"Meine Eltern stören mich beim Lernen"

10. April 2020

Kleine Wohnungen, viele Menschen auf engem Raum, wenig Unter­stützung von den Eltern – die Nachteile, mit denen Kinder aus sozial schwächeren Familien leben, werden durch die Corona-Pandemie sichtbarer denn je. Vor allem im Bildungsbereich.

Von Aleksandra Tulej, Illustration Christof Stanits

Schule Corona
Illustration: Christof Stanits

"Normalerweise lerne ich immer in der Bibliothek, weil ich zuhause nicht genug Platz habe. Jetzt geht das nicht und das erschwert einiges. Ich habe zuhause kein eigenes Zimmer, sondern schlafe im Wohnzimmer“, erzählt die 17-jährige Alla. Alla ist mit drei Jahren aus Tschetschenien nach Österreich gekommen und lebt heute mit ihren Eltern und fünf Geschwistern in einer 56qm Gemeindewohnung in Wien Favoriten. Sie wollte sich dieses Jahr eigentlich auf die Matura vorbereiten, um ab Herbst dann Physik zu studieren. Allas Mama ist Hausfrau, ihr Vater war Taxifahrer und hat aufgrund der Corona-Krise seinen Job verloren.

KEIN KONTAKT ZU SCHÜLERN AN BRENNPUNKTSCHULEN

Seitdem die Maßnahmen zur Eindämmung des COVID-19 in Österreich in Kraft getreten sind, herrscht in fast allen Lebensbereichen Ausnahmezustand. So auch im Bildungsbereich. Während privilegierte Kinder und Jugendliche ihr eigenes Zimmer, ihren eigenen Computer und Eltern, die sie beim Lernen zuhause unterstützen, haben, gestaltet sich all das bei sozial schwächeren Familien nicht so einfach. 58 Prozent der Kinder, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, leben in überbelegten Wohnungen, heißt es seitens der Diakonie Österreich. Dazu kommen noch die oft schwachen Deutschkenntnisse der Eltern und keine Möglichkeit, die Kinder zu unterstützen. Eine Umfrage der Bildungsinitiative Teach for Austria ergibt, dass rund 20 Prozent der Schüler und Schülerinnen sogenannter „Brennpunktschulen“ für ihre Lehrerinnen und Lehrer momentan nicht erreichbar sind. Das liege an schlechter Internetverbindung oder fehlender Hardware.

SIEBEN GESCHWISTER UND KEIN EIGENER LAPTOP

„Ich habe sieben Geschwister und keinen eigenen Laptop, ich darf aber den von meinem Bruder benutzen, wenn ich was für die Schule machen muss“, erzählt der 14-jährige Mohammed, der ägyptischen Migrationshintergrund hat und gemeinsam mit seinen Geschwistern und Eltern in einer Wohnung im zweiten Wiener Gemeindebezirk lebt. Seine Eltern arbeiten nicht. Wie alle Schülerinnen und Schüler in Österreich hat Mohammed seit Wochen Online-Unterricht. Wie das in einer Großfamilie auf engem Raum klappt? „Wir helfen uns gegenseitig bei den Hausaufgaben, aber wir streiten uns schon manchmal – ich vermisse die Schule und vor allem meine Freunde dort. Aber zumindest habe ich jetzt keine unnötigen Fächer wie Musik oder Soziales Lernen.“

Die 14-jährige Luna befindet sich in einer ähnlichen Lage. Sie ist vor drei Jahren mit ihrer Familie aus Serbien nach Österreich gekommen. Ihre Eltern arbeiten als Reinigungskräfte. Jetzt sind alle zuhause, Luna teilt sich mit ihrer Schwester in Zimmer. „Das ist aber kein Problem für mich, wir machen einfach beide was für die Schule. Es ist nur so, dass meine Eltern uns manchmal beim Lernen stören, wenn sie den Fernseher laut aufdrehen oder ständig durch die Wohnung gehen und mit der Familie aus Serbien telefonieren“, so die Schülerin. Während die 17-jährige Alla sich der Lage vollkommen bewusst ist, ist dieses Bewusstsein bei jüngeren Schulkindern klarerweise noch nicht so ausgeprägt. Die Auswirkungen werden aber auch diese leider zu spüren bekommen, wie es seitens Bildungsexpertinnen und Bildungsexperten heißt.

