Schlaf, Kindlein

10. Dezember 2013

Gegen Ende der 70er war jedes zweite Kind in Tiroler Säuglingsheimen ein Gastarbeiterkind. Die Eltern mussten es "freiwillig" oder unter Zwang in staatliche Obhut geben. Österreich hat es nicht gern gesehen, wenn Gastarbeiter hier Kinder bekamen.

Von Marina Delcheva und „Die 78er“ (Fotos)

 

Zoran, nennen wir ihn in dieser Geschichte so, kommt vor über drei Jahrzehnten körperlich und geistig schwer behindert in Tirol auf die Welt. Seine Eltern, zwei Gastarbeiter aus dem ehemaligen Jugoslawien, müssen arbeiten, Tag und Nacht. Die Familie hat weder Zeit noch Geld, sich um ein schwerbehindertes Kind zu kümmern. Deshalb kommt Zoran in ein Säuglingsheim in Tirol. Seine Eltern besuchen ihn anfangs, dann immer seltener. Er hat nur eine Heimpflegerin, deren Herz er irgendwie erobert und die ihn später adoptieren wird. Deutsch wird seine neue Muttersprache, die alte lernt er nie. Wahrscheinlich fährt er auch nicht die Verwandten „unten“ besuchen. Er könnte genauso gut Thomas oder Andreas heißen.

 

Zahlen im System

Er ist eines von hunderten Gastarbeiterbabys, die in den 1970ern und Anfang der 80er-Jahre in staatliche Obhut kommen. Allein im Säuglingsheim Axams in Tirol waren 228 der 484 aufgenommenen Säuglinge in den Jahren 1970 bis 1988 „Ausländerkinder“. Ihre Eltern stammen fast ausschließlich aus Ex-Jugoslawien, manchmal aus der Türkei. „1975 hatten sogar 44 Prozent der Kinder ausländische Eltern“, erzählt Dietmar Mutschlechner, Leiter des Kinderheimes in Axams. Ähnlich ist auch die Situation im damaligen Tiroler Säuglingsheim in Arzl. In Salzburg sollen Gastarbeiterkinder in den 80ern zumindest tagsüber in Krippen von Kinderheimen untergebracht worden sein, so eine ältere Heim-Mitarbeiterin.

 

Zu Rabeneltern gemacht

Wie viele Gastarbeiterkinder damals insgesamt ins Heim gekommen sind, ist unbekannt. Es gibt keine Studien dazu, oft auch keine Zahlen mehr. Das Thema wurde erstmals im Buch „Verwaltete Kindheit. Der österreichische Heimskandal“ von Georg Hönigsberger und Irmtraut Karlsson gestreift. Das Werk erzählt von Gewalt, Missständen und Missbrauch in österreichischen Kinderheimen.

 

Entgegen bisher veröffentlichter Berichte wurden die Säuglinge in der Regel nicht ihren ausländischen Eltern weggenommen. Das geht auch aus den Akten im Heim in Axams hervor. Die Eltern haben ihre Kinder oft selbst dem Staat überlassen und den Heimaufenthalt monatlich bezahlt – 2.000 Schilling bei einem Einkommen von 5.200, beispielsweise. Von Freiwilligkeit kann aber keine Rede sein. Die Psychologin Edith Kaslatter beschreibt 1980 in ihrer Dissertation am Rande die Situation von Gastarbeitereltern und die Umstände, unter welchen ihre Säuglinge in die Heime in Axams und Arzl kommen.

 

Bei der Einlieferung ist die Geschichte immer die gleiche: Aktennummer K4 – jugoslawisches Gastarbeiterehepaar; gesundes Neugeborenes; ein Monat alt bei Aufnahme im Heim; Eltern bezahlen den Heimaufenthalt und wollen das Kind später zu sich nehmen. E8 – türkisches Gastarbeiterehepaar; gesundes Neugeborenes; fünf Tage alt bei Heimeinlieferung; solange Eltern in Österreich arbeiten, bleibt das Kind im Heim; sie bezahlen den Heimaufenthalt. Oder: E4 – jugoslawisches Gastarbeiterehepaar; gesundes Neugeborenes; sechs Tage alt bei der Einlieferung ins Heim; Eltern bezahlen den Aufenthalt und werden das Kind später zu sich nehmen. In fast jeder Akte steht: „Die Eltern besuchen das Kind regelmäßig.“

 

Gastarbeitereltern blieb oft nur das Kinderheim als Unterbringungsmöglichkeit.

