Wie vom Erdboden verschluckt

14. April 2021

Seit Februar diesen Jahres befindet sich der Wiener Student Ahmed Samir Santawy in seiner Heimat Ägypten in Untersuchungshaft. Ohne Aussicht auf einen fairen Prozess. Santawy ist nur einer von tausenden friedvollen Menschen, die zur Zielscheibe von repressiver Politik unter Präsident Sisi wurden. BIBER sprach mit jenen Angehörigen und Freunden des Masterstudenten, die unermüdlich für seine Freilassung kämpfen.

Text: Nada El-Azar, Foto: Zoe Opratko

Ahmed Samir Santawy
Foto: Zoe Opratko

 

Souheila kam gegen Mittag aus Gent in Alexandria an. Es war der 1. Februar 2021. In der ägyptischen Metropole am Mittelmeer sollte sie ihren Verlobten Ahmed nach Monaten der Fernbeziehung endlich wieder in die Arme schließen. Sie rief Ahmed an. Er hob nicht ab. Immer wieder versuchte sie, ihn zu erreichen. Keine Antwort. Also stieg Souheila alleine in den Zug von Alexandria nach Kairo, wo ein gemeinsamer Familienbesuch geplant war. Angekommen in der Wohnung von Ahmeds Eltern machte sich Sorge breit. Ahmed war von einem vermeintlich harmlosen Termin auf der Polizeistation nicht zurückgekommen. Er hätte nur ein paar Fragen beantworten sollen, doch bis in den Abend hinein fehlte jedes Lebenszeichen. Sein Vater ging schlussendlich zur Polizei und fragte nach ihm. Doch die Beamten entgegneten ihm nur, dass ihnen niemand mit dem Namen Ahmed Samir Santawy bekannt sei. In dieser Nacht kehrte Ahmed nicht heim, und auch in den folgenden Tagen fehlte jede Spur vom 29-Jährigen. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Erst nach fünf Tagen gab es die Gewissheit: Ahmed war tatsächlich verhaftet worden und befand sich seither in Untersuchungshaft. „Es war ein so merkwürdiges Gefühl“, erinnert sich Souheila, „ich war zum ersten Mal seit anderthalb Jahren wieder in Ägypten und verbrachte die Zeit nicht an Ahmeds Seite, sondern mit seiner Familie, wartend. Wir warteten auf seine Freilassung aus dem Gefängnis.“

INTERNATIONALE AUFMERKSAMKEIT

Souheila erzählt mir dies bei einem Zoom-Gespräch zwischen Wien und dem belgischen Gent. Zu diesem Zeitpunkt war Ahmed schon seit fast zwei Monaten in Untersuchungshaft, ohne Anklage oder Aussichten auf einen Prozess. Die Belgierin mit türkischen Wurzeln kann die Geschehnisse der letzten Wochen so detailliert erzählen, als hätte sie einen Kalender vor ihrem geistigen Auge. Ich wurde auf den Fall Ahmed zunächst über Facebook aufmerksam. Eine Bekannte von mir nahm an der Kundgebung teil, die Mitte Februar vor der ägyptischen Botschaft stattfand und bei der Demonstranten Ahmeds Freilassung forderten. Im Text zum Protestaufruf stand, ein Student, der an der Wiener Central European University (CEU) studiert und im Rahmen seiner Masterarbeit zum Thema Abtreibungsrechte in Ägypten geforscht hätte, wäre überraschend in Kairo festgenommen worden. In den österreichischen, wie internationalen Medien wurde der Fall sehr breit aufgegriffen. Ich wollte wissen: Was für ein Mensch ist Ahmed? Und warum wurde er verhaftet? Souheilas Blick schweift in die Ferne, wenn sie an ihre Zeit mit Ahmed in Wien denkt. „Wir waren überall in der Stadt spazieren, haben Museen besucht und Ausstellungen gesehen. Unser Lieblingsort war das Café Central in der Herrengasse. Wir hatten es mit diversen Shishabars versucht, jedoch fand Ahmed keine von ihnen gut genug“, lacht Souheila. Sie lernte Ahmed im Jahr 2009 an der Universität Kairo kennen. Sie interessierten sich beide für arabische Literatur, jedoch vergingen Jahre, bis aus ihrer Freundschaft im Jahr 2017 allmählich eine Liebesbeziehung wurde. Drei Mal jährlich flog Souheila nach Ägypten, um mit Ahmed sein zu können. 2019 begann er an der CEU in Wien Kultur- und Sozialanthropologie im Master zu studieren. Er interessierte sich besonders für Menschenrechte, im Speziellen für die reproduktiven Rechte von Frauen und für LGBTQ-Rechte. Traurig und doch unbeirrt wirkt Souheila vor ihrer Webcam. Sie kann mir nicht beantworten, ob Ahmed zu unvorsichtig auf Facebook gewesen sein könnte. „Ahmed ist manchmal wie ein kleines Kind. Er denkt niemals an ein Morgen, er lebt von einem Tag in den nächsten“, beschreibt die Arabischlehrerin ihren Freund. Der 31-Jährigen entkommt stets ein kleines Lächeln, wenn sie seinen Namen sagt.

