Die Migranten und das Virus

12. Januar 2021

Erst die Türkenhochzeiten, dann die Heimaturlauber und nun die Testverweigerer. Wenn etwas in der Bekämpfung der Virusausbreitung auf österreichischem Boden schiefläuft, scheinen die Schuldigen schnell gefunden: Die Migranten waren es. Doch was ist dran an den Vorwürfen? Sieben Antworten.

Text: Yasemin Uysal, Illustration: Ula Sveikauskaite

Illustration: Ula Sveikauskaite
Illustration: Ula Sveikauskaite

1. Welche Vorwürfe stehen im Raum - und was ist dran? 

Eine starke Anschuldigung kommt ausgerechnet von ganz oben. Anfang Dezember 2020 argumentiert der österreichische Bundeskanzler, dass der Lockdown II vor allem von Migrant*innen verursacht wurde. „Wir hatten im Sommer sehr, sehr niedrige Ansteckungszahlen nach dem Lockdown und haben dann durch Reiserückkehrer und insbesondere auch durch Menschen, die in ihren Herkunftsländern den Sommer verbracht haben, uns Ansteckungen wieder ins Land hereingeschleppt.“ So begründet Sebastian Kurz die rasant ansteigenden Infektionszahlen in Österreich, die im weltweiten Vergleich einen Rekordwert erreichten. Wenn explizit „Herkunftsländer“, konkret der Balkan und die Türkei, genannt werden, sind implizit Migrant*innen mit Wurzeln „unten“ gemeint. „Sündenbock“-Politik wird dem Kanzler vorgeworfen. Doch was ist dran an seinem Vorwurf?  Laut AGES-Erhebungen hat ein Drittel der Ansteckungen im August 2020 seinen Ursprung im Ausland – konkret für den Westbalkan 29-34 Prozent. Die 'Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH' (AGES) ist für die nationale Überwachung der COVID-19-Epidemie verantwortlich. Doch die AGES weist in einem Standardbericht im Dezember 2020 extra daraufhin, dass diese Angaben rein geographisch zu sehen sind. „Sie beschreiben die Region, wo sich Personen mit Sars-CoV-2 infiziert haben. Kroatien fällt in dieser Darstellung unter den Begriff Westbalkan. Diese Darstellung bezieht sich nicht auf die Nationalität der infizierten Personen.“ Mario Dujaković, Mediensprecher der Stadt Wien, arbeitet im Team von Gesundheitsstadtrat Peter Hacker und ist mit den Corona-Statistiken vertraut. Er findet daher auch deutliche Worte für die Beschuldigung aus dem Kanzleramt. „Das ist Unsinn! Wenn wir uns die Urlauber*innen anschauen, wissen wir nur, aus welchen Ländern die Leute zurückreisen. Was wir nicht wissen, ist der Migrationshintergrund.“ Der sei laut Dujaković auch nicht von Bedeutung. Wenn man bedenkt, dass Länder wie die Türkei und Kroatien zu den Top-Urlaubsdestinationen der Österreicher*innen zählen, dann werden sich auch autochthone Österreicher*innen während eines Kroatien-Urlaubes infiziert haben. Offzielle Statistiken, die zeigen, ob Infizierte Migrationshintergrund haben oder nicht, gibt es nicht. Und Fakt ist, dass die meisten Covid-Infizierten die österreichische Staatsbürgerschaft haben. Kaum ist die Aufregung um die Reiserückkehrer*innen abgeflacht, steht der nächste Vorwurf im Raum. Im Zuge der Covid-Massentests im Dezember 2020, vermelden der Bürgermeister aus Wiener Neustadt als auch Mitarbeiter des Roten Kreuz in Vorarlberg: „Migranten lassen sich nicht testen!“ Doch stimmt das? Statistisch ist auch das laut AGES jedenfalls nicht nachweisbar. 