 

Harte Arbeit, miserable Wohnverhältnisse, soziale Ausgrenzung, geringer Lohn und null Hilfe vom Staat – so kann man in etwa die Situation von jungen Gastarbeiterfamilien in den 70ern zusammenfassen. (Siehe Sub-Geschichte unten) „Am Anfang habe ich zwei-drei Monate ohne einen freien Tag gearbeitet. Wie soll man da ein Kind großziehen? Als ich Jahre später meine damalige Chefin gefragt habe, warum sie mir das angetan hat, hat sie nur gesagt: ‚Geh, Puppal, sei ned nachtragend. Das ist doch lang her.‘“, erzählt Draga S. aus Salzburg.

 

Weinen beim Abschied

Im Gegensatz zu österreichischen Heimkindern, war ein Großteil der Gastarbeiterkinder nur kurz in staatlicher Obhut. „In der Regel waren sie sechs Monate bis eineinhalb Jahre bei uns“, sagt Mutschlechner. Das sei deutlich weniger als bei österreichischen Kindern. Die Eltern haben eine neue Wohnung gesucht, manchmal eine neue Arbeit und haben ihre Kinder, sobald es ging, wieder zu sich geholt. „Wir haben die Gastarbeitereltern damals lieber gehabt, weil sie sich um ihre Kinder gekümmert haben“, sagt eine pensionierte Pflegerin aus dem Säuglingsheim in Axams. Sie haben ihre Kinder regelmäßig besucht, sie haben ihnen Kleidung und Spielzeug mitgebracht, den Heimaufenthalt bezahlt und beim Abschied immer geweint. Manche Kinder sind aber jahrelang im Heim geblieben. Andere wurden von österreichischen Familien adoptiert.

 

Heim oder Verwandte in der Heimat – das war meist die einzige Option, die Gastarbeitereltern hatten, vor allem am Land. In den großen Städten gab es große Gastarbeitercommunitys. Es hat sich immer eine Nachbarin oder eine Schwester gefunden, die auf das Kind schaute. Außerdem gab es in der Stadt zumindest ein paar Krippen- und Kindergartenplätze. Am konservativen und katholisch geprägten Land waren die Familien damals aber oft die einzigen Gastarbeiter im Ort. Sie haben meist beim Arbeitgeber gewohnt. Es gab keine Kinderkrippe, kaum Kindergartenplätze. Das erklärt auch die hohe Anzahl von Säuglingen von Gastarbeitern in Tiroler Kinderheimen. In Wien soll es kaum Kinder von Gastarbeitern in staatlicher Obhut gegeben haben, meint eine Sprecherin des Amtes für Jugend und Familie. In den 70ern ist die österreichische oft Frau zu Hause geblieben, bei den Kindern. Nicht aber jene, die aus dem Ausland zum Arbeiten gekommen ist.

 

Kein Recht auf Kinder

Draga S. (Anm.: Name von der Redaktion geändert) kam in den frühen 80ern als Gastarbeiterin mit ihrem Mann nach Österreich. Sie hat in einem Gasthof in den Salzburger Alpen geputzt und Teller gewaschen. Irgendwann wurde sie schwanger. Sie hat bis kurz vor der Geburt gearbeitet. Als der Mutterschutz zu Ende war und ihr Arbeitgeber ungeduldig wurde, hat sie ihr wenige Wochen altes Kind nach Serbien zu Verwandten gebracht, damit es nicht ins Heim kommt. „Ich habe jeden Tag und jede Nacht geweint. Ich habe vor Kummer acht Kilogramm abgenommen“, erzählt sie. Nach ein paar Monaten hat sie ihr Kind wieder zurückgeholt und mit ihrem Mann in unterschiedlichen Schichten gearbeitet. So war immer jemand zu Hause, bis ihre Tochter einen Kindergartenplatz bekommen hat.

 

Das Bleiberecht war an das Arbeitsverhältnis gebunden – kein Job, kein Visum. Frauen waren doppelt benachteiligt. Wenn sie damals nicht mindestens 52 Wochen durchgehend in Österreich beschäftigt waren, hatten sie keinen Anspruch auf Karenz. Wenn sie schwanger wurden und kündigten, haben sie ihr Bleiberecht in Österreich verloren. Und wenn sie nach der Geburt doch einen Karenzanspruch hatten, haben ihn viele nicht genutzt – aus Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Deshalb haben manche Eltern ihre Kinder mit Ende des gesetzlichen Mutterschutzes ins Heim gebracht. Anderen wurden sie von der Jugendfürsorge weggenommen, weil die Wohnung zu klein war, das Badezimmer am Gang oder ein kleiner Gasherd die Küche ersetzt hat. Die Begründung: Das ist kein Umfeld, in dem man ein Kind großziehen kann.

