Online-Mob vs. Kinder schleifende Eltern

09. April 2016

Was die Öffentlichkeit von den übereifrigen Eltern am Linzer Marathon hält, ist eindeutig. Nämlich nichts. Aber was, wenn ein einziges Bild doch nicht so leicht zu interpretieren ist, wie alle meinen? Ich sehe da nämlich auch ein ganz anderes mögliches Szenario.

 

Ich wünschte, der mächtige Online-Mob wäre ähnlich aufgebracht über Sexismus, Rassismus oder Homophobie, wie er es über ein Foto von Eltern ist, dei ihre Kinder am Arm in ein Ziel tragen. Wenn wir bei solchen Themen auch nur annähernd so geeint in Empörung und Ablehnung wären, hätten wir viele Probleme nicht mehr.

Urteil ohne Hintergrundgeschichte

Spannenderweise scheinen sich in erster Linie Menschen aufgeregt zu haben, die keine Kinder haben. Und ich vermute, es liegt in etwa daran: Viele Eltern werden etwas ganz anderes auf diesem Foto gesehen haben.
Hier zum Beispiel ein Szenario, das ich mit meinem Dreijährigen immer wieder durchlebt habe und deshalb auch auf dem Foto wiederzuerkennen meine:

Eine Abfolge

  1.  Kind will bei der Veranstaltung unbedingt mitmachen.
  2. Elternteil sagt nach langer Überlegung (ob es nicht doch zu stressig ist oder es besser wäre, erst in ein paar Jahren mitzumachen): "Okay."
  3. Bei der Veranstaltung: Kind ist super aufgeregt, will unbedingt gewinnen (ja, das ist auch ohne elterliches Zutun ein Ding, meiner hat es zum Beispiel im Kindergarten gelernt und es scheint derzeit nichts Wichtigeres zu geben).
  4. Der Lauf startet.
  5. Kind hat Spaß, bis es sieht, dass andere schneller sind oder ihm eigentlich fad ist, dass es da drüben was Spannenderes gibt oder sonst etwas (glaubt mir, wenn ihr gedacht habt, dass ihr in eurer Teenagerzeit unberechenbar wart und immer wieder grundlos eure innere Einstellung von einem Pol zum anderen geflippt ist, dann kann ich euch sagen: Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass ihr als Kleinkinder viel extremer wart).
  6. Kind bleibt plötzlich mitten im Getümmel stehen, hat keinen Bock mehr, verlangt jetzt, etwas ganz anderes zu machen.
  7. Elternteil wird von hinten angerempelt, versucht das Kind zu überreden, motivieren, möglicherweise bestechen.
  8. Kind schreit, wehrt sich, rempelt andere Kinder an, will JETZT SOFORT seinen neuen, gerade geänderten Willen haben.
  9. Elternteil sieht schon, wie das Kind auf dem Weg nach Hause heulen wird, weil es die Veranstaltung nicht beendet hat, sieht, wie es jetzt schreit, will nicht 5 Meter vor dem Ende aufgeben und sich später das Geraunze anhören, muss das Kind inzwischen mit Halbgewalt davon abhalten, in ein Dutzend anderer Kinder zu rennen und allen den Tag zu vermiesen. Muss zwischen Gebrüll, Geziehe, Faustschlägen und im allgemeinen Getümmel eine Entscheidung treffen.
  10. Elternteil trifft eine Entscheidung und versucht die Veranstaltung doch noch mit dem Kind zu beenden.

 

Kinder zerren ist kein Spaß

Und hier ist der Clou: Kinder, die etwas nicht wollen, sind überraschend stark, gleichzeitig sind sie ratio- sowie überredungsresistent. Also wehrt sich das Kind, lässt sich nicht normal tragen, schlägt und tritt um sich und am Ende zieht der Elternteil das Kind am Arm über die Ziellinie.

Dabei hat niemand Spaß, niemandes Bedürfnisse oder Ego werden befriedigt. Aber (und das Aber ist wichtig): Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass das Kind später allen Bekannten und Unbekannten bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit mitteilen wird, dass es bei der Veranstaltung mitgemacht hat, dass es "gewonnen" oder irgendwas bekommen hat und es wird super glücklich und stolz auf sich sein. Und es wird das Drama vollkommen vergessen haben.