Ahmed Samir Santawy und Souheila
Foto: privat

 

„ER WAR EIN WENIG ZU NAIV.“

Ähnlich spricht auch Ahmeds beste Freundin Rawda über ihn, mit der ich auch ein Gespräch über Zoom führte. „Es ist schwer, Ahmed in Worte zu fassen“, sagt sie. Die 23-jährige Studentin sitzt dabei vor ihrem Laptop in einem Zimmer irgendwo in der irischen Hauptstadt Dublin und kommt ins Grübeln. „Er ist ein sehr lebenslustiger Mensch“, fährt sie fort, „er liebte es, zu reisen und neue Leute kennenzulernen. Deswegen ging er auch nach Europa.“ Rawda lernte Ahmed beiden im Jahr 2017 während des Studiums in Kairo kennen und sie studierten später auch gemeinsam an der Central European University in Budapest, bevor er nach Wien zog. Zuletzt hatten sie Ende Jänner über Facebook Kontakt. Ahmed sagte ihr damals, dass er seinen Heimatbesuch in Ägypten noch etwas verlängern wolle. Es gefiel ihm, zurück bei seiner Familie zu sein, und er traf viele Freunde, die er lange nicht mehr gesehen hatte. „Es war ehrlich gesagt ein wenig naiv, dass er nichts gelöscht hat, bevor er nach Kairo ging. Aber das war seine Persönlichkeit, er hatte keine Angst vor nichts. Ich würde dieselben Fehler nicht machen“, gibt Rawda enttäuscht zu. Ahmed soll auf Facebook sehr aktiv gewesen sein. „Er schrieb über alles Mögliche und teilte seine Meinung zu aktuellen Themen zu Frauenrechten und #MeToo.“ Auch Rawda interessiert sich, ähnlich wie Ahmed, für Menschenrechte und forscht intensiv zu Themen wie fairen Rechtsbeiständen für Frauen. Sie ist auch gebürtige Ägypterin. Über Stipendien hatte sie die Möglichkeit bekommen, im Ausland zu studieren. Der Arabische Frühling von 2011 hat ihre Perspektiven und ihre Lebenseinstellung nachhaltig geprägt. „Die Revolution passierte, als ich 13 Jahre alt war. Wir wuchsen mit dem Bild auf, alles verändern zu können, dass sich das Land in eine neue, bessere Richtung entwickeln könnte. Weg von der Korruption, weg von der Polizeigewalt. Scheinbar haben wir aber alles verloren, wofür in der Revolution gekämpft wurde. Menschen werden willkürlich verhaftet und mit absurden Anschuldigungen konfrontiert“, sagt die 23-Jährige. Nach einer Reihe im Jahr 2018 neu verabschiedeter Gesetze werden in Ägypten Inhalte auf Social Media-Accounts verstärkt reguliert. Das offizielle Ziel der neuen Regelungen war, Fake-News besser unterbinden zu können. Jedoch hat die Kontrolle ein erschreckendes Ausmaß angenommen. „Die Polizei hält Menschen auf der Straße an und kontrolliert deren Handys. Alles, was regimekritisch ist, kann gegen einen verwendet werden. Tausende Webseiten von NGOs und ähnlichen Institutionen wurden blockiert“, so Rawda.