 

Für jene Kinder, die sich noch an die Zeit im Heim erinnern können und länger dort waren, konnte die Trennung von den Eltern sehr traumatisierend sein. Sie haben manchmal wochenlang ihre Mutter nicht gesehen, eine einzige Pflegerin kümmerte sich um ein Dutzend Kinder. Laut Kaslatter waren die Säuglingsheime damals oft unterbesetzt. Die Kleinkinder und Babys wurden seltener in den Arm genommen und früh abgestillt. Wenn das Heim voll war, haben manche mit ihren Kinderbettchen am Gang geschlafen. Und ihr erstes Wort sprachen sie nicht in ihrer Muttersprache, sondern auf Deutsch.

 

Heim oder Heimat der Eltern. Viele Gastarbeiterkinder sind bei Verwandten aufgewachsen.

 

Heim statt Heimat

Manche wurden nach einem längeren Heimaufenthalt doch zu den Großeltern in die Heimat geschickt, wie ein damals fünfjähriger, türkischer Bub, erzählt die Psychologin Edith Kaslatter. „Das ist alles sehr traumatisierend für Kinder und nicht immer die beste Lösung. Sie sprechen die Sprache nicht richtig, weil sie ja vorher im Heim waren“, erklärt sie. „Meine Mutter hat mich mit 20 Tagen zu meiner Tante nach Serbien geschickt“, erzählt Sandra P., „das kann ich ihr bis heute nicht verzeihen. Für mich ist meine Tante meine Mutter.“ Sandra kam erst im Volksschulalter nach Österreich zurück. Dass ihre Eltern keine Wahl hatten, versteht sie, verzeihen kann sie aber nicht.

 

Heute wissen einige Erwachsene, deren Eltern als Gastarbeiter nach Österreich gekommen sind, nicht, dass sie einmal Heimkinder waren. Und wenn doch, wollen sie nicht öffentlich darüber sprechen. Ihre Eltern schämen sich bis heute, dass sie damals ihr Kind dem Staat übergeben haben. Das macht man am Balkan nicht. Andere, die im Heim geblieben sind und von österreichischen Familien adoptiert wurden, wissen nicht, dass sie einmal Ahmet oder Jelena geheißen haben. Dass ihre leiblichen Eltern ihnen früher „Taši, taši, tanana“, ein jugoslawisches Kinderlied, vorgesungen haben.  

 

Gastarbeiter in Österreich: Systemfehler

 „Es war vorgesehen, dass Arbeitskräfte kommen, keine Familien. Aus der Perspektive der österreichischen Regierung gab es keine Rahmenbedingungen für Gastarbeiterfamilien. Es war nicht vorgesehen, dass Gastarbeiter Kinder kriegen“, sagt Christoph Reinprecht, Professor für Soziologie an der Uni Wien. Er hat zahlreiche Studien zum Thema Gastarbeiter und ihrer Lebenssituation in Österreich veröffentlicht. Sie kamen, um zu arbeiten – am Bau, in der Gastronomie, in Industriebetrieben. Und wenn sie mit dem Arbeiten fertig waren, sollten sie gleich wieder in die Türkei oder nach Ex-Jugoslawien zurückkehren.

 

Im Durchschnitt haben Gastarbeiter 10,25 Stunden täglich gearbeitet, sechs Tage die Woche, so Kaslatter. Und da viele Arbeitgeber das Arbeitsrecht damals zu ihren Gunsten angewandt haben, kam es schon mal vor, dass die Menschen ein oder zwei Monate ohne einen freien Tag durcharbeiten mussten. Familienplanung war aus österreichischer Sicht nicht vorgesehen. Zudem hatten Frauen frühestens nach einem Jahr in Österreich ein Recht auf Karenz, aber nur, wenn sie durchgehend gearbeitet haben.

 

Alles exklusive

Auch die Wohnverhältnisse waren aus heutiger Sicht unzumutbar. Bis Ende der 1970er waren die Arbeitgeber für die Unterkunft der Gastarbeiter verantwortlich, erklärt Reinprecht. Die meisten waren in Arbeiterquartieren mit großen Schlafsälen untergebracht. Wenn ein Ehepaar doch ein eigenes Zimmer bekam, beispielsweise im Hotel, für welches es arbeitete, war es winzig, mit Bad am Gang und ohne Küche. Die miserablen Wohnverhältnisse wurden vom Jugendamt oft als Begründung für die Kindsabnahme genannt.

 

Buchtipp: Verwaltete Kindheit . Der Österreichische Heimskandal. Von Georg Hönigsberger und Irmtraut Karlsson. Karl Verlag. 26,90 Euro.

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