 

Aber davon gibt es kein Foto.

Es gibt nur ein Foto von ein paar Eltern, die möglicherweise die von mir beschriebene Entscheidung getroffen haben. Die gewusst haben, dass das Kind schreien wird. Entweder in diesem Moment, weil es mitmachen muss, oder später, weil es nicht mitgemacht hat. 

Und vielleicht waren diese drei (denn ja, schaut euch das Foto nochmal an - es sind genau drei Eltern zu sehen, die ihr Kind ziehen) Eltern wirklich übereifrig. Aber deswegen verlangen, dass ihnen die Kinder weggenommen werden?

Eure Eltern waren garantiert nicht perfekt, aber hättet ihr eure Kindheit deshalb lieber bei Pflegeeltern oder im Heim verbracht? Nein? Dann wünscht es den Kindern am Foto bitte auch nicht. Und denkt daran, wir alle (ich auch) beurteilen hier gerade ein einziges Foto.

 

Ein Foto und 1000 Beschimpfungen

Und auf dieses eine Foto haben unerwartet viele Menschen reagiert und waren überraschend schnell dabei, die fotografierten Eltern zu verurteilen, zu fordern, dass das Jugendamt einschreitet oder dass der Lauf abgeschafft wird. Und sie hatten Erfolg. Den Lauf soll es in dieser Form nicht mehr geben. 
Gratulation!

 

Empört euch!

Wenn diese Menschen jetzt bitte noch mit demselben Gusto auf alle losgehen könnten, die gegen Feminismus, Gleichberechtigung, Flüchtlinge oder Homosexuelle sind, dann wäre uns allen damit auch mal wirklich geholfen.  Darum bitte: Empört euch! Schreit! Fordert! 


Aber bitte, nur einmal, mit etwas Reflexion und Bedacht. Und denkt immer daran, dass Situationen selten so einfach sind, wie sie in den sozialen Medien dargestellt werden. Die Welt ist eben nicht schwarz-weiß - darum lasst auch euer Denken nicht schwarz-weiß werden. Und als Gedanke am Schluss: Empört sich hier nicht derselbe Mob, der sich sonst so über die "alles dürfenden", "nichts zu Ende machen müssenden Tyrannenkinder" aufregt? Also wie jetzt?

 

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Kommentare

 

Ok, da man sich hier wohl in eine Autoritätsrolle begeben muss, um etwas (Gewichtiges) zu diesem Thema sagen zu dürfen und eventuell ernst genommen zu werden: Auch ich habe eine kleines Kind.

Ich war keiner der Empörten, die im sozialen Netz ihren Empörungstrieben nachgegeben haben. Aber ich habe schon meinen Kopf geschüttelt, vor allem, weil  Zeugen des Rennens meinten, es hätten noch schlimmere Szenen als diese eine auf dem Foto stattgefunden.

Ich stimme voll und ganz zu, dass das „Schwarz-Weiß“ denken, besonders im Netz, aber nicht bloß dort, ein riesen Problem darstellt und Reflexion tatsächlich seiner Eigenschaft als Fremdwort bei vielen Menschen mehr als gerecht wird. Dennoch, einige Punkte in diesem Eintrag, sehe ich als problematisch und falsch an:

Jedes Kind ist anders und trotz aller Ähnlichkeiten auf seine eigene Art und Weise ein Unikat. Die 10-Punkte Abfolge ist eine auf persönlicher Erfahrung und Beobachtung gemachte Aufzählung von einer möglichen Variante, wie es in den Erwachsenen mit Kind ausgesehen haben könnte. Konjunktiv. Dass, das für die Kinder auf dem Foto gilt, ist reine Mutmaßung – Aber um des Arguments Willen: Kann natürlich sein.

Ist dem nicht so, erledigt sich diese Äußerung von selbst. Ist dem tatsächlich so wie beschrieben, dann sehe ich weitere Probleme, die trotzdem an getätigter Rechtfertigung zweifeln lassen. Der Faktor bei dieser Veranstaltung, sowie bei vielen anderen, wo Kinder involviert sind, lautet „Spaß“. So muss es sein. So soll es sein. Die Behauptungen, dass Kinder mehr Schaden nehmen würden, wenn sie einen Lauf nicht beenden (oder nicht weit vorne landen), weil sie danach (womöglich) über das „Aufgeben“ weinen, gegenüber dem, dass Kinder das Drama des Zerrens sicher vergessen, wenn sie damit später vor Familie und Freunden prahlen können, ist ziemlich unsinnig und auch ein bisschen erschreckend. Es würde zu weit führen, das hier weiter auszuführen, aber auch Kinder haben ein Unterbewusstsein, das sich ständig formt.

