Über tote Kinder spricht man nicht

10. April 2020

Schuld, Scham und das Gefühl, versagt zu haben. Jede dritte Schwangerschaft endet mit einer Fehlgeburt, aber die Betroffenen fühlen sich allein. Denn über Fehlgeburten spricht man nicht am Esstisch. Drei Frauen erzählen von ihren verlorenen Kindern und brechen damit ein Tabu, das eigentlich schon längst keines mehr sein sollte.

Von Jara Majerus, Fotos: Zoe Opratko

Fehlgeburten, schwarz, Bett
Foto: Zoe Opratko

Als Amila* im Krankenhaus ankommt, ist es schon spät, fast acht Uhr abends. Sie sitzt in der Notaufnahme, neben ihr ihre Mutter und ihr Mann. Die anderen Frauen, die mit ihr im Wartezimmer sitzen, werden eine nach der anderen aufgerufen. Amila wartet. Die Krankenschwestern bieten ihr immer wieder Schmerzmittel an, aber sie möchte keine. Sie will nichts nehmen, trotz der unerträglichen Schmerzen. Als Amila vor einigen Stunden mit ihrer Freundin durch die Einkaufsstraßen Wiens schlenderte, war noch alles in Ordnung. Lediglich ein kleines bisschen Blut hatte sich in ihrer Unterhose gesammelt. Ihre Frauenärztin hatte Amila am Telefon erklärt, dass es sich dabei wahrscheinlich nur um eine Schmierblutung handle. Das sei normal während einer Schwangerschaft. Wenn Amila so darüber nachdenkt, war in den letzten acht Wochen jedoch nichts wirklich normal abgelaufen. Diese Schwangerschaft fühlte sich ganz anders an als ihre erste. Selbst jetzt, im dritten Schwangerschaftsmonat, verspürt sie keine klassischen Schwangerschaftsanzeichen. Ihr war all die Wochen lang nicht schlecht, sie musste sich morgens nicht übergeben. Ihre Ärztin riet ihr, sich keine Sorgen zu machen und diesen Rat hatte Amila auch acht Wochen lang befolgt. Aber jetzt, hier in dieser Notaufnahme und mit all dem Blut, das ihre Unterhose rot färbt, macht sie sich doch Sorgen.

Als die damals 23-Jahrige in der Notaufnahme sitzt, weiß sie noch nicht, dass sie ihr Kind bereits verloren hat. Amila hatte eine Fehlgeburt. Damit ist sie nicht eine von wenigen, sondern eine von vielen Frauen. „Jede zweite bis dritte Frau erleidet in ihrem Leben eine Fehlgeburt“, sagt Claudia Weinert. Sie ist die Obfrau des Vereins Regenbogen Wien, einer Selbsthilfegruppe für Eltern, die ihr Kind während oder kurz nach der Schwangerschaft verloren haben. Wie häufig Fehlgeburten sind, zeigt auch eine im Juli 2018 veröffentlichte US-Studie: Es sei sehr wahrscheinlich, dass Frauen in ihrem Leben mehr Aborte erleben, als sie Kinder lebend gebären. So habe in Dänemark beispielsweise jede Frau durchschnittlich 1,7 Kinder, erleide im Laufe ihres Lebens jedoch auch 2,1 Aborte.

