„Erdoğan ist ein Macher!“

02. Juni 2023

Recep Tayyip Erdoğan bekommt eine dritte Amtszeit als Präsident der Türkei. Auch in Österreich wurde viel gejubelt. Wider Erwarten hat er gerade aus den türkischen Erdbebengebieten viel Zuspruch von seiner Wählerschaft erhalten - waren es doch die Regionen, die mangelnde Hilfe seitens Regierung beklagt hatten. 

Ein Lokalaugenschein. 

 

Von Özben Önal, Mitarbeit: Aleksandra Tulej

 

Foto: Zoe Opratko
Foto: Zoe Opratko

 

Sonntag, der 28 Mai: Seit vier Stunden rutsche ich nervös auf dem Sofa hin und her, während die Wahlergebnisse im türkischen Fernsehen immer deutlicher werden. Bis zur letzten Sekunde hoffte ich auf einen Wendepunkt – jedoch vergebens, das Ergebnis steht fest. Während die eine Hälfte der Bevölkerung große Türkei-Fahnen schwenkt und zu lauter Musik unter buntem Feuerwerk den Sieg von Recep Tayyip Erdoğan feiert, sitzt die andere Hälfte, zu der auch ich gehöre, enttäuscht und wütend Zuhause vor den Smartphones, um Trost zu suchen. Die Ära Erdoğan geht weiter: Er bleibt nach der knappen Stichwahl Präsident der Türkei und seine Partei, die AKP, hat die Mehrheit im Parlament. Mit ihr zusammen sind Abgeordnete der ultranationalistischen Partei MHP und der islamisch-konservativen HÜDA PAR, die vor allem für die Orientierung an der Ideologie der Hisbollah bekannt ist, ins Parlament gewählt worden.

Hupende Autokorsos in Rot und Weiß zogen sich auch durch die Straßen von Hatay, die noch vor vier Monaten gefüllt waren mit Menschen, die ihre Existenzen verloren hatten und verschüttete Angehörige suchten. Die Provinz Hatay liegt im Süden der Türkei und wurde mitunter am stärksten von den verheerenden Erdbeben am sechsten Februar getroffen. Nach offiziellen Angaben starben in der Türkei insgesamt 50.000 Menschen, davon 20.000 in Hatay. Vor einigen Wochen wurden die Ergebnisse der ersten Wahl aus den Erdbebengebieten veröffentlicht – Erdoğan erlangte eine Mehrheit der Stimmen oder verfehlte diese zumeist nur knapp. Es wurde lange befürchtet, dass nur wenige Menschen in die Wahllokale in der Region gehen würden: Von den rund vier Millionen geflüchteten Menschen haben sich nur 130.000 am neuen Wohnort für die Wahl gemeldet, der Rest musste in die Erdbebengebiete zurückreisen, um ihre Stimme abzugeben. Die Wahllokale wurden provisorisch in Containern eingerichtet, der Flughafen in Hatay war für ankommende Flüge bis nach den Wahlen geschlossen. Trotz aller Schwierigkeiten lag die Wahlbeteiligung dort zwischen 80 und 86 Prozent, also nur ein wenig unter dem türkischen Durchschnitt. 

Während die Stimmen für Erdoğan in Hatay mit nur knapp mehr als der Hälfte bei 50,1 % lagen, sah es in dem Epizentrum des Erdbebens, Kahramanmaraş, schon ganz anders aus: 75,8 % der Wähler:innen entschieden sich für eine weitere Amtszeit des Präsidenten. Auch in dem betroffenen Gaziantep fielen die Ergebnisse ähnlich aus – 62,7 % der Stimmen gingen an Erdoğan. Zu erwarten war eine niedrige Erfolgsquote in dem kurdischen Diyarbakir: Die prokurdische Partei HDP hatte vor den Wahlen sehr deutlich gemacht, den Oppositionsführer Kılıçdaroğlu zu unterstützen und so entschieden auch ihre Wähler:innen – nur 28,3 % der Stimmen konnte Recep Tayyip Erdoğan dort erzielen. 

