Die Leiden des jungen Todor: "Das Elend meiner Schuljahre"

02. Februar 2010



Als Schüler schwänzten wir oft den Unterricht. Wir verbrachten die unendlich scheinenden Stunden in Bars und Cafés in der
Nähe der Schule. Am liebsten in der klapprigen Kneipe „das Elend“.

Von Todor Ovtcharov.

Die Schuljahre sind etwas Herrliches: Man lernt viele interessante Sachen über die Welt, wird nach ein paar verkotzten Schultagen alkoholfest, bekommt sein erstes Fellatio und lebt im Glauben, diese Herrlichkeit werde ewig dauern. Aber die Ewigkeit besteht auch nur aus einer endlosen Kette von Momenten und wie uns Pasternak sagt, sieht jeder Moment im Leben unendlich und nüchtern aus. Wenn man die Momente aber als ein Ganzes betrachtet, verlieren sie sich in dem ungeordneten Rausch des Lebensflusses. Mein Lebensrausch fand seinen Anfang im deutschen Sprachgymnasium am „Salzmarkt“ in Sofia, an dem ich maturiert habe und das als eine der besten öffentlichen Schulen in Bulgarien gilt.

Ringen mit Traktoren

Der Salzmarkt ist ein historischer Ort, an dem 1960 das Gebäude des staatlichen Zirkus in Bulgarien eingeweiht wurde und das 1983 abbrannte. Hier, wo sich die Strassen „Botev“ und „Positano“ treffen, wird auch die traditionelle Schlacht zwischen den Schülern des deutschen Gymnasiums und des benachbarten Traktorenbautechnikums ausgetragen. Da geht es genau so hart zur Sache wie bei dem berühmten Ruderwettbewerb zwischen Oxford und Cambridge. Nur werden hier Bulgariens Nationalsportarten Ringen und Gewichtheben in der Praxis angewandt.

Trinken im Elend

Als Schüler schwänzten wir oft den Unterricht. Wir verbrachten die unendlich scheinenden Stunden in Bars und Cafés, die sich in der Nähe der Schule befanden. Genau auf dem „Salzmarkt“ aber befand sich eine Baracke, in der ich und viele meiner Mitschüler sicher die Hälfte unserer Schulzeit verbracht haben. Wir nannten diese klapprige Kneipe liebevolldas Elend“. Die Baracke bestand aus zwei Räumen. In einem gab es einen Tischfußballtisch und ein paar alte Spielautomaten. In dem anderen Raum war die Bar mit zwei Tischen und einem alten russischen Fernseher. Die Decke des „Elends“ war nicht ganz dicht und wenn es regnete, musste man aus Angst vor einen Stromschlag alle elektrischen Geräte ausschalten. Im Boden des „Elends“ waren riesige Löcher und die Klotür ging nicht wirklich zu.

Unterhemd und Fusel

Bai Joro, der Wirt vom „Elend“, war ein alkoholisierter Ex-Maler, der ständig im Unterhemd herum lief. Seine Weisheiten prägten die Gedanken der Schüler mindestens genauso stark oder schwach wie die Weisheiten der Lehrer. Seinen Schnaps, oder besser gesagt ein unbeschreibliches hochprozentiges Getränk, das im „Elend“ nur 40 Stotinki (ca. 20 Cent) kostete, tranken wir buchstäblich literweise. Den Austauschschülern aus Deutschland zeigten wir, gleich nach der Vitrine mit den sportlichen Auszeichnungen ehemaliger Schüler und dem schuleigenen Computerraum mit seinem metallen Gitter an die Tür, das „Elend“ und präsentierten es als Teil unseres Schulalltags. Ob sie die barbarische Romantik dieses Ortes verstanden haben, frage ich mich heute noch.

Das Ende des Elends

Das Elend“ wurde abgerissen. Wo früher die Baracke stand, gibt es jetzt ein riesiges Bürogebäude. „Café London“ heißt das Lokal des Officezentrums, das gegenüber dem deutschen Gymnasium steht. Ob die heutigen Schüler es besuchen, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ein paar meiner Mitschüler, mit denen ich im „Elend“ gesessen habe, heute in London leben. Andere sind in Berlin, Paris oder anderswo. Wir haben uns in der Welt zerstreut. Einige werden zurückkehren, andere werden im Ausland eine neue Heimat finden. Doch eins ist sicher: Jammern werden wir nie! Denn wir wissen wie das wirkliche Elend aussieht.

 

Kommentare

 

todor ich liebe deine stories.

 

iv.cucu.

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