Mama auf Zeit

21. September 2016

Sie ist gerade beim Einkaufen, als sie der Anruf erreicht: „Vier Wochen alt, männlich. Bringen es gleich zu dir.“ Eine halbe Stunde später hält Cornelia Haltrich ein fremdes, drogenabhängiges Baby in den Händen, das sich vor Krämpfen windet. Alltag einer Krisenmutter.

Von Melisa Erkurt

Die Wartelisten für Adoptiveltern werden immer länger - auf jedes Kind, das zur Adoption freigegeben wird, warten laut Schätzungen bis zu zehn potentielle Elternpaare - während Pflegeeltern und Krisenpflegeeltern dringend gesucht werden. In Wien gibt es zurzeit 28 Krisenpflegemütter, gebraucht werden eigentlich doppelt so viele. Doch ein fremdes Baby bei sich aufzunehmen, sich um es wie um sein eigenes Kind zu sorgen und es dann nach ein paar Wochen wieder abzugeben, dafür ist nicht jeder bereit. Cornelia Haltrich stellte sich dieser emotionalen Herausforderung. Als sie 2002 auf eine Werbung, in der Krisenpflegeeltern gesucht werden, stößt, hat sie das Bedürfnis zu helfen. Die 48-Jährige bewirbt sich und arbeitet fünf Jahre als Krisenmutter.

Frau Haltrich, als ich meinen Kollegen erzählt habe, dass ich heute ein Interview mit Ihnen führe, konnten die meisten von ihnen nichts mit dem Begriff „Krisenmutter“ anfangen. Was ist eine Krisenmutter?

Eine pädagogisch vorgeschulte Person, die ein Kind zwischen null und zwei Jahren vom Jugendamt zugewiesen bekommt und es im häuslichen Verband für einige Wochen betreut, bis es zu seinen Eltern oder zu Dauerpflegeeltern kommt. Obwohl acht Wochen vorgegeben sind, habe ich die Kinder im Durchschnitt drei Monate bei mir gehabt.

Foto: Marko Mestrovic
Foto: Marko Mestrovic

Wie kann man sich den Arbeitsalltag einer Krisenmutter vorstellen?

Oft war ich beim Wäschewaschen oder Einkaufen und bekam plötzlich einen Anruf vom Jugendamt. Die sagten dann: „Sechs Monate alt, männlich. Bringen es gleich zu dir.“ Man bekommt keine näheren Informationen und eine halbe Stunde später hältst du ein Baby in den Händen, das nur in Windel und Body gekleidet ist, ohne sonstigem Gewand oder Equipment. Eine Woche später findet die erste Besprechung mit dem Jugendamt statt, um abzuklären, wie es weitergeht.

Was sind die Voraussetzungen, um Krisenmutter zu werden?

Ich musste pädagogische Vorkenntnisse vorweisen. Außerdem findet eine Hausbegehung statt, da man ein entsprechendes Wohnumfeld nachweisen muss. Die gesamte Familie wird befragt, es ist wichtig, dass alle Familienmitglieder einverstanden sind. Zusätzlich musste ich einen intimen Fragebogen ausfüllen, bei dem auch gefragt wurde, ob ich mir vorstellen kann, ein behindertes oder ein HIV-infiziertes Kind zu übernehmen. Dadurch wird versucht herauszufinden, ob man die Nerven und die soziale Bereitschaft für diesen Beruf hat. Man muss auch Seminare besuchen, in denen man lernt, was auf einen zukommt und nachweisen, dass man sich selbst finanziell erhalten kann. Man muss sich aber klar darüber sein, dass Krisenmutter zu sein ein Familienprojekt ist. Viele Krisenmütter brauchen finanzielle Rückendeckung vom Partner - das Ganze kann nur funktionieren, wenn die gesamte Familie mitspielt. Viele arbeiten in der Pension als Krisenmutter, da man den Job nicht nebenberuflich machen kann. Es ist ein Vollzeit-Job, obwohl man tatsächlich nur geringfügig angestellt ist.

Welche Art von Anstellung haben Krisenmütter?

Krisenmütter arbeiten eigentlich für die MA11 (Amt für Jugend und Familie), angestellt sind sie aber über die EfKÖ („Eltern für Kinder Österreich“, Familienberatungsstelle). Die Anstellung liegt einen Euro über der Geringfügigkeitsgrenze, somit sind Krisenmütter sozial- und pensionsversichert. Zusätzlich erhält man für das Kind Pflegegeld von der MA11.

Wir sprechen die ganze Zeit von Krisenmüttern, gibt es auch Krisenväter?

Es gibt nur Krisenmütter. Krisenmutter zu sein ist ein Vollzeit-Job, bei dem du aber nur geringfügig angestellt bist - das wollen und können sich viele Männer nicht leisten.

Was ist das Härteste am Krisenmutter sein?