 

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„wären sie doch alle verreckt

Die Reaktionen auf den hohen Erdoğan-Zuspruch in den Erdbebengebieten ließen nicht lange auf sich warten: 

Es hagelte hasserfüllte Kritik auf Twitter und anderen sozialen Medien. Mit Aussagen wie „Wären sie doch alle verreckt!“ oder „Ich trauere um jeden Cent, den ich gespendet habe!“ zog sich eine empörte Welle der Wut und der Abneigung durch Teile der Bevölkerung – vor allem außerhalb der Städte, die durch das Erbeben verwüstet worden waren. Auch ich reagierte auf die Wahlergebnisse zunächst irritiert und enttäuscht, aber die Tweets machten mich fassungslos. Dass die Spendengelder und Sachgüter nur eine Tauschleistung im Gegenzug abgegebener Stimmen für die Opposition waren, war mir nicht bewusst gewesen. Dass man den Menschen den Tod wünschen würde, auch meinen Familienangehörigen, weil sie zum Teil nicht wählen konnten, oder auch aus Zukunfts- und Existenzängsten ihre Stimmen jener Regierung gaben, die ihnen primär finanzielle Unterstützung versprach, auch nicht. Aber wagen wir erst mal einen Rückblick: 

Drei Monate verfolgte ich über die sozialen Medien und türkische Nachrichten, wie die Heimatstadt meiner Eltern – mein zweites Zuhause – zugrunde ging und in Schutt und Asche verschwand. Tagelang blieb ich vor dem Fernseher sitzen und wartete auf Anrufe meiner Verwandten und Bekannten. Einige kamen durch, andere wiederum nie. Insgesamt elf Provinzen in der Türkei und den kurdischen Regionen waren betroffen, auch Teile Syriens wurden verwüstet. Nach einigen Wochen war die Berichterstattung abgeflaut, die Regionen wurden fast nicht mehr thematisiert, der neue Alltag der Menschen dort ging und geht aber weiter. Wir wollten uns und euch mit eigenen Augen ein Bild von der Lage machen. Mit einem flauen Magen und Verunsicherung setzte ich mich also Ende April gemeinsam mit meiner Kollegin Aleksandra Tulej in den Flieger und bereitete mich auf den Anblick des zerstörten Stadtzentrums vor.

Als mein Cousin Mustafa uns vom Flughafen in Adana abholt und wir uns auf die vierstündige Autofahrt machen, ist es bereits Nacht. Durch die Dunkelheit lassen sich nur die Fassaden der schwer beschädigten Reihenhäuser erkennen, die noch vor ein paar Monaten von Familien bewohnt waren. Die Bilder der Trümmer kannte ich schon von Social Media und aus dem Fernsehen, was man allerdings nicht auf Bild und Ton transportieren kann, ist der Geruch, der uns die ganze Zeit über begleitet – der Geruch von Lebensmitteln, die seit drei Monaten nicht im Kühlschrank waren und seitdem auf den Straßen rumliegen. Die Kühlketten in den Supermärkten und Privathaushalten wurden unterbrochen, die Katzen essen das vergammelte Fleisch, das auf den Straßen liegt, überall wirbelt Staub auf – aber wir gehen immer tiefer in die Stadt hinein, sprachlos und eingeschüchtert. Auf den Straßen patrouilliert das Militär, da die Wohnungen, die noch stehen, nach wie vor geplündert werden. Antakya ist eine Geisterstadt: Ein Leben existiert hier nicht mehr, nur noch Gerüste und Schatten dessen, was die Stadt einmal war. In den Häusern stehen immer noch umgekippte Möbel, Teller auf den Tischen und Vorhänge flattern im Fenster – alles so, wie es vor drei Monaten zurückgelassen wurde. 

Ich stehe nun also das erste Mal wieder in der Straße, in der ich viele Jahre meiner Kindheit und Jugend verbracht habe. Das Haus meiner Familie ist nicht mehr aufzufinden, lediglich Trümmer über Trümmer füllen das Stadtviertel im Zentrum der Hauptstadt Antakya. Kein Restaurant, keine Bar, kein Café steht mehr dort, wo es einmal war. 

