I miss you, ENTER

05. Oktober 2011

Eine Fernbeziehung ist nichts für schwache Nerven. Wer sie überstehen will, braucht neben einem festen Glauben auch ausgeklügelte Überlebensstrategien. Fünf Pärchen über Liebesklicks, Livestream-Sex und die Leidenschaft des Wiedersehens.

Von Ivana Cucujkić und Anna Thalhammer

 

 

Piiep piiep. Pieep pieep. Eine neue Nachricht poppt auf Danijels Handybildschirm auf. „Komm, ich bin online. Kuss.“ Es ist 22 Uhr, Mittwochabend. Danijel springt mitten im Eins-zu-Eins bei Barca gegen Real Madrid von der WG-Couch und verschwindet aufgeregt in seinem Zimmer. Die restliche Spielzeit verbringt der Jus-Student mit dem Headset am Kopf vor seinem Laptop. Er datet seine Freundin Jelena – auf Skype. Die gemeinsamen vier Stunden Beziehungszeit beginnen. Die Tür ist abgeriegelt, der Harndrang unterdrückt. Real gewinnt 3:2 in der Verlängerung, die Seminararbeit wird für die dritte und letzte Deadline wieder nicht fertig und der Mitbewohner bräuchte ganz dringend etwas aus dem Zimmer. Doch mittwochs zwischen zehn Uhr abends und zwei Uhr nachts hat das alles keine Bedeutung. Da werden Jelenas neue Haarfarbe, Danijels kleiner Kratzer vom Klettern und schmachtende Liebeserklärungen zum Mittelpunkt der Welt. Nach vier Stunden schleppt sich jeder todmüde aber selig ins Bett und träumt vom nächsten Skype-Date in drei Tagen. Danijel und Jelena führen eine Fernbeziehung.

 

 

 

 

 

 

Foto: Philipp Tomsich

Working local, loving global
Liebe auf Distanz ist die Lebensrealität von Paaren, die sich über das Internet oder auf einer Geschäftsreise kennengelernt haben. Liebe auf Distanz ist auch Alltag vieler Neo-Österreicher, die im sommerlichen Heimaturlaub ihren Seelenverwandten getroffen haben. Für diese Paare gibt es auf lange Strecken keine traute Zweisamkeit mehr, kein gemeinsames Abendessen oder jemanden, der einen nach einem harten Tag in den Arm nimmt. Körperliche und örtliche Nähe fallen komplett weg, was sich dann so ähnlich anfühlt wie kalter Entzug für Crack-Süchtige.

Den Entzug kann man auf unterschiedliche Weise abmildern: Petra strippt für Huan vor der Laptop-Kamera; Dejan und Jovana vertrauen auf Zeitmanagement; Mihal setzt sich jedes Wochenende ins Flugzeug, um Anita zu sehen; Akif und Sibel bleiben drei Wochen im Sommer, um ihre Leidenschaft auszuleben.

 

 

 

 

Drei Wochen Zweisamkeit
Sibel kann nicht einfach in den Flieger steigen und Akif  in Wien besuchen. Erstens könnte sich das die junge Türkin nicht leisten, zweitens müsste sie sich ein Visum besorgen, drittens würde ihre Familie ausrasten, wenn sie einfach zu einem Jungen ins Ausland fahren würde. Also reist Akif in die Türkei und macht in Sibels Heimatort Izmir Urlaub. Genauso lernten sich die beiden auch vor fünf Jahren kennen. Sie war siebzehn, er dreiundzwanzig. „Die ersten zwei Jahre waren Besuche undenkbar. Sibels Eltern achteten sehr genau darauf, mit wem sie verkehrte“, erzählt Akif. Somit hielten sich die Handykosten zunächst konsequent über 150 Euro im Monat. Mittlerweile darf Akif seine Sibel zwei Mal im Jahr für drei Wochen besuchen – dafür braucht der Automechaniker seinen gesamten Urlaub auf.

