir.

 

In liebender Erinnerung an Cahide, Rafi, Serhan, Basak, Mahir und Nejdet. Möge euch und den vielen tausenden Opfern die Erde leicht sein. ●

 

 

Wie sieht es aktuell in Hatay aus?

Die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien am 6. Februar 2023 mit der Magnitude 7,8 Mw verzeichnet stand Mitte April über 56.000 Todesopfer, etwa 2,5 Millionen Menschen mussten aus ihrer Heimat fliehen. Die türkische Provinz Hatay im Südosten der Türkei ist mitunter am stärksten von der Katastrophe betroffen: Helfer:innen vor Ort beklagen die Knappheit von Grundnahrungsmittel und sauberem Trinkwasser und durch das Fehlen von Sanitäranlagen bestehe auch die Sorge eines folgendem Gesundheitsproblems. Ein Teil der Betroffenen hat das Gebiet bereits verlassen. Familien und ältere Menschen, die die nötigen finanziellen Mittel dazu nicht besitzen stecken allerdings fest und hoffen nach wie vor auf Hilfe. Laut Expert:innen aus Diyarbakir sei auch das Versprechen des Präsidenten Erdoğan, alle Gebäude innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen unrealistisch. Sie sprechen von möglichen fünf Jahren.

 

 

 

 

Zur Autorin:

Mercan Falter ist Wienerin mit arabisch-alevitischen Wurzeln in der Türkei. Die 32-jährige arbeitet als Redakteurin in der Arbeiterkammer Wien und als freischaffende Fotografin. Sie studiert Digitalisierung, Politik und Kommunikation im Master und beschäftigt sich mit Themen rund um gesellschaftliche Auswirkungen von KI und Algorithmen, Antirassismus und Feminismus.

 

 

 

 

Bereich: 

Das könnte dich auch interessieren

unsplash/danieljames
„Egal ob tot oder lebendig, mit welcher...
Screenshot
  von Özben Önal An unsere muslimischen...
Credit: Dima Rogachevsky/unsplash
Die politische Lage in der Türkei...

Anmelden & Mitreden

3 + 1 =
Bitte löse die Rechnung