Mein Cousin führt uns durch die Gassen, die nicht wiederzuerkennen sind – auch er hat seine Wohnung verloren und kommt bei Verwandten unter – diese Lösung war temporär gedacht, aber heute, vier Monate nach dem Beben, ist immer noch keine langfristige Alternative in Sicht. Aber Mustafa steckt in einer vergleichsweise guten Situation, wie er uns erzählt. Nicht alle können bei Verwandten unterkommen: Etwa 250.000 Menschen in der Region leben in Zelt- und Containercamps. 

 

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Die Zustände in den Camps von Hatay werden immer unerträglicher

Das Devrent Zeltcamp ist eines davon. Es befindet sich in der Stadt Yayladağı in Hatay, etwa fünf Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Die nummerierten Zelte reihen sich in einem Waldstück abseits des Stadtzentrums aneinander. Zwischen den Bäumen sind Seile befestigt, an denen Wäsche hängt. Durch den Schutt, der täglich von Tausenden Lastwagen davongetragen wird, ziehen Staubwolken durch die gesamte Region, der auch an der frisch gewaschenen Kleidung haftet. Mit jedem Atemzug ziehen wir diesen Staub direkt in unsere Lungen und müssen bereits nach einigen Stunden ständig husten. Diesen Zuständen sind seit Monaten Nilüfer und ihre Familie ausgesetzt. Da der Boden in Yayladağı, im Gegensatz zu dem Rest von Hatay, sehr stabil ist, gab es hier kaum eingestürzte Gebäude. Deshalb sind etwa 85.000 Menschen aus Antakya hierher geflüchtet und wohnen seitdem bei Verwandten oder in einem der Camps. „Meine Kinder schlafen quasi aufeinander. Wir können im Zelt kaum atmen und die Luft draußen wird immer schlimmer, erzählt Nilüfer. „Wir wären schon dankbar dafür, endlich einen Container zugewiesen zu bekommen, aber auch das passiert nicht.“ In der gesamten Region werden vermehrt Containercamps errichtet, doch diese reichen längst nicht für alle. Der Staat weist die begrenzten Container zu. Den Vorrang haben alte und kranke Menschen sowie Personen mit Behinderungen. Tagsüber sind die heißen Sommertemperaturen mittlerweile deutlich zu spüren und die Hitze macht das Schlafen in den Zelten immer unerträglicher. Die wütende Stimmung unter den Bewohner:innen des Camps ist zu spüren. Auch die Hygiene wird mit dem kommenden Sommer zu einem immer größeren Problem – denn es gibt nur Gemeinschaftsduschen und auch sanitäre Anlagen sind noch immer begrenzt. 

 

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Überall herrscht Koordinations-Chaos

Im Container Camp in Antakya ist die Lage ebenfalls schwierig. Nursena, eine freiwillige Psychiaterin, empfängt uns am Eingang des Camps, denn der Zutritt ist für Unbefugte normalerweise verboten. Wir geben unsere Ausweise den Polizisten, die den Eingang bewachen, und dürfen Nursena in einen der vielen Container begleiten. Wir setzen uns an ihren Schreibtisch, die Luft ist stickig und heiß. „Wir haben in keinem der Container Klimaanlagen, ich weiß nicht, wie die Menschen es hier im Sommer aushalten sollen, erklärt sie, während sie türkischen Kaffee für uns kocht. Auch sie beklagt die Zustände der Camps und bangt um dauerhafte Lösungen. „In diesem Containercamp leben ungefähr 3000 Menschen aus der Region und das sind vergleichsweise noch die Glücklichen. Aber das geht so nicht mehr lange weiter, wir kriegen die Schulklassen nicht koordiniert, weil die Kinder mal kommen und mal nicht. Es wechseln aber auch ständig die Lehrer:innen, also kann ich das den Kindern auch nicht nachtragen. Wir brauchen außerdem viel mehr Gesundheitspersonal. Aktuell sind wir als Psychiaterinnen zu dritt hier im Camp. Könnt ihr euch vorstellen, wie viele Termine wir pro Tag annehmen?“ Der konstante Wechsel von Psychiater:innen, Lehrer:innen und dem Gesundheitspersonal liegt vor allem an den schwierigen Lebensbedingungen vor Ort. Denn viele von ihnen, die nicht bei Bekannten oder Verwandten unterkommen können, sind ebenfalls gezwungen, in Zelten oder Containern zu schlafen und davon gibt es schlichtweg nicht genug. Unter diesen Umständen leiden nicht nur die durch das Erdbeben traumatisierten Menschen, die ständig mit wechselnden Bezugspersonen konfrontiert werden. Auch die Bildung der Kinder in den Camps leidet unter den sich ändernden Lehrpersonen stark. Die meisten Lehrer:innen, denen es möglich war, sind aus Hatay geflohen, so wie viele andere Menschen auch. Dadurch fehlen vor allem in der Region Lehrpersonen. Zur Zeit befinden sich in den Erdbebenregionen etwa 3,5 Millionen Kinder und Jugendliche, die schulpflichtig sind. Die aktuelle Lage ist eine enorme Herausforderung für das Bildungsministerium, noch immer fehlen Perspektiven. Die fehlen nicht nur den Menschen in den Lagern – die Perspektivlosigkeit zieht sich als Thema wie ein roter Faden durch den gesamten Wahlkampf und bleibt auch jetzt, nachdem die Wahl entschieden ist. 

