"Wir müssen im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken" - die Wütenden

16. Februar 2022

Warum radikalisieren sich Jugendliche, die in Österreich aufwachsen?  Fabian Reicher und Anja Melzer geben in ihrem Buch tiefe Einblicke in den Alltag radikalisierter Jugendlicher, die Propaganda des sogenannten Islamischen Staates und den langwierigen Prozess der Deradikalisierung. Diese beschreiben sie anhand der Geschichten von Dzamal, Outis, Adam, Sebastian und Aslan – fünf Biographien radikalisierter junger Männer, die einst tief in der österreichischen dschihadistischen Szene drin waren. Über Propaganda-Mechanismen, Freundschaften, Ungerechtigkeit, Rückschläge, Wut, politisches Versagen und vor allem über den falschen Umgang mit Deradikalisierung: „Die Wütenden – warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken müssen“. 

Interview mit Fabian Reicher, Autor des Buches und Jugendsozialarbeiter im Bereich Extremismus und Ausstieg

von Aleksandra Tulej 

 

Biber: Du schreibst in deinem Buch über "die Wütenden", also radikalisierte Jugendliche, die du in den letzten Jahren als Sozialarbeiter begleitet hast. Warum genau sind sie wütend? 

Fabian Reicher: Weil die Welt ungerecht ist, würde ich sagen. Die Jugendlichen, mit denen ich arbeite, haben ein irrsinnig stark ausgeprägtes Ungerechtigkeitsempfinden, das haben wir Erwachsene leider oft schon verlernt. Wir können noch so viel über Demokratie und Menschenrechte reden, solange unsere Welt immer noch durch eine Zweiteilung in „Wir“ und „die Anderen“ gekennzeichnet ist, bleiben das leider bei vielen Themen nur hohle Phrasen. Und da knüpft die dschihadistische Erzählung an. Jugendkulturen sind ja immer auch ein Spiegel der Gesellschaft, sie transformieren das, was sie bei uns Erwachsenen sehen und machen ihr eigenes Ding draus. Aber ein Unrecht kann kein anderes rechtfertigen, das ist ein erster Anknüpfungspunkt in der Extremismusprävention.

Du beschreibst die Biographie von fünf Jugendlichen, die zum Teil stark in die jihadistische Szene abgerutscht sind, und den langwierigen Prozess, wie du sie da wieder „rausgeholt“ hast. Woher kommt bei dir diese Motivation?

Ich habe sie da nicht „rausgeholt“, das geht auch gar nicht. Sie können sich nur selbst „rausholen“ und ich durfte sie auf ihrem Weg begleiten. Dabei habe ich mindestens genauso viel gelernt wie sie. Diesen Prozess habe ich versucht im Buch zu beschreiben. Als ich die Jungs vor ungefähr zehn Jahren kennengelernt haben, hatte ich keinen Plan vom Nahen Osten, Tschetschenien, Afghanistan und all den Themen, die für sie wichtig waren. Wenn mir ein paar Jahre zuvor jemand gesagt hätte, dass Religion eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen würde, hätte ich ihn ausgelacht. Aber wir Jugendsozialarbeiter:innen müssen uns für die Themen der Jugendlichen interessieren, sonst funktioniert unsere Arbeit nicht.

Das Buch erscheint am 21. 2.
Das Buch "Die Wütenden" erscheint am 21. 2.

Wie baust du das Vertrauen zu den Jugendlichen auf?

Das ist gar nicht so einfach. Das ist ein teilweise wirklich sehr langer Prozess, gerade bei Jugendlichen wie die Jungs aus dem Buch. Fundamentalopposition gegenüber Staat und allem was damit verknüpft wird, ist eines der wichtigsten Elemente subkultureller Jugendszenen, auch in der dschihadistischen. „Die Sozialarbeiter:innen wollen euch gar nicht helfen, die arbeiten mit der Polizei zusammen. Sie wollen euch verändern und manipulieren, sie werden erst mit euch zufrieden sein, wenn ihr keine Muslime mehr seid.“, das wurde den Jungs immer wieder gesagt. Man muss ihnen dann eben beweisen, dass es nicht so ist.

Österreichische IS-Kämpfer und das Kalifat – das war ja alles um 2014 ein großes Thema. Ist das heute tatsächlich noch ein Ding?