2. Wer sind eigentlich "die Migrant*innen"? Und verstehen die Deutsch?

In der AGES-Statistik wird zwar die Staatsbürgerschaft erfasst, doch Staatszugehörigkeit und Migrationshintergrund sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Angenommen Ali hat einen österreichischen Pass, seine Eltern wurden in der Türkei geboren. Er wird in jeder Statistik als Österreicher erscheinen – und nicht als Migrant zweiter Generation. Ali ist auf dem Papier also immer österreichischer Staatsbürger, Alis Wurzeln lassen sich nirgendwo erschließen.  „Wir machen in Österreich häufig den Fehler, dass wir über Migrant*innen als eine homogene Gruppe sprechen“, kritisiert Judith Kohlenberger, Migrationsexpertin und Forscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Jedoch müsse man zum Beispiel die Gruppe der Geflüchteten konsequent von den Migrant*innen unterscheiden, die bereits vor Jahren, etwa im Zuge der Gastarbeiterströme oder des Balkankriegs, nach Österreich gekommen seien und in zweiter oder dritter Generation hier leben würden. Das ist gerade dann wichtig, wenn man den Zugang zu Corona-Informationen betrachtet und sich Sprachbarrieren ansieht. So ist selbst die Gruppe der Menschen, die auf Informationen in der Erstsprache angewiesen sind, heterogen. Es kann sich um geflüchtete Frauen handeln, die nach ihrer Ankunft in Österreich eine sehr hohe Geburtenrate zeigen. Ihr Integrationsprozess setze deshalb oft erst später als jener der Männer ein, weiß Kohlenberger. Andere Geflüchtete befinden sich noch in Deutschkursen, weil sie erst seit kurzer Zeit in Österreich sind. „Die derzeitige Krise offenbart aber auch Versäumnisse in der Integrationspolitik der letzten Jahrzehnte,“ erklärt die Forscherin. Es zeige sich in Krisenzeiten, dass Migrant*innen verstärkt Medien aus ihren Herkunftsländern konsumieren würden. „Das hat nicht nur sprachliche Gründe, sondern ist ein Hinweis für die kulturelle Verbundenheit“, so Kohlenberger. Wenn das Infektionsgeschehen und die ausgerufenen Maßnahmen zwischen dem Wohn- und dem Herkunftsland nun aber variieren, könne das besonders für ältere Generationen – als Risikogruppe des Coronavirus – problematisch sein. Generell sei zu hinterfragen, warum Übersetzungen in die wichtigsten Erstsprachen von Migrant*innen in Österreich immer erst nachträglich geliefert würden, findet Kohlenberger. „Das zeigt, dass Österreich noch nicht im Selbstverständnis einer Einwanderungsgesellschaft angekommen ist.“ 

3. Erkranken Migrant*innen häufiger an COVID-19?

Dieser Frage ist die OECD in ihrem aktuellen Migrationsausblick auf den Grund gegangen. Die Antwort: Migrant*innen sind in vielen der 37 Mitgliedsstaaten der OECD einem zwei- bis dreimal so hohen Infektionsrisiko ausgesetzt als im Land geborene Personen. Thomas Liebig ist leitender Ökonom der OECD in der Abteilung für Internationale Migration und erklärt in einem Telefonat: „Was die Betroffenheit von Covid angeht, sehen wir eine Überrepräsentierung von Migrant*innen – insbesondere dort, wo die Testung relativ breit ist.“ Die Zahlen dazu bezieht die OECD aus den Daten der jeweiligen Mitgliedsländer. Während manche Länder in ihren Covid-Statistiken sehr wohl registrieren, ob eine Person zugewandert ist oder nicht, etwa Norwegen, ist das aus Daten anderer Länder gar nicht herauszulesen. In Österreich werden, wie bereits erläutert, keine fallbezogenen Daten erhoben, die Rückschlüsse über den Migrationshintergrund von Covid-Infizierten geben. „Die SARS-CoV-2 Surveillance-Daten beinhalten die Daten über die Staatszugehörigkeit, aber nicht über das Geburtsland“, teilte die AGES in einem Gespräch mit. Dennoch werden immer wieder Stimmen von Ärzten laut, die behaupten, Migrant*innen seien häufiger infiziert als autochthone Österreicher*innen. Wie kommt es zu solchen Aussagen? „Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass ein hoher Anteil an Menschen, die wir positiv testen, Migrationshintergrund hat“, bestätigt Ramin Nikzad diese Behauptungen. Seit dem Beginn der Pandemie arbeitet der Arzt in der Erstversorgungsambulanz und COVID Pre-Triage vor dem Wiener AKH. „Aber das ist mein subjektives Empfinden, weil ich meine Patienten sehe und mit ihnen spreche“, fügt der Allgemeinmediziner hinzu. So scheint derzeit Vieles, was medial diskutiert wird, auf persönlichen Rückschlüssen zu basieren. 