Ahmed Samir Santawy
Foto: privat

TAUSENDE POLITISCHE GEFANGENE

Seit dem 6. Februar sitzt Ahmed im Liman Tora Gefängnis, das sich einige Stunden entfernt von Kairo am Nil befindet. Es ist in Ägypten bekannt, dass viele politische Gefangene in diesem Hochsicherheitsgefängnis festgehalten werden. Internationalen Menschenrechtsorganisationen zufolge sollen zwischen 40.000 und 60.000 politische Gefangene in Ägypten inhaftiert sein. Viele von ihnen befinden sich in Untersuchungshaft, wie Ahmed. Laut Angaben der Human Rights Watch hat sich die Lage im Land seit dem Amtsantritt von Präsident Abdel Fattah as-Sisi drastisch verschlechtert. Beamte der ägyptischen Staatssicherheit sollen regelmäßig Menschenrechtsverletzungen begehen – auch Folter und außergerichtliche Exekutionen sollen keine Seltenheit sein. Nach 17 Tagen in Einzelhaft wurde Ahmed von Behörden der ägyptischen Staatssicherheit befragt. Er wurde in drei Punkten beschuldigt: Mitgliedschaft bei einer terroristischen Gruppierung, Verbreitung von Falschmeldungen und Benützung eines Accounts im Internet zur Verbreitung dieser Falschmeldungen. Nach jener Befragung vom wurde ein weiterer Punkt hinzugefügt: Finanzierung einer terroristischen Gruppierung. Ahmed soll über den letzten Punkt im Befragungszimmer sogar laut gelacht haben. „Ich bin mit einem Transitflug über die Türkei nach Ägypten gekommen, weil ich als Student keine 1000 Euro für einen Direktflug zahlen konnte. Wie sollte ich denn dann eine Terrororganisation finanzieren?“, soll er laut seiner Familie gesagt haben. „Typisch ägyptisch!“, kommentierte Souheila dies. Auch wenn die Lage hoffnungslos erschien, hatte Ahmed seinen Humor nicht verloren. Der CEU-Student soll insgesamt fast einen Monat in Einzelhaft verbracht haben und klagte über seine kalte Gefängniszelle. Das bestätigen Berichte von NGOs, sowie Rawda und Souheila. Ahmed befand sich vom 6. Februar bis zum 2. März in Einzelhaft. In dieser Zeit blieben ihm sowohl Besuch als auch Geld verwehrt, was auch nach ägyptischem Recht gesetzeswidrig ist. In der Regel sollten Inhaftierte nach elf Tagen in U-Haft Zugang zu Besuch und Geld mitteln bekommen. Seine beste Freundin Rawda kauerte förmlich vor ihrem Laptop, als sie versuchte, sich in Ahmeds Lage in Einzelhaft zu versetzen. „Als ich hörte, dass Ahmed verhaftet worden war dachte ich mir: Wie soll er denn in einer Zelle bleiben? Er hält es für gewöhnlich keine drei Tage an einem Ort aus. Das würde ihn buchstäblich verrückt machen Ich kann mir nicht vorstellen, wie er den ganzen Tag an diese Wände gestarrt haben kann“, sagte sie bestürzt. Sie sprach auch mit Ahmeds Bruder Abdelrahman. „Für seine Familie ist das alles ein Schock. Niemand hatte sich jemals ausmalen können, dass Ahmed so etwas zustoßen könnte. Er war kurz davor, seinen Masterabschluss zu machen. Er strebte eine akademische Karriere an, wollte noch einen PhD machen. Das alles ist auf einen Schlag weggerissen worden“, sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullovers über das Gesicht. Seit Ahmeds Inhaftierung kämpft Rawda als Teil eines Kampagnenteams der CEU für seine Freilassung.