Es war mir von Anfang an bewusst, dass ich die Kinder loslassen muss und ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie ich damit umgehe. Die körperliche Nähe zu meinen leiblichen Kindern war mir immer schon sehr wichtig – mit ihnen in einem Bett schlafen war für mich ganz normal, als sie noch klein waren. Als Krisenmutter musste ich aber genau überlegen, wie viel Nähe ich zulasse, um ihnen die Liebe zu geben, die sie brauchen, ohne dabei aber zu nah zu kommen. Es war für mich ein Tabu die Kinder bei mir im Bett schlafen zu lassen oder gemeinsam mit ihnen zu baden. Diese Eckpfeiler musste ich mir selber setzen, um mich nicht zu sehr an die Kinder zu binden.

Krisenmutter Cornelia Haltrich mit ihrem Pflegesohn
Krisenmutter Cornelia Haltrich mit ihrem Pflegesohn

Gelingt das immer?

Zweimal ist es mir nicht gelungen. Ich hatte einmal ein Mädchen, das sieben Monate bei mir war. Ihre leibliche Mutter wollte sogar, dass ich das Kind adoptiere, das darf ich als Krisenmutter aber nicht. Die Kleine kam dann in eine Pflegefamilie. Meine Aufgabe war es eigentlich, das Kind in die Pflegefamilie reinwachsen zu lassen. Doch dieses Mal war alles anders. Schon nach dem ersten Treffen mit der Pflegemutter wollte das Jugendamt, dass ich der Familie das Mädchen übergebe. Das war für das Mädchen und mich viel zu schnell und daher sehr schwierig. Als ich sie an ihrem neuen Zuhause abgeben musste, wollte sie nicht aus dem Auto aussteigen und hat geweint. Es war für uns beide ein traumatisches Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Danach habe ich eine längere Pause gebraucht, um das zu verdauen. Am Ende ist dann doch noch alles gut ausgegangen: Weil das Mädchen nach einem Jahr noch immer nach mir gefragt hat, hat ihre Pflegemutter, bei der sie letztendlich ein liebevolles Zuhause gefunden hatte, mit mir Kontakt aufgenommen. Die Kleine hat unsere gemeinsame Zeit aber nie vergessen. Als ich später meinen Sohn zur Dauerpflege übernommen habe, hat sie mich plötzlich gefragt, wieso sie damals nicht bei mir bleiben durfte. Das hat uns beide sehr mitgenommen. Heute ist aber alles gut, sie ist jetzt 13 und ich bin ihre Taufpatin und ein fixer Bestandteil ihres Lebens.

Und das zweite Mal?

Da bekam ich ein vier Wochen altes Baby, das eine drogenabhängige Mutter hatte. Als der Kleine zu mir gebracht wurde, war er auf Entzug. Er hatte die ganze Zeit über Krampfanfälle, die epileptischen Anfällen glichen. Außerdem hat er durch den Drogenkonsum seiner Mutter eine Sehbehinderung erlitten. Er hatte unglaubliche Schmerzen, gegen die nur körperliche Nähe half. Er hat sieben Monate lang auf meinem Bauch geschlafen, das war das Einzige, das ihn beruhigt hat. Er ist mir so sehr ans Herz gewachsen, dass ich schließlich ganz die Pflegschaft für ihn übernommen habe. Das war auch der Grund, wieso ich aufgehört habe, Krisenmutter zu sein, um mich ganz ihm zu widmen.

Schließen Sie jedes Kind ins Herz oder waren Sie bei manchen auch froh, sie wieder abzugeben?

Man macht für jedes Kind das Herz auf. Natürlich gibt es Kinder, bei denen der Funken anders überspringt. Es gab ein einziges Mal ein Kind, bei dem ich froh war, dass ich es abgeben konnte. Das einjährige Kind war eine Woche bei mir, ich habe währenddessen keine Informationen über das Kind bekommen. Es hat durchgehend geschrien und ich wusste nicht wieso.

Wie war es für Ihre leiblichen Kinder, wenn alle paar Wochen ein neues Kind da war?

Ich habe das Projekt im Vorfeld mit meinen zwei Kindern besprochen, meine Kinder waren damals beide im Volksschulalter. Ich wusste, wenn es meine Kinder überfordert, breche ich das Ganze ab. Zwischen den einzelnen Fällen habe ich immer zwei bis drei Monate Pause gemacht, sodass die eigenen Kinder mich auch eine Zeit lang ganz für sich gehabt haben. Meine Kinder haben in sozialer Hinsicht von dem Ganzen profitiert. Sie haben gelernt, dass es nicht selbstverständlich ist, dass jeder Eltern und ein behütetes Zuhause hat. Sie haben begriffen, dass es Menschen gibt, die unsere Hilfe brauchen und sie können nichts dafür, dass sie unsere Hilfe brauchen.

Krisenmutter
Foto: M. Mestrovic

Was ist das Schönste an ihrem Beruf?