Alle Bedürfnisse, die durch so lange Zeit Trennung entstehen, müssen in dieser kurzen Zeit untergebracht werden. Nach unvergesslichen zwanzig Tagen voll romantischer Sonnenuntergänge und berauschender Leichtigkeit werden viele schöne Erinnerung und Gefühle als Souvenir zu Hause ausgepackt. Und wie es bei Souvenirs so ist, passen sie nie wirklich zur restlichen Einrichtung. Sibel sitzt wieder alleine im elterlichen Wohnzimmer und lebt von einem Skype-Rendezvous zum nächsten. Dafür macht sie sich auch immer schön. Akif werkelt den ganzen Tag in seiner Autowerkstatt, um sich am Abend erschöpft noch eine Stunde lang mit seiner Liebsten vor dem Computer zu sehen. Seine rosige Vorstellung der gemeinsamen Zukunft: „Sie kommt her, lernt Deutsch, findet eine Arbeit und wir werden uns super verstehen. Das wird einfach nur wunderschön werden.“

 

 

Romantik auf Kommando
„Einfach wunderschön“ musste es auch sein, wenn Mihal jedes Wochenende aus München in Schwechat landete, um von einer umwerfend gestylten Anita abgeholt zu werden. Von Freitagabend bis Sonntagnacht gab es für die beiden nur mehr Bilderbuchbeziehungsprogramm. „Seit einem Jahr sehen wir uns nur ein Mal in der Woche. Da musste einfach immer alles perfekt sein“, erzählt sie. Die Vorbereitung auf das gemeinsame Wochenende hat sich zum Ritual entwickelt: Wohnung generalreinigen, Bett frisch beziehen, Reizwäsche bereithalten, DVDs ausleihen und seine Lieblingstorte backen. Für alltägliche Probleme, Schwächen oder Streit ließ Mihal keinen Platz. Ob man so den anderen überhaupt in allen seinen Facetten kennenlernen kann?

„Es war so verdammt anstrengend, auf Knopfdruck auf Romantik programmiert zu sein“, gibt die Bürokauffrau zu. „Ich schleppte mich müde und gestresst aus dem Büro zum Flughafen. Manchmal wollte ich gar nicht mit einem Lächeln warten, sondern mich heulend in seine Arme schmeißen und Frust ablassen. Manchmal dachte ich schon, dass Mihal von meinem Leben, meinen Freunden, keine Ahnung hat.“ Die Beziehung drohte an der überschäumenden Romantik zu zerbrechen. Erst als Mihal und Anita so richtig die Fetzen fliegen ließen und auch über ihre Probleme sprachen, lernten sie sich richtig lieben. „Es war wie ein Befreiungsschlag. Im normalen Leben ist auch nicht immer alles super. Wie soll das in einer Beziehung gehen. Man muss einfach ehrlich zueinander sein und über alles reden. Wenn man sich nur selten sieht umso mehr, damit man überhaupt etwas von der Gefühlswelt des anderen mitbekommt“, sagt  Anita.

 

 

 

 

 

 

„Die lieben sich nicht wirklich“
Über solche Anfängerfehler können Jovana und Dejan nur müde lächeln. Die beiden sind nach elf Jahren Profis in Sachen Fernbeziehung. Ihre goldene Regel: Zeitmanagement und romantische Zweisamkeit, die auch Konflikte zulässt. Was 2001 als Klassiker eines erfolgreichen Heimaturlaubs mit einer Dorfsommer-Liebe begann, wurde kürzlich mit einer Verlobung endgültig und zukunftsträchtig besiegelt. Eine gemeinsame Wohnung in Wien gibt es auch schon – in der man aber nur selten gemeinsam lebt. Der 26-jährige Dejan ist Profivolleyballer und dementsprechend ständig unterwegs. Turniere, Trainingslager, Meisterschaften und obendrein jedes Jahr der Nervenkitzel, ob er nicht für ein neues Engagement wieder mal die Nation wechseln wird.