Fehlgeburten, Fötus
Foto: Zoe Opratko

„ICH DACHTE EINFACH NICHT, DASS ES MIR PASSIEREN WÜRDE“

Endlich, nach zwei Stunden Wartezeit, wird Amila ins Zimmer der Frauenärztin gerufen. Ihr Mann bleibt im Wartezimmer, ihre Mutter begleitet sie. Amila nimmt auf der Liege Platz. Ihre Blutungen haben zugenommen und sind mittlerweile sehr stark. Sie spürt, wie die Ärztin den Ultraschallstab einführt. „Dann ging alles unglaublich schnell“, sagt Amila. „Die Ärztin hat nach einer Zange gegriffen, ich verspürte starke Schmerzen und das nächste, was ich sah, war, wie die Ärztin den Fötus in der Hand gehalten hat. Ich wusste gar nicht was da passiert.“ Dass ihr Kind nicht mehr in ihrem Bauch war, realisierte die junge Mutter erst später. Trotz des unguten Gefühls während der gesamten Schwangerschaft, hatte sie nicht mit einer Fehlgeburt gerechnet. Ähnlich wie Amila ging es auch Anna-Lena, als ihre Ärztin sie am 06. Marz 2020 bittet, die Beine von den Fußablagerungen des Frauenarztstuhls zu nehmen und sich richtig hinzusetzen. Sie könne den Herzschlag des Babys nicht mehr feststellen, meinte die Ärztin. Anna-Lena war in der neunten Woche schwanger. Es war ihre erste Schwangerschaft. „Ich wusste schon, dass Fehlgeburten passieren“, sagt sie, „aber ich dachte einfach nicht, dass mir das selbst passieren wurde.“ Beide Frauen, Amila und Anna-Lena, waren unter 30, als sie die Fehlgeburten erlitten. Zwar steigt das Risiko für Fehlgeburten mit dem Alter der Frauen, Aborte sind jedoch auch bei jungen Frauen keine Seltenheit. So ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau Mitte 20 eine Fehlgeburt erleidet, fast genauso hoch wie die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein lebendes Kind zur Welt bringt. Bei den Berechnungen dieser Zahlen wurden in der US-Studie auch jene Fehlgeburten miteingerechnet, die von den Frauen unbemerkt bleiben. 50 Prozent der Fehlgeburten finden zwischen der vierten und der fünften Schwangerschaftswoche statt. „Die Frauen denken dann oft, dass es sich lediglich um eine verspätete Monatsblutung handelt“, sagt Claudia Weinert. Wenn die Frauen zwischen der sechsten und der achten Schwangerschaftswoche sind, reduziert sich das Risiko für einen Abort auf ungefähr 18 Prozent. Ab der 17. Woche, also ungefähr ab dem sechsten Monat, beträgt die Wahrscheinlichkeit eine Fehlgeburt zu erleiden noch knapp 3 Prozent. Laut der US-Studie aus dem Jahr 2018 kann eine Frau, die eine große Familie haben möchte, Aborte nicht vermeiden.

Fehlgeburt, Pink, Frau und Bett
Foto: Zoe Opratko

NACH DER NARKOSE KOMMT DIE TRAUER

Gabriele wollte immer eine große Familie. Vier Kinder, das war der Traum, da waren sie und ihr Partner sich einig. Als die Tirolerin 34 Jahre alt ist, ist sie bereits zweifache Mutter. Ein Mädchen und einen kleinen Jungen hat Gabriele zur Welt gebracht. Im April 2002 ist sie erneut schwanger und erleidet eine Fehlgeburt. Sie war damals im fünften Monat. „Ich musste für die Ausschabung im Krankenhaus übernachten. Ich war alleine im Zimmer und hab die ganze Nacht geweint. Das ist so ein komisches Gefühl. Du bist schwanger, aber eigentlich bist du nicht mehr schwanger“, erinnert sich Gabriele. Heute ist sie 51 Jahre alt und ihre Fehlgeburt ist knapp zwanzig Jahre her. Trotzdem erinnert sie sich an fast alles. „Das ist ein Erlebnis, das sich einfach einbrennt“, sagt sie. Nach der Operation am nächsten Morgen fühlt sie sich leer. Nicht nur das Kind war weg, sondern auch alles andere. Die Vorfreude, die Pläne. „Ich habe mir gewünscht, nichts zu spüren“, sagt Gabriele. Sie fühlte sich wie eine Versagerin. „Jeden Tag werden Kinder geboren, das ist so etwas Alltägliches und ich habe das nicht hinbekommen“. Auch im Krankenhauszimmer von Amila und Anna-Lena schlichen sich Schuldgefühle ein: „Ich habe mich ständig gefragt, ob ich etwas falsch gemacht habe. Ob ich vielleicht irgendwo angestoßen bin und das Kind deshalb verloren habe“, sagt Amila. „So etwas passiert ja nicht einfach so. Nichts passiert einfach so, habe ich mir gedacht“. So wie Gabriele, Amila und Anna-Lena geht es vielen Frauen. Sie suchen die Fehler bei sich und haben das Gefühl, dass Fehlgeburten Einzelschicksale sind. „Man fühlt sich alleine. In dem Moment, wo dir das passiert, denkst du, dass du eine von ganz wenigen bist“, sagt Gabriele. Zu dem Gefühl, alleine zu sein, kommt die Angst vor der Zukunft: „Was, wenn ich nie mehr schwanger werden kann? Was, wenn ich noch eine Fehlgeburt habe?“. Diese Fragen stellte sich jede der drei Frauen. Als Gabriele und Amila über diese Angst sprechen, kommen beide zum gleichen Schluss: Sie sind froh, dass es nicht ihre erste Schwangerschaft war, die mit einer Fehlgeburt endete. „Trotz all der Fragen und der Unsicherheit hatte ich Hoffnung, denn ich hatte ja schon ein gesundes Kind“, sagt Amila. Wenn sie ihr erstes Kind verloren hätte, sagt sie, hätte sie sich vielleicht Hilfe gesucht. So, wie es Anna-Lena tat. Anna-Lena suchte nach ihrer Fehlgeburt Kontakt zu einer Sterbeamme, die sie und ihren Partner in ihrer Trauer begleitet. Außerdem trat sie einer Facebook-Gruppe bei. „Man liest, dass es anderen auch so geht wie einem selbst. Man kann Fragen stellen und bekommt Mut zugesprochen. Das hilft“, sagt sie.