Der sogenannte Islamische Staat ist militärisch und ideologisch stark geschwächt, aber er hat immer noch einen Trumpf in der Hand: unsere Reaktionen. Das zeigt leider auch der Anschlag in Wien: Was ist das Ziel dieser Anschläge, was ist die Strategie dahinter? Die Terroristen wollen eine Kriegssituation inszenieren und Rachegefühle in uns wecken, um ihre Erzählung vom „Wir“ und „die Anderen“, also „der Westen“ gegen „die Muslime“, voranzutreiben. Aber in Wien hat das nicht funktioniert, denn in der Nacht des Anschlags haben sich andere Geschichten durchgesetzt, Geschichten über Solidarität von unerwarteter Seite. Die Geschichte von den Jungs mit türkischen und palästinensischen Wurzeln, die Menschen aus dem Schussfeld gerettet haben, war besonders stark - so stark, dass sie sogar vom damaligen Innenminister Karl Nehammer in seiner Ansprache nach dem Anschlag betont wurde. Die Rede war richtig gut, es wurden weder einzelne Communitys noch die Religion als Ganzes beschuldigt. Genau so muss man es machen, das haben auch die Jungs gefeiert.

Wir haben schon gedacht: endlich könnte alles anders werden. Eine Woche später war das leider wieder vorbei, da kündigte die Regierung ihr „Anti-Terror-Maßnahmenpaket“, einen „Maßnahmenvollzug für Gefährder“ sowie einen „Straftatbestand für Politischen Islam“ an. Was mich am meisten ärgert: ich bin mir sicher, Karl Nehammer hat das, was er in seiner ersten Rede gesagt hat, auch so gemeint, aber dann kam irgendein Berater und hat gemeint, daraus einen populistischen Spin machen zu müssen. Besser kann man dem IS gar nicht helfen, deshalb müssen wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken.

Welche Reaktionen erhoffst du dir von den Leser:innen deines Buches?

Der Diskurs über den Themenkomplex "Islam und Terror" wird von zahlreichen "Terrorexpert:innen" und "Islamkritiker:innen" dominiert, die so weit weg von den realen Problemen sind, mit denen meine Kolleg:innen und ich in der Arbeit konfrontiert werden. Mit dem Buch und den Geschichten der Jungs wollten wir zeigen, dass es auch anders gehen kann.

Was, wenn ich mir als Leser:in denke: Warum werden solche Menschen unterstützt, warum sperren wir die nicht alle weg oder schieben sie ab? Was bringen die unserer Gesellschaft? Was sagst du mir dann?

Naja, das passiert doch eh. Von den Jugendlichen die im Buch vorkommen, ist einer tot, einer wurde abgeschoben, zwei sind im Gefängnis und werden abgeschoben sobald sie die Strafe abgesessen haben. Seit Sebastian Kurz die großen Fluchtbewegungen 2015 zum Negativmythos erklärt hat, ist Antimuslimischer Rassismus ein wesentlicher Teil des Regierungsprogrammes. Auf politischer Ebene z.B. durch das „Burkaverbot“ und dem Kopftuchverbot für unter 14-jährige, die beide vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurden, und dann noch die skandalöse Operation Luxor. Muslim:innen soll damit gezeigt werden, dass sie hier nicht willkommen sind, es sei denn sie assimilieren sich. Dieses Gefühl wird den Jungs bei sogenannten „Gefährderansprachen“ und Polizeikontrollen natürlich noch mal ganz anders vermittelt. Unglaublich was ich über die letzten Jahre da alles mitbekommen habe, da könnte ich noch ein Buch schreiben. (lacht) Das Problem ist nicht nur dass diese Strategie falsch ist, sie funktioniert auch einfach nicht, ganz im Gegenteil.

Du schreibst in deinem Buch aber auch über Rückschläge. Zum Beispiel, wenn „deine“ Jugendlichen dann wieder im Gefängnis landen oder radikalisierte Tendenzen zeigen, von denen sie eigentlich schon abgekommen sind. Fühlst du dich dann so, als hättest du versagt, oder ist das einfach Teil dieses Prozesses? 