Um zurückzukehren: Warum unsinnig? Klar, es gibt den Leistungsgedanken, der heutzutage über allem zu stehen scheint, man muss können, wollen, sich quälen, um zu erreichen. Dem habe ich bei Erwachsenen, die selbst entscheiden, nichts entgegenzusetzen. Geht es allerdings um die Kleinen, gilt für mich dieser schöne Satz „Lasst Kinder mal Kinder sein“.

Eine befreundete Kindergärtnerin hat erzählt, dass manche ihrer Schutzbefohlenen jeden einzelnen Tag der Woche durchgeplant bekommen: Ballett, Instrumente, Sport. Sie hätten keine Zeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen.

Förderung versus Forderung.

Diese Debatte kann man zu Hauf in Büchern und auch online nachverfolgen. Hier will ich nicht missverstanden werden. Je nach Art des Kindes ist eine Mixtur aus Förderungen und Freizeit natürlich sinnvoll, aber kleinen Kindern, den Stress des „Gezerrtwerdens“ anzutun, um ihnen vielleicht das „Aufgeben-Syndrom“ gleich auszutreiben, oder um sie später stolz sein zu lassen (wobei hier die Frage ist, wer dann stolz sein möchte), wie es hier beschrieben wird, ist absoluter Unsinn. Man kann auf sein Kind auch stolz sein, wenn es nur 23, der 42 Meter geschafft hat. Und es ermutigen, nächstes Mal mehr zu schaffen.

Ein kleines Kind, und das ist das was ich im Text nicht ganz verstehe, darf doch bitte auch mitten in einem Vorgang seine Meinung ändern, und nicht mehr wollen (soweit ich weiß, dürfen das Erwachsene auch), oder Anderes plötzlich spannender finden.

 

Und ob das Kind, das Drama vergisst? Kann sein, aber wie vorher ist diese Aussage eine reine Mutmaßung, die nicht allgemein gültig ist. Ich als kleiner Zwerg, um mich herum fremde Riesen, mit anderen brüllenden Zwergaln (egal ob aus Freude oder nicht) an der Hand, Stress und Versuche, mit welchen Mitteln auch immer, das Rennen durchzuboxen, klingt, in meiner Vorstellung zumindest, extrem.

Viele vergessen heutzutage: Kinder haben Zeit in unsere Welt hineinzuwachsen. Damit will ich gleich dem Argument vorbeugen, dass man ihnen „to quit“ beibringt, wenn man doch mal, und sei es nach 41 Metern, aus dem Rennen einfach aussteigt, weil sein Kind nimmer will oder „da drüben was Spannenderes sieht“.

Der eigentliche Vorwurf an jene zerrenden Eltern, den alle im Text angegriffenen „Empörten“ wohl insgeheim mit sich tragen, ist der „falsche Ehrgeiz“, den sie den Erziehungsberechtigten am Foto vorwerfen. Ich möchte, dass mein Kind (oder ich selbst) angeben kann – deshalb Hand her und Ruhe. Wir schaffen das. Wir gewinnen. Um jeden Preis.

Ihnen das sich empören vorzuwerfen, ist falsch. Welche Reaktion kann es denn sonst geben, wenn man sieht, wie Kinder, aus welchen Gründen auch immer von Erwachsenen herumgezerrt werden? Vielleicht eine Abfolge im Kopf, wie die Situation der Zerrenden und Gezerrten sich entwickelt haben könnte? Wie es soweit kommen konnte? Welche Gründe für die Entscheidung Kinder „hinterherzuschleifen“ da wirksam wurden? Spannend, ja. Aber in der ersten und letzten Grundüberlegung: Nein.

Zur Heuchelei jener „Empörten“, die, in Sachen Homophobie, Sexismus, Feminismus und Flüchtlinge, hier angesprochen wird: Diese Art zu argumentieren ist in allen Themenbereichen ein riesiges „Ausbremse-Mittel“, um Leute daran zu hindern, überhaupt mal den Mund aufzumachen.

