Das Mädchen mit dem Lego-Ohrring

12. Mai 2014

 

„Ich erzähle dir gerne was, aber du darfst es nicht öffentlich machen. Und ich mag auch kein Foto. Ich mag dir nur was erzählen!“, antwortet mir Mini. Ich bin etwas verloren am Reumannplatz herumgelaufen, hatte bereits mit ein paar Menschen geredet, aber ich war nicht zufrieden. Sie erschien am U1-Aufgang und hatte eine seltsam offene Ausstrahlung. Ihr Lego Ohrring baumelte im Wind, ihre Augen waren nicht ganz nüchtern und ihre Leggins hatten Löcher. Ich wusste sofort, dass sie diejenige ist, über die ich schreiben möchte.

 

Die große anonyme Stadt

 

„Also mein Alter ist mal egal, ich lebe noch, das zählt.“ Mini wuchs in Oberösterreich auf, in einem kleinen „Kaff“, wo „Menschen entweder auf Drogen oder Alkohol sind“. Ihren Vater kenne sie nicht, sie hat aber noch vier Geschwister. Ihren Vater möchte sie auch gar nicht kennen, weil er eh nie da war. Sie lief das erste Mal von zuhause weg als sie 15 war. Sie brach ihre Lehre ab und ist mit ein paar Euro nach Wien. Zuhause hatte sie die Nase voll. Ihre Mama war viel arbeiten und ihre kleine Geschwister hatte sie satt. Sie wollte nicht mehr kochen, nicht mehr aufpassen und schon gar nicht putzen. „Wer kann das einer 15-Jährigen verübeln?“, fragt sie mich. „Ich verüble dir das nicht!“, antworte ich etwas verblüfft. „ Doch, tust du. Das tun alle- früher oder später fragt man mich, warum ich meine Sicherheit aufgegeben habe.“ Ich schüttelte nur den Kopf und sie erzählt weiter. Die Zugfahrt hatte sie ohne Ticket auf sich genommen. Sie wollte einfach raus in die große Stadt. Die Anonymität reizte sie sehr. „ Im Kaff hat jeder gleich alles gewusst, weißt du. Es hieß dann die kifft. Die fickt herum. Die aus der Absturzfamily. Die Behinderte. Ich hatte einfach keine Lust dort zu bleiben und mich gegen Sachen zu wehren, die ich teilweise nicht mal gemacht hab. Ich hab da noch keine Drogen genommen. Ich hab bissi gekifft, aber ich war brav, weißt du.“ Sie wedelt viel mit den Armen, ihr Blick folgt einer Taube.

 

Leo und das Speed

 

 Als sie ankam wusste sie erst mal nicht wohin. Sie hatte eine extra Jacke, eine paar Jeans und Sandalen. Sie schlief ein paar Nächte in Parks, bis sie Leo kennenlernte. Leo war ein Punk der mit seinen Leuten oft auf der Mariahilfer Straße war. Sie hatten auch ein Haus besetzt und sie nahmen sie auf. In dieser Zeit hat Mini viele Drogen probiert. Sie ist auch zwischendurch nachhause gefahren, ihrer Mama hat sie erzählt, dass sie in Wien eine Wohnung und einen Job hat. „Ich hatte dann so eine Zeit mit Speed, das war schlimm. Aber ich wollte unbedingt abnehmen, die anderen Mädels waren auch sehr dünn.“ Sie hat sich sofort in Leo verliebt, er war nett und hat sich um alle gekümmert. Er starb drei Jahre später an einer Überdosis Heroin. Eine andere Freundin starb bald danach. Mini erzählt, dass sie Heroin nur ein oder zweimal geschnupft hat und seitdem das passiert ist nie wieder. Die Toten scheinen ein sensibles Thema zu sein. Sie erzählt mir wehmütig von Leo, von seiner heldenhaften und großzügigen Art und wie sie niemand anderen jemals so lieben wird. Ihre Augen leuchten auf, wenn sie an ihn denkt. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie wegen ihm Drogen probiert hat, für ihn abnehmen wollte. Ich frage nach Leos Beziehung zu Mini, doch sie schüttelt nur heftig den Kopf: “Er hat uns alle geliebt, aber das war doch das Schöne.“

 

Und jetzt?

 

Sie wohnt jetzt hier in der Nähe und arbeitet als Hilfskraft in einer Restaurantküche. Sie kifft nur noch ab und zu, sagt sie. Die Speedsucht habe sie aber viel gekostet. Sie hat keinen Kontakt zur Familie, sie hat viele Schulden abbezahlen müssen. Ich frage sie, wie es ihr jetzt geht. Sie nimmt sich Zeit bis sie antwortet. Ihr Freund hat eine Wohnung, da wohnt sie jetzt. Sie mag ihn. Er heißt Karl. Er ist 40 (einige Jahre älter als sie, vermute ich) und er hat veranlasst, dass sie jede Woche mit „so einer Psychotante“ reden muss. „Aber ich verstehe nicht wieso, weißt du. Sie redet ständig über die Family und nein, sie mag dass ich darüber rede, weißt du. Und über Leo, aber das macht mich voll traurig, weißt du. Und ich verstehe den Sinn nicht. Warum soll ich über so etwas Trauriges reden, es macht mich nur traurig, weißt du?“ Sie zündet sich ihre fünfte Zigarette an. „Aber mit mir redest du doch auch darüber?“, frage ich. Irgendwie fühle ich, dass dieses verwirrte Mädchen leicht explodiert. „Nein, das tu ich nicht! Wirklich nicht!“ Ich nicke nur und sie erzählt mir von ihrem Arbeitstag. Sie arbeitet in einer Küche und sie mag ihre Kollegen.

 

Die Liebe und die Zukunft

 

Ich plaudere noch ein wenig über belanglose Dinge mit ihr bis sie anfängt über die Liebe zu reden. Liebe sei etwas starkes, das fühlt man und es macht Angst. Sie mag nie wieder lieben und deshalb hat sie sich die Eierstöcke entfernen lassen. Karl liebt sie nicht wirklich, aber für sie ist das gut so, wie es jetzt ist. Über die Zukunft spricht sie nicht gerne, jeder neue Tag ist für sie ein Gewinn. Ich weiß nicht, was ich Mini glauben kann und was nicht? Wie viel Fantasie in ihren Geschichten ist? Sie wechselt die Sprechgeschwindigkeit. „ Reicht dir das?“, fragt sie mich ganz am Schluss. Ich bejahe. „Ja dann.“ Sie steht auf und geht. Sie verabschiedet sich nicht. Ich weiß nicht, was das Mädchen gebrochen hat, oder ob ich nach der halben Stunde überhaupt irgendetwas über sie weiß, aber ich beschäftige mich noch das ganze Wochenende mit ihrer Geschichte. Ich frage mich, ob man sie hätte retten können zu irgendeinem Zeitpunkt und ob sie überhaupt jemand ist, den man retten kann.

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