Wo warst du, im Sommer 2015?

28. Juli 2015

Bisher habe ich nur zwei Menschen mit in meinen Geburtsort Sarajevo genommen. Denn jemanden, der Krieg nur aus dem Fernsehen kennt, mit in diese Stadt zu nehmen, ist für mich eine große Überwindung. Sie zeigen herum und rufen: „Schau mal da!“, es dauert ein paar Sekunden bis ich verstehe, dass sie die zerbombten Häuser meinen, die mir schon lange nicht mehr auffallen. Aber sie haben tatsächlich noch nie zerbombte Häuser in echt gesehen, die Glücklichen. Wie es sich wohl anfühlt, wenn Krieg nicht ein Teil deiner Geschichte ist, wenn du dich nicht ständig fragst, wie wäre mein Leben jetzt, hätte es den Krieg nie gegeben? Ihre Augen füllen sich dann mit Tränen, wenn ich erzähle, dass das Krankenhaus, in dem ich geboren wurde, nicht mehr existiert, es wurde im Krieg zerstört. Das Haus, in dem ich gehen gelernt habe, sieht nicht mehr so aus wie auf den bunten Fotos von früher, die sie aus unseren Familienalben kennen, es ist trist und der Keller, in dem wir uns damals vor den Bomben in Sicherheit gebracht haben, ist jetzt direkt unter ihren Füßen. Wenn ich jemanden mit nach Sarajevo nehme, gebe ich ihm einen Einblick in den verletzlichsten, zerstörten Teil meiner Seele, den ich in Österreich hervorragend zu unterdrücken vermag. Hier bin ich für sie die lustige, verantwortungsvolle Freundin, sobald sie aber mit mir in Sarajevo sind, merken sie erst, dass ich eines von diesen Kriegskindern, Flüchtlingen ohne Heimat bin – und das ein Teil meiner Seele dies auch immer bleiben wird. Ich konnte zwar vor dem Krieg fliehen, aber niemals vor diesem Teil von mir. Ich bin nicht irgendwann einmal ein Flüchtling gewesen, ich werde es immer bleiben. Auch wenn es jetzt nicht mehr meine zerstörte Heimat ist, vor der ich fliehe, sondern dieses eine kleine Stück in mir. Meine zwei Freunde haben nun direkt ein Gesicht vor Augen, wenn sie an Krieg, Zerstörung und Flucht denken. Sie fragen sich dann, wo sie waren, wo ihre Eltern waren, wo Österreich war, im Frühjahr 1992. Sie nehmen mich in die Arme, obwohl schon längst nicht mehr ich es bin, die diese Umarmung braucht.

Zurzeit sind weltweit 51 Millionen Menschen auf der Flucht, 80.000 davon sind in Österreich gelandet – diese großen Zahlen schaffen ein Gefühl von Anonymität,  aber dahinter stecken Menschen mit einer Geschichte, die sie ihr ganzes Leben verfolgen wird. Ich fühle mich noch immer angesprochen, wenn ich die Bezeichnung „Flüchtling“ höre und vor allem in den letzten Monaten kommen so viele Bilder wieder hoch, aus der Zeit in der wir nach Österreich geflohen sind. Ich sehe sie wieder, die alten Omas, die sich aufregen, weil meine Mutter Goldschmuck trägt, obwohl wir doch angeblich arme Flüchtlinge sind. Der Schmuck, damals ihre einzige Erinnerung an meinen Vater, von dem sie nicht wusste, ob er überhaupt noch am Leben ist oder bereits bestialisch exekutiert wurde. Ich sehe die Kinder, die mich zwicken, weil sie möchten, dass ich endlich einen Ton von mir gebe, aber ich bleibe stumm, ich wehre mich auch nicht,  denn ich spüre nichts. Aber ich sehe auch die Frau, die mir nach Jahren meine erste Puppe schenkt, mit der ich endlich wieder Kind sein kann, im Sommer 1994.  

Ich sehe die Flüchtlinge in Traiskirchen und wünsche mir, dass sie so viel Glück haben wie ich und in 20 Jahren zurück in ihre alte Heimat reisen, mit ihren zwei besten Freunden aus Österreich und alles, was von ihrem Schmerz geblieben ist, ist dann nur noch dieser eine kleine, verletzliche Teil ihrer Seele, der sie an die Vergangenheit erinnert und ihre österreichischen Freunde werden endlich annähernd verstehen können, von welchem immensen Elend sie da damals wirklich geflohen sind und sie werden sich fragen, wo waren wir, im Sommer 2015?

 

 

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