4. Tragen Migrant*innen Schuld an der hohen Infektionsrate?

Laut Expert*innen spielt der sozioökonomische Status in der Virusverbreitung eine wesentliche Rolle. Und Migrant*innen haben in Österreich im Durchschnitt einen niedrigeren sozioökonomischen Status – sie besitzen weniger, arbeiten in unsichereren Arbeitsverhältnissen, wohnen auf engerem Raum. Es sei kein Zufall, dass besonders Menschen mit migrantischem Background von einer Erkrankung mit Covid-19 betroffen sind. Judith Kohlenberger verweist hier auf eine höhere „Vulnerabilität“ von Migrant*innen. „Weil ganz einfach Menschen mit Migrationshintergrund in den systemrelevanten Berufen überrepräsentiert sind“, so die Kulturwissenschaftlerin. Sie arbeiten in der Alten- und Krankenpflege, im Supermarkt und Lieferservice. Auch Thomas Liebig, Experte bei der OECD, weiß: „Personen mit Migrationsgeschichte sind häufiger frontline beschäftigt.“ In solchen Jobs liegen Begriffe wie Home-Office und Telearbeit in weiter Ferne. Arbeitnehmer*innen können sich und ihre Familien schwerer vor einer Covid-Ansteckung schützen. Dazu kommt, dass in diesen Berufssparten oftmals schlechte Arbeitsbedingungen herrschen. Den Angestellten ist es schwer möglich, den allseits bekannten Baby-Elefanten einzuhalten oder auf spezielle Hygienevorschriften zu achten. Vor allem Arbeiter*innen in bestimmten Branchen wie z.B. der Fleischverarbeitung, in der viele Migrant*innen arbeiten, seien hier besonders gefährdet, so Liebig. Zudem stehen Menschen, die sozioökonomisch schlecht dastehen und als Reinigungskraft, Hilfsarbeiter oder am Bau arbeiten, oft unter einem besonderen Druck. Weil sie das Gefühl haben, dass sie leichter austauschbar sind als andere, herrscht Angst ersetzt zu werden und die Arbeit zu verlieren. „Dieses Phänomen erlebe ich seit 10 Jahren, dass die Menschen sich regelrecht in die Arbeit schleppen, aus Angst vor der Kündigung, wenn sie im Krankenstand sind. Das fließt auch in die Covid-Krise mit hinein. Diese Menschen sind nicht dumm, sie stehen unter einem enormen Druck, finanziell gesehen“, erzählt der Allgemeinmediziner Nikzad. Neben den Bedingungen am Arbeitsplatz ist beengter Wohnraum eine wichtige Thematik. Im Vergleich zur Bevölkerung ohne zugewanderte Eltern leben Angehörige der migrantischen Communitys vermehrt in beengten Wohnsituationen, so OECD-Experte Liebig. Die die Ansteckungsgefahr ist in einer kleinen Wohnung, wo viele Personen relativ beengt unter einem Dach leben, natürlich viel höher als in einem großen Wohnraum. Menschen, die in Asylbewerber*innenheimen untergebracht sind, treffe es in diesem Punkt ebenfalls häufig. Mario Dujaković aus dem Team des Wiener Gesundheitsstadtrats erinnert an den Fall in Inzersdorf-Hagenbrunn: „Durch das Leiharbeiter-Cluster im Frühsommer 2020 wissen wir, dass Arbeitsbedingungen ein wichtiger Faktor sind. Viele Leiharbeiter*innen waren in Arbeiterheimen untergebracht. Sie wurden ungeschützt in Bussen trans- portiert. Jetzt kann es eben sein, dass Migrant*innen (also nicht Deutsche, Franzosen, Italiener – sondern Gastarbeiter*innen) dort stärker vertreten sind und damit auch im Infektionsgeschehen. Bei Inzersdorf-Hagenbrunn war das Verhältnis im Cluster zwischen Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen 50:50. Die hatten einfach alle die eine Gemeinsamkeit: die schlechten Arbeits- und Transportverhältnisse.“ Es geht also nicht um die Herkunft, sondern um die Lebensbedingungen von Menschen.