Das ist das Leben eines Sportlers – und das Schicksal einer Spielerfrau. Es gibt Zeiten, in denen sie sich häufig sehen und sogar mehrere Monate am Stück zusammenleben. Und darauf folgen lange Durststrecken, wo den beiden kurze Telefonate oder Skype-Rendezvous genügen müssen. Die Fernbeziehung bereitet Jovana und Dejan wenige Probleme – nur von der Verwandtschaft kommen störende Nebengeräusche. Schließlich befindet sich das Paar im – für Balkanansichten – überreifen Heiratsalter und damit sollte langsam auch an Nachwuchs und den Ernst des Lebens gedacht werden. „Meine Mutter beschwert sich bei mir, dass sie immer öfter von Anverwandten und neugierigen Bekannten gefragt wird, wieso wir denn immer noch nicht zusammenleben“, erzählt Jovana. „Meine Oma meinte mal im Vertrauen zu meinem Vater, dass wir uns gar nicht wirklich lieben würden, weil wir das so lange aushalten.“ Um sich erst gar nicht dem Familien- und Dorfgetratsche auszusetzen, meidet Jovana mittlerweile jede größere öffentliche Veranstaltung. „Die denken sich dann: Ah, schau, wieder ist sie alleine gekommen. Und er ist nicht da. Da kann ja was nicht stimmen.“  Jovana und Dejan bleiben dennoch gelassen. Sie wissen, sie sind ein gutes Team. „Wir vertrauen einander zu hundert Prozent, nach elf Jahren Fernbeziehung erschüttert uns gar nichts mehr“, sagt Jovana.

 

 

 

 

 

Skypersex
Huan und Petra haben eine ganz spezielle Strategie entwickelt, um die Fernbeziehung erträglich zu machen. Die beiden sind zwar räumlich getrennt, aber trotzdem immer zu zweit. Sind beide zu Hause, ist der Laptop mit Webcam und Mikrofon immer dabei. Unterwegs läuft  auf dem Handy die Skype-App. Der in Hardware gepackte Partner verfolgt so jeden Schritt des Herzblatts. Petra lernte Huan in Portugal während ihres Urlaubs kennen. Nach ihrer Rückkehr skypten die beiden täglich mehrere Stunden und verliebten sich. „Er konnte null Englisch – also hab’ ich in Windeseile mein Portugiesisch perfektioniert.“ Mittlerweile führen Petra und Huan eine Web-2.0-Beziehung. Wenn sie abends kocht, wird Huan auf der Küchenzeile platziert und bereitet seinerseits dasselbe Gericht zweitausend Kilometer entfernt vor. Sie decken ihre Tische, setzen den anderen auf die gegenüberliegende Tischkante und stoßen in den Bildschirm mit einem Achterl Portwein an.

An Wochenenden sitzen sie auch länger bei Tisch und trinken ein paar Gläser mehr bis sie schließlich beide betrunken sind und sich schmutzige Witze erzählen. Wenn der Abend sehr spät und die Flaschen sehr leer ist, legt Petra gerne Lenny Kravitz auf und gibt einen Strip zum Besten. Huan steht in diesem Moment immer gerne auf, trägt den Rechner mit der nackten Petra auf dem Bildschirm ins Schlafzimmer, um sich dem intimen Cybermoment an einem ihrer Höschen schnuppernd genüsslich hinzugeben. „Ja, es klingt schon etwas abgedreht für Außenstehende. Aber, hey, was bleibt uns über. Dann haben wir halt Sex am Bildschirm. Besser, als nur Briefe schreiben!“ sagt Petra. Pragmatisch, praktisch, effektiv. „Es ist, als ob er bei mir wäre. Ich kann ihn an meinem Leben teilnehmen lassen.“

 Liebe macht eben erfinderisch!

Xoxo, enter!

 

1. Es muss nicht gleich sein, dass er dich betrügt, weil er sich zwei Tage mal nicht meldet.

2. Es wird Tage geben, an denen du wütend bist, dass dein Partner gerade Party macht und wahrscheinlich besoffen ist und du alleine und deprimiert vor der Glotze hockst. Lauf ne Runde um den Block und beruhig dich.