 

Dazu zwei Sichtweisen: Wenn sich besorgte Bürger über sexuelle Gewalt aufregen, weil jene von Flüchtlingen ausgehen soll, aber vorher jahrelang der Vergewaltigungen des weißen Mannes auf der „Wies’n“, der Straße oder im eigenen Heim nur achselzuckend begegnet sind oder Feministinnen als „Emanzen, die es mal nötig hätten“ bezeichnet haben, dann ist mir aufgefallen, dass ich da den Heuchelei-Vorwurf durchaus begrüße. Auch wenn er kaum Sinn macht.

Auf der anderen Seite passiert nämlich auch Folgendes, was ich auch in diesem Text wieder erkenne und als weitaus gefährlicher empfinde: Mal ein fiktives Beispiel, allerdings ohne Abfolge-Punkte, von mir:

Ich, als fiktiver Charakter, bin allgemein nicht sehr interessiert. Weder an Politik noch an Kultur. Mir fällt ein Thema auf, weil es medial gepusht wird. Es stört mich, wie man mit den Protagonisten des Berichts umgeht. Aber ich war nie an etwas interessiert, habe bisher nichts gegen die Umstände unternommen, habe sie sogar durch Unachtsamkeit, wie dem Einkauf in ausbeutenden Konzernen oder durch Wahlstimmenabgabe an Politiker vielleicht sogar unterstützt. Das heißt, ich habe Fehler gemacht oder einfach nicht alles durchgedacht.

Ist es mir jetzt erlaubt, etwas zu sagen, etwas zu tun, wenn mir etwas Störendes auffällt, um zu versuchen etwas zu ändern? Darf ich unvollkommen sein, weil ich damals nicht laut gegen Missstände geschrien oder etwas getan habe, und dennoch Kritik äußern? Darf ich erst den Mund aufmachen, wenn ich ihn bei Ungerechtigkeit und Ungleichheit in Sachen: Homosexualität, Feminismus, Gewaltprävention, Asyl, Tierschutz, Korruption, Rassismus, Sklaverei, Ausbeutung, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Demokratieschutz und Kriege auch laut geöffnet und meiner Kritik eine Stimme gegeben habe? In diesem Bericht scheint die Antwort auf diese Frage ein Ja zu sein.

 

Diese Art des Denkens, des geforderten Perfektionismus eines Menschen, ist gefährlich. Weil, nach dieser Sichtweise: Nie jemand jemals irgendetwas kritisch anmerken durfte.

Das ist der Hauptkern in der Argumentation, der mich in diesem Beitrag stört.

(Ihnen die Kinder wegnehmen ist eine dumme Forderung, da stimme ich zu. Aber Kritik üben muss man dürfen. Immer.)

Ich zweifle auch sehr daran, dass jene Eltern sich wirklich gedacht haben, meinem Kind wird das Schaffen des Marathons später zum Wohle gereichen, es wird nicht weinen und dann gibt’s als Belohnung vielleicht einen 10er von der Oma, einen Schulterklapps vom Nachbarn, oder einen Schokokeks vom Kindergartenfreund.

In der Erziehungsfrage, das muss man sagen, gibt es viele Ideen und noch mehr Meinungen darüber. Ein kleines 3-jähriges Kind am Arm durch ein Rennen zu zerren, egal aus welchen Gründen, sollte eigentlich nicht im Diskurs stehen. Dass es dies aber anscheinend tut, zeigt, dass die Erziehungskultur selbst noch in den Kinderschuhen steckt (aber, um fair zu sein, seit den 1980ern große Fortschritte gezeigt hat), auch wenn Erziehung bei diesem Vorfall oder dem Bericht hier, gar nicht so sehr das Thema ist.

Bei dieser Sache geht es, meiner Ansicht nach, um den Umgang mit Kindern. Und der war ja wohl wenig empathisch, sondern bei diesem Spiel eines Wettlaufs (und es war nur ein Spiel) unter anderem von einer „Leistungsgeilheit“ a la ‚Koste es was es wolle‘, geprägt, wie man sie eigentlich nur bei Kindern vermuten würde. Nicht bei Erwachsenen. Das wiederrum, empört halt manche.

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