Fehlgeburt, blau, Schnuller
Foto: Zoe Opratko

DAS TABU DER TOTEN KINDER

Dass die Frauen Schuldgefühle haben und sich mit ihrem Schicksalsschlag alleine fühlen, liegt auch daran, dass über Fehlgeburten unter vorgehobener Hand gesprochen wird. „Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass sie eine Fehlgeburt hatte und das hat sich angefühlt wie ein Geheimnis. Wie etwas, das außer uns niemand wissen muss. Das ist schon lange her, damals konnte man wirklich nicht offen darüber sprechen“, sagt Gabriele. Zwischen Gabrieles Fehlgeburt und denen von Amila und Anna-Lena liegen knapp zwei Jahrzehnte. In den letzten Jahren habe sich im Umgang mit Fehlgeburten viel getan, sagt Claudia Weinert vom Verein Regenbogen. „Einerseits sprechen wir heutzutage offener über Probleme und andererseits haben sich mittlerweile ja auch einige Prominente geoutet – wie zum Beispiel Mark Zuckerberg.“ Trotzdem seien Fehlgeburten nach wie vor ein Tabuthema.

Während ihres Aufenthalts im Krankenhaus sei das Wort ‚Fehlgeburt‘ nie gefallen, sagt Amila. Weder bevor die Ärztin den Fötus entfernt hat noch während des anschließenden Gesprächs. Erst auf dem Entlassungsbrief des Krankenhauses habe Amila das Wort dann gelesen. In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hatte. Ihr hätte es geholfen, wenn ihre Fehlgeburt von Anfang an beim Namen genannt geworden wäre, sagt die Wienerin. „Natürlich ist es schlimm und keine einfache Sache, aber für mich wäre das besser gewesen. Dann hätte ich auch besser darüber reden können.“ Und Amila musste über ihre Fehlgeburt sprechen, ob sie wollte oder nicht. „Meine Eltern stammen beide aus Bosnien und bei uns in der Community ist das so, dass dich nach jedem Krankenhausbesuch sogar der Großcousin anruft. Alle wollten wissen, was passiert ist und wieso es passiert ist. Ich konnte diese blöden Fragen ja selbst nicht beantworten“, sagt sie. „Ich wusste selbst nicht, was passiert war.“ Amila sprach nur mit ihrer engen Familie und ihren Freundinnen offen über ihren Abort. Viele von ihnen erzählten ihr, dass auch sie eine Fehlgeburt hatten, sagt Amila. Trotzdem ist sie der Meinung, dass es kein Thema ist, über das man einfach reden kann: „Wenn ich meine Fehlgeburt nicht angesprochen hätte, dann hätte mir auch keine andere Frau von ihrer Fehlgeburt erzählt. Und ich würde es auch nicht einfach so in die Welt hinausposaunen.“ Auch Gabriele wollte ihren Abort nicht an die große Glocke hängen: „Wenn ich mit anderen über meine Fehlgeburt gesprochen habe, war da auch immer sofort das Gefühl des Versagens. Es war so, als ob ich ein tolles Bild malen wollte und das Bild dann einfach scheiße geworden ist“, erinnert sie sich.