„ES WIRD DIESE KINDER NOCHMAL MEILENWEIT ZURÜCKWERFEN“

„Das wird genau diese Kinder, die sowieso schon hinten nach sind, noch mal meilenweit zurückwerfen“, erklärt Bildungsexpertin und ehemalige AHS-Lehrerin Melisa Erkurt. „Es wird einfach ein großer Gap entstehen. Ich sehe auf Twitter Eltern aufstöhnen, dass sie mit ihren Kindern Arbeitsblätter ausfüllen müssen.“ Aber was ist mit jenen, deren Eltern ihnen nicht helfen können? „Wenn ich allein an die Deutschförderklassen denke – wer übt mit diesen Kindern jetzt Deutsch? Allein nach zwei Monaten Sommerferien gibt es schon große Lücken.“ Wenn die Leistung der Kinder momentan genau so bewertet werde wie im Normalbetrieb, sei das laut Erkurt einfach ungerecht. „Die Eltern dieser Kinder sind teilweise Systemerhalter und Systemerhalterinnen, wenn sie zum Beispiel im Supermarkt arbeiten. Sie gefährden ihre Gesundheit für Österreich und haben dazu noch die Kinder zuhause.“ Schulen bieten einen Journaldienst an, in dem Kinder in der derzeitigen Lage nach wie vor von der Schule betreut werden können. „Viele schicken ihre Kinder aber auch aus Scham nicht hin, weil sie nicht die Einzigen sein wollen“, so Erkurt. Laut ihr gehört die Digitalisierung einfach besser ausgestattet, indem jedes Kind einen Laptop von der Schule zur Verfügung gestellt bekommt. Es brauche auch eine bessere Kommunikation zwischen den Lehrkräften, damit der Arbeitsaufwand nicht enorm hoch ist, wie es momentan in vielen Schulen der Fall ist. „Eine Ganztagsschule wäre langfristig die Lösung für Chancengleichheit“, schließt Erkurt ab.

Ehemalige AHS-Direktorin und Bil-dungsexpertin Heidi Schrodt hat ähn-liche Ansichten zu dieser Problematik. „Den Kindern fehlen Ansprechpersonen, Sozialarbeiter, ein Unterstützungssystem. Es darf die momentane Leistung einfach nicht in die Note miteinbezogen werden, das Sitzenbleiben ab der zweiten Klasse Volksschule sollte wieder abgeschafft werden. Verbale Beurteilung muss wieder bis zur vierten Klasse Volksschule möglich sein.“ Diese Maßnahmen könnten Kindern wie Mohammed oder Luna dabei helfen, in ihrer schulischen Laufbahn nicht noch mehr zurückgeworfen zu werden, und motivierten Jugendlichen wie Alla nicht ihren zukünftigen Bildungsweg erschweren. Auch ohne Pandemie sind viele Schüler und Schülerinnen durch ihren sozialen Status im Nachteil, durch die momentane Lage wird dies sichtbarer. Das ist das Positive daran. Denn wenn endlich der Appell der Lehrpersonen und Bildungsexpertinnen und Bildungsexperten wahrgenommen wird, können und müssen auch Maßnahmen gesetzt werden, um die Chancengleichheit zu verbessern.

Was sagt das Bildungsministerium?
„DIESE KINDER SOLLEN NICHT VERGESSEN WERDEN“
„Die Corona-Krise ist nicht die Zeit, schulischen Leistungsdruck zu Hause zu entfalten“, verkündete Bildungsminister Heinz Faßmann bei einer Pressekonferenz Ende März. Was Schülerinnen und Schüler aus einem schwächeren sozioökonomischem Umfeld anbelangt, sollen diese laut Faßmann „nicht vergessen werden.“ So sollen alle Schülerinnen und Schüler, die sich keinen eigenen Endgeräte zum Lernen leisten können, solche gratis von der Schule erhalten. Das Bildungsministerium ist im Gespräch mit verschiedenen Institutionen, die gebrauchte Geräte zur Verfügung stellen sollen. Auch sollen für Schulveranstaltungen, die nun wegen Covid19 nicht stattfinden, keine Kosten für die Eltern anfallen. Es gibt einen Härtefallfonds, der für die Stornierung von Reisen wie Skikursen und Sprachreisen verwendet werden soll. An den Bundesschulen werden die Kosten für Horte, Internate und ganztägige Schulangebote wegfallen, wenn diese nicht genutzt werden, so Faßmann. Diese Regelung gilt bis zum Ende des Semesters. Genauere Informationen dazu soll es nach Ostern geben.

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