Ahmeds Studienkollegin Gabriela
Foto: Zoe Opratko

KEIN STATEMENT VON ÄGYPTISCHER BOTSCHAFT

Auf einer Amnesty-Kundgebung vor der Kulturabteilung der ägyptischen Botschaft in Wien lerne ich Ahmeds Studienkollegin Gabriela kennen. Der Protest war einer von vielen, die weltweit am 10. April auch in den Städten Tunis, Beirut, Gent, Sofa, Berlin und Belgrad stattgefunden haben, bei der Menschen erneut auf seine Freilassung pochten. Die Brasilianerin ist ebenfalls Teil des Kampagnenteams, kennt Ahmed seit Beginn des Masterstudiums und ist seine Nachbarin im Studentenheim. „Er ist ein so hilfsbereiter, gutmütiger Mensch“, so Gabriela. Auf Facebook waren die beiden auch befreundet, aber Ahmeds Profil ist mittlerweile deaktiviert. „An der Uni wissen alle über Ahmed Bescheid, es gehen viele Solidaritätsmails herum“, so die 28-Jährige. Die ägyptische Botschaft in Wien hat auf meine Anfrage kein Statement zu Ahmeds Inhaftierung oder den Demonstrationen abgegeben. Jedoch ist die Botschaft, laut Aussage einer Amnesty-Aktivistin, dazu verpflichtet, der ägyptischen Regierung zu melden, wenn international Proteste vor ihren Toren geschehen. Ahmed Samir Santawy ist nicht der einzige internationale Student, der sich in Gewahrsam der ägyptischen Behörden befindet. Auch sein Bekannter Patrick George Zaki, ein Kopte und Student der Universität Bologna, befindet sich schon ähnlich lange in Haft, wegen ähnlicher Anschuldigungen. Berichten zufolge soll Patrick bei seiner Befragung gefoltert worden sein. Sowohl Rawda als auch Souheila bestätigen, dass auch Ahmed nicht von physischer Gewalt durch die Polizei verschont geblieben sein soll. Beamte sollen ihm schon während seines ersten Verhörs bei der Polizei ins Gesicht geschlagen und ihm in den Bauch getreten haben. Als Ahmeds Mutter ihn kurz vor Ende seiner Zeit in Einzelhaft für 20 Minuten besuchen durfte, passierte dies nur unter strenger Aufsicht von Gefängniswärtern. Freisprechen konnte Ahmed über die Umstände während seiner Einzelhaft mit ihr also nicht. Seine Lage soll sich jedoch seit seiner Überführung in eine andere Gefängniszelle, die er sich mit einem weiteren Häftling teilt, laut Berichten der Angehörigen gebessert haben. Mit dem Geld, das ihm seine Familie schickt, kann er sich in der Kantine des Gefängnisses adäquate Mahlzeiten kaufen, und auch Kleidung soll er erhalten haben. Für Souheila war das eine kleine Erleichterung. „Er hatte einen ganzen Monat nur jenes weiße T-Shirt an, das er zum Termin auf der Polizeistation trug“, sagt sie.

Seit dem 6. Februar 2021 sitzt Ahmed im Liman Tora Gefängnis
Foto: Khaled Desouki

„DIE ANSCHULDIGUNGEN SIND ABSURD.“

Für Michael Ignatieff, Direktor der Central European University, ist die Inhaftierung seines Studenten ein alarmierendes Einschüchterungsmanöver. „Seit Ahmeds Inhaftierung in Kairo haben wir eng mit den österreichischen und amerikanischen Behörden zusammengearbeitet“, berichtet er, „und es ist sehr wichtig, dass der Fall Ahmed Santawy von österreichischen und amerikanischen Botschaftern auf der höchsten Ebene des ägyptischen Staates zur Sprache gebracht wurde.“ Amerikanische Behörden seien deshalb involviert, weil die CEU in New York akkreditiert ist und amerikanische Abschlüsse vergibt. Eine der größten Schwierigkeiten sieht der CEU-Direktor in der Tatsache, dass Ahmed ein ägyptischer Staatsbürger ist, und deshalb die ägyptische Regierung seine Haft als nationale Angelegenheit handhabt. Trotzdem sieht er es in seiner Verantwortung, weiter Ahmeds Freilassung voranzutreiben. Dass der 29-Jährige beschuldigt wurde, Mitglied einer terroristischen Organisation zu sein, hält er für absurd. Zwar wurde nicht näher ausgeführt, um welche Terrororganisation es sich handeln würde, jedoch versichert Ignatieff, dass Ahmed keinerlei Verbindungen zu irgendeiner islamischfundamentalistischen Gruppe gepflegt habe oder pflegen würde. „Ich denke, dies ist eindeutig ein Versuch, nicht nur diesen ägyptischen Studenten, sondern alle ägyptischen Studenten einzuschüchtern. Unsere Universität heißt junge Menschen aus 120 Ländern willkommen, und viele von ihnen kommen aus Staaten mit schwierigen Regimen. Und ich bin sehr besorgt darüber, dass dieser Fall nicht nur für ägyptische Studenten, sondern auch für ausländische Studenten in Ägypten auf ganzer Linie eine abschreckende Wirkung haben könnte. Sie werden keine einzige Sache auf Facebook, Twitter und anderen sozialen Medien veröffentlichen wollen. Und dies ist in meinen Augen eine Verletzung ihres persönlichen Rechts auf Freiheit.“