Man kriegt so unglaublich viel von den Kindern. Ich hatte einmal ein eineinhalbjähriges Mädchen für sieben Monate bei mir. Als sie mir gebracht wurde, war sie körperlich verwahrlost und lag entwicklungstechnisch sehr zurück. Sie konnte nur wackelig stehen, geschweige denn gehen. Sie hat zu mir Vertrauen gefasst und ist aufgeblüht. Es ist beeindruckend mitzuerleben, wie regenerationsfähig eine Kinderseele ist. Für mich ist es jedes Mal aufs Neue ein Wunder, wenn ich sehe, wie lebenshungrig und kämpferisch Kinder sind. Alle Kinder, die ich abgegeben habe, hatten dann schließlich den für ihr Alter angemessenen Entwicklungsstand erreicht - das war immer ein wunderschönes Gefühl.

Welche Schicksale haben die Kinder, die zu Krisenmüttern kommen?

Von Teenager-Mutter, die alleine und überfordert ist, bis hin zu schwer vernachlässigten, misshandelten Kindern. Das Jugendamt ereilt in solchen Fällen oft eine Gefahrenmeldung von Dritten oder eine anonyme Meldung und das Kind muss sofort abgenommen und zu einer Krisenmutter gebracht werden. Ganz am Anfang meiner Krisenmutter-Zeit musste ich einmal einen Zweijährigen abweisen, weil er so gefoltert worden war, er hatte einen gebrochenen Arm und Würgemale - das konnte ich meinen eigenen Kindern nicht zumuten. Außerdem war ich zu der Zeit selbst noch unerfahren.

Was passiert mit den Kindern nach ihrer Zeit bei der Krisenmutter?

Die Hälfte kommt zurück zu den leiblichen Eltern oder in andere familiäre Pflege, beispielsweise zur Tante oder zu den Großeltern. Die andere Hälfte kommt in Pflegefamilien.

Wieso gibt es zu wenige Pflegefamilien und zu viele, die adoptieren wollen?

Weil Pflegefamilien vom Staat zur Betreuung des Kindes engagiert sind. Du bist zwar Mama oder Papa für das Kind, aber rein rechtlich bist du nur angestellt. Als Pflegeelternteil hast du keine Rechte auf das Kind, wenn die leiblichen Eltern es zurückwollen und das Jugendamt das als positiv bewertet, musst du es abgeben. Viele schreckt diese Rechtsgrundlage ab. Außerdem bist du dazu verpflichtet, Besuchskontakt zu den leiblichen Eltern zu gewährleisten, viele Eltern wollen mit der leiblichen Familie des Kindes aber nichts zu tun haben. Weil es zu wenige Pflegeeltern gibt, hat das dazu geführt, dass die Bestimmungen gelockert wurden. Jetzt dürfen auch Alleinstehende und homosexuelle Paare Pflegekinder annehmen.

Wie hat Ihr Umfeld damals auf ihren Beruf als Krisenmutter reagiert?

Sehr unterschiedlich. Von Beschimpfungen, ich wäre meinen eigenen Kindern gegenüber verantwortungslos, bis hin zu Lobeshymnen, was für ein Engel ich denn doch sei. Beides hat mich kalt gelassen, denn ich habe gewusst, was und warum ich es tue. Ich habe es gemacht, weil ich helfen wollte, nicht um Lob zu ernten.

Interessenten und Bewerber, die sich vorstellen können als (Krisen-)Pflegeeltern tätig zu werden, wenden sich bitte an: 01/4000-90770.

Infobox:

„Es wird unterschieden zwischen Krisenpflege für einen kurzen Zeitraum (z.B. bei familiären Problemen oder sozialen Notfällen) und Langzeitpflege, bei der ein Kind für einen längeren Zeitraum (in manchen Fällen bis zur Volljährigkeit) in Pflege genommen wird.

Im Unterschied zur Adoption behalten die leiblichen Eltern ihre Rechte weitgehend und treten nur die Pflege und Erziehung des Kindes an das Jugendamt ab, das dann die Pflegeeltern damit beauftragt. Die Pflegeeltern haben im Pflegschaftsverfahren das Recht, Anträge zu stellen und müssen bei wichtigen Angelegenheiten, die das Pflegekind betreffen (bei Vereinbarungen zu Besuchskontakten, bei Anträgen der leiblichen Eltern auf Rückgabe des Kindes etc.) angehört werden.

ACHTUNG

Ziel der Fremdunterbringung ist letztlich die Rückführung des Kindes in seine Herkunftsfamilie, sobald sich dort die Erziehungssituation verbessert. Als Pflegemutter/Pflegevater sollten Sie deshalb darauf vorbereitet sein, sich von dem Kind auch wieder trennen zu müssen.

Wenn es im Interesse des Kindes liegt, ein Eltern-Kind-Verhältnis entstanden ist oder eine Rückführung in die Herkunftsfamilie nicht mehr möglich ist, können Pflegeeltern auch das volle Sorgerecht beantragen bzw. eine Adoption anstreben.“

Quelle: Website des Bundeskanzleramts https://www.help.gv.at/Portal.Node/hlpd/public/content/72/Seite.720008.html

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