5. Ist ein Diskurs über den Zusammenhang von Migrant*innen und dem Virus vertretbar?

Dass wir inzwischen über eine Verbindung von Migrant*innen und dem Virus diskutieren, ist für Judith Kohlenberger nicht verwunderlich. Sie hat bereits im März 2020 darauf aufmerksam gemacht, dass ein höheres Infektionsrisiko bei Menschen mit Migrationshintergrund zu erwarten sei. „Ich habe auch damals schon auf die höhere Vulnerabilität hingewiesen.“ Kohlenberger betont an dieser Stelle nochmals, dass die individuellen Lebensumstände, die sozioökonomischen Hintergründe, hierbei eine wesentliche Rolle spielen. Migrant*innen sind in systemrelevanten Jobs überrepräsentiert, sie finden oft schwieriger Zugang zum Gesundheitssystem und leiden vermehrt an chronischen Vorerkrankungen – durch das Zusammenspiel dieser Faktoren war der Migrationsforscherin bereits zu Beginn der Pandemie bewusst: Das würde eines Tages noch zum Thema werden. „Ich habe aber nicht davon abgeleitet, dass man die Betroffenen zu Schuldigen macht, weil das erstens falsch wäre und zweitens niemanden in der Bewältigung der Krise hilft“, stellt Kohlenberger klar. „Sinnvoller wäre es, sich zu fragen, wie man Migrant*innen schützen kann und wie Maßnahmen kommuniziert werden müssen, damit das Infektionsgeschehen eingedämmt werden kann.“ Autochthone Österreicher*innen in prekären Arbeits- und Lebensbedingungen seien laut dem Allgemeinmediziner Nikzad gleichermaßen vom Virus betroffen. Nur redet niemand darüber. Warum das so ist, erklärt sich Kohlenberger so: „In der momentanen Diskussion rund um das Thema Migrant*innen gehe es schon lange nicht mehr um Fakten. Da werden wirtschaftliche und gesundheitliche Krisen strategisch genützt, um das migrationsskeptische Klima zu verschärfen.“ 

6. Was löst die Debatte bei Betroffenen aus?

„Nicht mein Kanzler“ titelt die heute-Journalistin Amra Durić und veröffentlicht darunter einen Blog auf dasbiber.at. „Als jemand, der seit seinem dritten Lebensjahr in Österreich lebt, hier zur Schule gegangen ist, studiert hat, arbeitet, Steuern zahlt, kann es doch nicht sein, dass mir der Bundeskanzler während einer Pressekonferenz das Gefühl gibt, dass ich nicht zu Österreich gehöre und Schuld an einer zweiten Corona-Welle und Hunderten Toten bin.“ Mit diesen Zeilen spricht die gebürtige Bosnierin vielen Migrant*innen aus der Seele. Die Enttäuschung und Wut innerhalb der migrantischen Communitys ist spürbar. Einmal zu oft werden Migrant*innen zu Sündenböcken gemacht. Denn um welche „Herkunftsländer“ ging es? Nicht um Deutschland oder Frankreich. Es wurden explizit die Türkei und der Balkan genannt. Viele Angehörige der türkischen und Ex-Yu-Community fühlen sich deswegen bewusst diskriminiert. Für den Arzt Ramin Nikzad hat die ganze Diskussion einen populistischen Touch. „Jetzt herzugehen und die Schuld auf Migrant*innen zu schieben, dass sie das Virus ‚einschleppen’, so als wären wir in Österreich virusfrei, empfinde ich unglaublich populistisch“, sagt Nikzad, der selbst im Iran geboren ist. Er gehörte zu der Gruppe, die im ersten Lockdown noch als Held*innen beklatscht wurde. „Jetzt sind wir gut genug“, dachte er sich damals. „Ich finde es schon sehr undankbar, wenn nun genau diesen Migrant*innen die Schuld gegeben wird.“ Aber wo eine Idealisierung passiere, sei auch die Entwertung nicht weit, meint Nikzad. „Was viele Menschen da gerade wahrnehmen, sind Marginalisierungserfahrungen“, beschreibt die Kulturwissenschaftlerin Kohlenberger und warnt vor einer Spaltung der Gesellschaft. „Genau solche Erfahrungen können dazu führen, dass sich Menschen noch weiter von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft abwenden.“ Für Kohlenberger ist Integration keine einseitige Bringschuld sondern ein dynamischer Prozess für die gesamte Gesellschaft, die immer wieder daran arbeiten muss, dass alle Bevölkerungsgruppen in die Gesellschaft hineingeholt werden. Vor allem sei es wichtig den Beitrag und die Leistung von Migrant*innen bei der Bewältigung der Krise zu würdigen, empfiehlt Kohlenberger. Das Applaudieren im März mag ja eine nette Geste gewesen sein, doch für die Integrationsexpertin ist das zu wenig. „Es gehört angesprochen, dass wir es zu einem großen Teil auch der migrantischen Bevölkerung zu verdanken haben, dass die Versorgung im Land trotz Krise noch immer funktioniert.“ 

7. Wer hat den Imfpstoff entwickelt?

Die Migranten waren es! Das Forscherehepaar Uğur Şahin und Özlem Türeci sind Kinder türkischer Einwanderer in Deutschland und haben in ihrer Firma BioNTech in kürzester Zeit einen Covid-Impfstoff entwickelt, der Ende 2020 auch in Österreich zum Einsatz gekommen ist.

 

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