Ägypter in Haft
Foto: Zoe Opratko

„AHMED LIEBT ÄGYPTEN ÜBER ALLES.“

Mit Ahmeds Partnerin Souheila sprach der CEU-Direktor auch persönlich. In ihren Augen tut die Universität aber noch längst nicht genug, um Ahmed zu helfen. „Ich wünschte, die Uni würde mehr Druck auf die Regierung ausüben. Ahmed lebt in Europa und sollte Rechte haben. Die Verhandlungen sollten mit einem viel strengeren Tonfall ablaufen, aber intakte Beziehungen zu Ägypten scheinen offenbar wichtiger“, so die Arabischlehrerin. Auch sollte Österreichs Bundesregierung ihrer Meinung nach schärfer mit Ägypten verhandeln und Sanktionen ankündigen. Seit November 2020 hat Souheila Ahmed nicht mehr persönlich gesehen. Als sie in Kairo war, durften nur verwandte Familienmitglieder Besuche im Gefängnis abstatten. Die beiden sind lediglich islamisch verlobt und wollten eigentlich bald heiraten. Einen Brief, den sie an Ahmed verfasst hat, durfte sein Vater bei seinem letzten Treffen nicht in den Besuchsraum mitnehmen. Souheila fragt sich bis heute, ob Ahmed jemals verhaftet worden wäre, wäre er wie geplant im Jänner nach Österreich zurückgekommen. Ahmed liebt Ägypten über alles. Das erzählten mir Rawda und Souheila unabhängig voneinander. Er war stets der festen Überzeugung, dass er eines Tages, wo auch immer es ihn hin verschlagen haben könnte, für immer nach Ägypten zurückkehren würde. Doch was sind nun die Perspektiven für den 29-jährigen Masterstudenten, sollte er aus der Haft entlassen werden? Für Rawda gibt es zwei Szenarien. „Entweder darf Ahmed Ägypten verlassen und dafür nie wieder zurückkehren. Oder er bekommt ein Ausreiseverbot und würde niemals richtig in Freiheit leben und arbeiten können. Beide Möglichkeiten sind schrecklich, wenn man bedenkt, wie sehr Ahmed an Ägypten hängt. Er würde das wahrscheinlich nur schwer ertragen können“, so die 28-Jährige. Sie kann nur spekulieren, was genau an Ahmed in den Augen der ägyptischen Regierung so bedrohlich sein könnte. „Niemand im Westen soll über die Situation in Ägypten Bescheid wissen. Es ist ein Land, in dem ein Großteil der Frauen sich mit sexueller Gewalt konfrontiert sieht. Menschen wie Ahmed, die zu solchen Themen forschen, sind in Sisis Regime eine Bedrohung.“ Rawda fügt hinzu, dass man gesellschaftlichen Aufruhr mit allen Mitteln zu unterbinden versucht. Aber sie wird weiterhin versuchen, möglichst viel Aufmerksamkeit auf die Entlassung ihres Freundes Ahmed zu richten. Weltweit sollen Proteste stattfinden, bis etwas passiert. Dafür wird sie kämpfen.