Fehlgeburt, Pink, Bär
Foto: Zoe Opratko

Anna-Lena wollte ihr Erlebnis aber mit der Welt teilen. Die 28-jahrige Deutsche schrieb auf ihren Social Media Kanälen von ihrer Fehlgeburt. Sie postete ein Bild auf Instagram, zu dem sie schrieb, dass sie ihr Kind in der neunten Schwangerschaftswoche verloren habe. Schnell spürte sie, dass Fehlgeburten auch heute noch tabuisiert sind: „Einer hat mir geschrieben, dass ich sowas doch nicht öffentlich machen könne und man sowas einfach nicht mache und ein anderer Bekannter meinte, dass ich mein Sternenkind** ausnutzen wurde, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Das hat mich wirklich sehr verletzt“, sagt sie. Den Beitrag hat Anna-Lena anschließend gelöscht. „Wenn eine Frau das Bedürfnis hat, darüber zu sprechen, dann sollte sie das auch tun“, sagt Gabriele. „Es gibt keinen Grund dafür, dass Fehlgeburten ein Tabu sind. Es ist nichts, was man verstecken müsste und nichts wofür man sich selbst verstecken müsste.“ Dass nicht genug über Fehlgeburten gesprochen wird, erklären sich sowohl Anna-Lena als auch Gabriele damit, dass es sich bei Fehlgeburten um ein schmerzhaftes und unangenehmes Thema handelt. „Ich erwische mich noch manchmal dabei, wie ich gerne über meinen Bauch streicheln würde“, sagt Anna-Lena. „Aber da ist nichts mehr. Natürlich macht mich das sehr traurig, aber der Tod gehört ja auch zum Leben und das wird einfach alles totgeschwiegen. Das finde ich nicht richtig.“ Auch Claudia Weinert ist der Meinung, dass Fehlgeburten präsenter in der Öffentlichkeit sein müssten: „Es muss klar gezeigt werden: Ja, das gibt es.“

Amina ist heute 26 Jahre alt und hat zwei gesunde Kinder. Einen Sohn und eine kleine Tochter. Als sie im Februar 2018 ihre Fehlgeburt erlitt, habe sie viel Unterstützung von ihrer Familie und ihrem Mann bekommen. „Es gibt aber auch Frauen, die kein so unterstützendes Umfeld haben“, sagt sie. Diese Frauen müsse man schon bei der Entlassung im Krankenhaus auffangen und ihnen beispielsweise Flyer für Selbsthilfegruppen in die Hand drücken, meint Amila. Damit alle Frauen, die über ihre Erlebnisse sprechen wollen, dies auch tun können und Fehlgeburten kein Tabuthema bleiben.

Fehlgeburt, Kinderwagen
Foto: Zoe Opratko

* Name von der Redaktion geändert

** Als Sternenkinder werden jene Kinder bezeichnet, die während, bei odernach der Geburt verstorben sind.

Jede zweite bis dritte Frau erleidet in ihrem Leben eine Fehlgeburt. Dieses Erlebnis müssen die Frauen und ihre Partner jedoch nicht allein verarbeiten. So gibt es in Wien beispielsweise den Verein Regenbogen. Die Organisatoren des Vereins wollen den betroffenen Eltern unter anderem durch Gruppentreffen Halt bieten. Genauere Informationen zum Verein und den Gruppentreffen unter https://www.wien.gv.at/sozialinfo/content/de/10/InstitutionDetail.do?it_1=2099205.

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