Mir war wichtig, in dem Buch auch Situationen zu schildern, in denen man verzweifelt ist, in denen man an seiner Arbeit zweifelt, in denen man nicht weiter weiß. Wir alle kennen solche Situationen, aber wir reden viel zu wenig darüber. Menschen machen Fehler, das ist auch vollkommen in Ordnung, es kommt vor allem darauf an, wie wir mit ihnen umgehen. Das ist mir auch wichtig den Jugendlichen vorzuleben, denn in vielen Jugendszenen, so wie auch in unserer Gesellschaft, dominieren toxische Männlichkeitskonstruktionen und patriarchale Strukturen. Rücksicht zu nehmen, Kompromisse einzugehen, eigene Fehler einzugestehen oder sich selbst kritisch zu hinterfragen gilt immer noch als Zeichen der „Schwäche“. Das sieht man auch an der aktuellen Politik. Wenn man Fehler macht, muss man dafür Verantwortung übernehmen, das macht es für mich aus. Warum hat sich Karl Nehammer zum Beispiel noch immer nicht für die Fehler der Sicherheitsbehörden bei der Überwachung des späteren Attentäters von Wien entschuldigt?

Warum scheitern so viele Deradikalisierungsprogramme? Was macht ihr anders?

Die meisten Ansätze haben einen individuumszentrierten, gesprächsorientierten Zugang und basieren auf der Idee einer alternativen Wissensautorität.Die Jugendlichen sollen quasi „repariert“ werden, indem ihre radikalen Ansichten dekonstruiert und ihnen der „richtige Islam“ vermitteltwird.  Das mag kurzfristig erfolgreich sein, langfristig funktioniert es aber nur, wenn die Themen dahinter bearbeitet wurden, vor allem auch die Ebene der Gesellschaft. Das brutale Assad-Regime war z.B. das größte Thema für die Menschen, die bis 2014 nach Syrien ausgereist sind. Darüber haben wir viel diskutiert, aber diejenigen, die damals mit dem Gedanken gespielt haben, auszureisen, wollten nicht mehr reden, sie wollten endlich handeln. Wenn ihr der syrischen Zivilbevölkerung wirklich helfen wollt, ist der IS der falsche Weg, haben wir damals gesagt und dann zum Beispiel Spendenprojekte durchgeführt, denn für Gerechtigkeit kann man auch ohne Waffen kämpfen. Wir versuchen gemeinsam progressive, alternative Angebote zu denen dschihadistischer Gruppen zu bieten, darum geht es im Grunde.

 

Bei dem Buch werden du und die Journalistin Anja Melzer als Autor:innen benannt. Du hast das Buch geschrieben, welche Rolle hat Anja Melzer gespielt?

Geschrieben hab ich es selbst, aber ich bin Sozialarbeiter, ich hab euer Handwerk nie gelernt, hab keine Ahnung von Dramaturgie und so weiter. (lacht)  Anja hat mir hier viel geholfen und auch inhaltlich war es wichtig, alles immer wieder durchzudiskutieren.Ein Kernthema des Buches ist ja (marginalisierte) Männlichkeit und als Mann bin ich da natürlich näher dran.Dzamals erstes Buch kommt dann nächstes Jahr – da schreiben hauptsächlich er und Anja dran.

Haben die Protagonisten das Buch schon gelesen?

Noch nicht, ich bin schon sehr gespannt, was sie dazu sagen. Aber nachdem es ja ein gemeinsames Projekt ist, haben sie alle „ihre Kapitel“ gelesen, das war teilweise gar nicht so leicht. Zu Beginn habe ich ihnen klar gemacht, dass es meine Sichtweise ist, sie stimmen mir nicht in allem zu, was drin steht – aber sie feiern es alle trotzdem. Das beste Feedback von einem der Jungs, der abgeschoben wurde, war: „Ja, ist eh gut. Aber ich habe noch ein paar Rechtschreibfehler gefunden, daran müssen wir noch arbeiten.“ Das beschreibt die Zusammenarbeit denke ich wirklich gut (lacht)

Autor und Sozialarbeiter Fabian Reicher (Foto: Markus Zahradnik)
Autor und Sozialarbeiter Fabian Reicher (Foto: Markus Zahradnik)

 

Das Buch „Die Wütenden – warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror umdenken müssen“ erscheint am 21. Februar beim Westend Verlag. BIBER verlost 3 Exemplare, mehr zum Gewinnspiel findet ihr auf Instagram

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