 

„DRUCK AUS DEM AUSLAND IST AHMEDS EINZIGE HOFFNUNG.“
Karim El-Gawhary ist Nahostkorrespondent und leitet seit 2004 das ORF-Nahostbüro in Kairo. Auch er berichtete über den Fall Ahmed Santawy und weiß aus erster Hand, wie es um politische Gefangene in Kairo steht.
Karim El-Gawhary ist Nahostkorrespondent
Foto: Manfred Weis
BIBER: Wie wird in Ägypten über den Fall Ahmed Santawy berichtet?
KARIM EL-GAWHARY: Eigentlich null. Die unabhängige Nachrichtenplattform „MadaMasr“ hat über Ahmed Santawy geschrieben, diese ist aber in Ägypten blockiert. Sonst ist es in den Medien hier zu Lande still um den Fall. Sehr viele von ihnen sitzen dort ohne Anklage, wie Ahmed. Die Anwälte können in diesen Fällen wenig tun, weil es nie einen Prozess gab.
Was ist die Rechtsgrundlage für Ahmeds Inhaftierung?
Ahmed sitzt momentan in Untersuchungshaft. Diese kann nach ägyptischem Recht alle 15 Tage verlängert werden, auf bis zu zwei Jahre. Nachdem diese zwei Jahre abgelaufen sind, passiert es nicht selten, dass ein Fall in einen neuen Fall gesteckt wird – und die Untersuchungshaft so fortgesetzt werden kann. Die größte Chance, wieder freizukommen, haben prominente Fälle. So wie es beim Menschenrechtler Gasser Abdel Razek und zwei weiteren Inhaftierten gewesen ist, die nach internationalem Druck freigelassen wurden. Ich denke, dass Ahmeds einzige Hoffnung Druck aus dem Ausland ist. Er hat Glück, dass der Direktor seiner Uni gut vernetzt ist.
Ahmed beschäftigte sich mit dem Thema Abtreibung in Ägypten. Ist das der Grund für seine Haft?
Ich bin mir nicht sicher, ob man die Anschuldigungen tatsächlich auf Ahmeds Forschungsarbeit beziehen kann. Dafür sind sie zu vage formuliert. Wir wissen oft überhaupt nicht, wo die roten Linien sind. Es gibt Menschen, die mehr kritische Dinge als Ahmed auf Facebook posten und nicht verhaftet werden, so wie jene, die weniger als er posten und trotzdem verhaftet werden. Das lässt sich nicht immer mit Logik erschließen.
Stimmt es, dass die Polizei willkürlich Mobiltelefone kontrollieren kann?
Das ist eine Methode, die die Polizei seit etwa zwei Jahren anwendet. Sie halten Leute auf der Straße an und fordern sie auf, ihr Handy zu entsperren. Tut man das nicht, kann man ebenso mitgenommen werden. Sie checken konsequent deine Fotos und Social Media. Finden sie etwas, kommt man mit.
Was haben arabische Autokratien seit der Revolution von 2011 gelernt?
Sie lassen keinerlei politischen Spielraum zu, in dem sich irgendetwas entwickeln könnte, was ihnen zum Verhängnis wird. Man darf sich nicht versammeln, nicht organisieren. Gleichzeitig wächst die Unzufriedenheit in der Bevölkerung – und das nicht wegen der politischen Lage, sondern vielmehr der sozialen Lage. Den Leuten geht’s einfach schlecht. Ein Drittel der Bevölkerung in Ägypten lebt unter der Armutsgrenze von 1,30 Euro am Tag. Vielerorts auf der Welt hat sich die Schere zwischen arm und reich verkleinert. Nur in der arabischen Welt nicht. Da ist in den letzten 10 Jahren der Anteil an Menschen, der in extremer Armut lebt, angewachsen. Viele stehen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht mit dem Rücken zur Wand. Und diesem Frust können sie keinen Raum geben. Auf Dauer ist das natürlich eine sehr gefährliche Sache. Man kann bis zu einem gewissen Punkt mit Repressionen Friedhofsruhe schaffen. Das ist aber nicht nachhaltig.

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