3. Mach erst dann einen riesen Aufstand, wenn Facebook-Postings vom anderen Geschlecht verdächtig häufig auf seiner Pinnwand sind.

4. Der Vorteil einer Fernbeziehung ist, dass du deine Schwiegereltern nicht so oft sehen musst. Denn wenn sie nicht da ist, gibt es keinen Grund für Anstandsbesuche.

5. Der Nachteil ist, wenn sie mal da ist, dass ihr mindestens drei Mal zu unnötigen Mittagsessen von ihnen eingeladen werdet.

6. Bevor er wieder abreist, bring die Wohnung wieder in ihre Ursprungsform und beseitige alle Spuren seines Besuchs. Allein der Anblick seiner losen Socke im Gang fühlt sich wie ein Stich ins traurige Herz an.

7. Seid euch im Klaren, dass ihr viele wichtige Momente nicht miteinander teilen werdet – wie Geburtstage, Sponsionsfeiern oder Silvester.

8. Es ist nichts Verwerfliches, wenn bei langen Durststrecken der Leidenschaft mal ein schlechter Softporno am Privatsender als Ventil herhalten muss.

9. Resistent werden gegen Sprüche wie „Ihr wärt sicher nicht so lang zusammen, wenn ihr euch jeden Tag sehen würdet.“

10. Wenn es überhaupt einen Vorteil an Fernbeziehungen gibt, dann den, dass der Sex immer wieder aufregend ist. Nach Wochen der körperlichen Abstinenz, springt man den Partner nach Zuknallen der Haustür an wie ein Knacki nach lebenslanger Haft und macht erstmal ordentlich Bettakrobatik in der wildesten Ausführung. Erst dann, wenn der Körper seine Fleischeslust gestillt hat und ihr euch erschöpft und luftringend auf die Seite rollt, überkommt euch ein Emotions-Tsunamie, der sich unaufhaltsam durch eure Lungen presst und euch in Tränen ausbrechen lässt. Dann werdet ihr spüren, wie sehr ihr den anderen wirklich vermisst habt.

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Kommentare

 

wow gefällt mir echt unglaublich gut! toll geschrieben! respekt an alle, die das so hinkriegen - ich glaube nicht, dass ich das auf dauer schaffen würde ..

 

Obwohl ich eher öfter höre "Die Beziehung hält das sicher nicht aus, buch noch keinen Urlaub für nächsten Sommer, wer weiß, was passiert, wenn du jetzt weg bist", das "Wenn ihr euch jeden Tag sehen würdet, wärt ihr längst nicht mehr zusammen", kenn ich nicht.
Ich könnte mir halt in den Arsch beißen, dass ich meinen Freund erst kennengelernt habe, vier Monate bevor mich die Uni 800 km weit weg genommen hat. Dieser Wunderkerl hat mich nie vor die Entscheidung gestellt. Es war klar, die Chance zu haben, nicht an die Uni Wien müssen, gingen vor.
-> Nicht jeder ist so relaxt, als ich schon vor drei Jahren gehofft hatte, mal im Ausland studieren zu können, legte mir das mein damaliger Freund schon als unsolidarisch im Vorhinein aus. "Du willst doch gar nicht mit mir zusammen sein, wenn du jetzt schon weißt, dass du in drei Jahren in ein anderes Land gehst". Bistudeppat.

Jetzt werden wir die Bahn, die Fluggesellschaften bereichern, die Skypeserver heißlaufen lassen und das Webcam-kapital unterstützen! Meine Tipps: über Bratislava fliegen, Bus von Wien is 10 Euro UND Mitfahrgelegenheiten übers Internet suchen!!!

Kopf hoch an euch alle! (Und an die, die noch nicht in dieser Position sind, haltet euch dennoch fern von Erasmusparties oder anderen gefährlichen Orten, an denen ihr euer Herz ganz schrecklich verlieren könnt :)

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