 

Die Sehnsucht nach Stabilität

„So sehr ich mir auch wünschte, das Wahlergebnis sähe anders aus, als es ist, kann ich die Menschen, die in Containern und Zelten noch immer um den Verlust ihrer Angehörigen trauern und sich um ihre Zukunft sorgen und deshalb Erdoğan wählen, verstehen, erzählt mir Sümbül Sümbültepe. Er ist Künstler aus Hatay und lebt seit vier Jahren mit seiner Familie in Wien. Bei dem Erdbeben verlor er viele seiner engsten Verwandten. Er flog am zweiten Tag hin und half tagelang, die Leichen seiner verstorbenen Familienmitglieder zu bergen. „Einige meiner Bekannten arbeiten in Container- und Zeltcamps. Vor den Wahlen besuchten Regierungsmitglieder die Lager und versprachen ihnen Häuser und finanzielle Hilfe. Wenn ich mich in diese Menschen hineinversetze, kann ich nachvollziehen, dass sie sich vor allem nach Stabilität sehnen. Überlegen sie doch mal: Innerhalb von Sekunden verlieren sie ihre Wohnung, ihre nächsten Verwandten, ihre gesamte Existenz und finden sich plötzlich in einem Zelt wieder. Natürlich ist ihr sehnlichster Wunsch, so schnell wie möglich in ein halbwegs normales Leben zurückkehren zu können. Sie müssen auf die Versprechen vertrauen, die ihnen gemacht werden, ihr Leben hängt davon ab, deshalb hinterfragen viele diese Propaganda nicht.“ Tatsächlich war eines der Hauptthemen während der Wahlkampagnen der Wiederaufbau der Erdbebenregionen. Erdoğan versprach in seinen Reden immer wieder, innerhalb von einem Jahr Antakya und andere verwüstete Städte neu zu bauen. Im Zentrum von Antakya werden nach vier Monaten immer noch Trümmer weggeräumt, Hunderte schwer beschädigte Gebäude müssen noch abgerissen werden, sie sind nicht mehr bewohnbar. Auch wenn die Arbeiten im vollen Gange sind, versinkt die Stadt noch immer im Chaos und ein Ende ist nicht in Sicht. Aus der Hauptstadt flohen etwa 700.000 Menschen, die Stadt wurde komplett zerstört. Die Menschen sind dabei, ihre Existenzen von neu an aufzubauen, und hoffen dabei auf Unterstützung seitens der Regierung. Für viele hier wird es allerdings gar keine Zukunft mehr geben: Auf dem eigens errichteten Friedhof der Namenlosen in Antakya sind etwa 5000 Menschen begraben worden – allesamt Opfer des Erdbebens, zum Teil liegen ganze Familien hier. Die Toten werden erst nach und nach identifiziert, viele von ihnen bleiben namenlos, da niemand mehr lebt, der sie identifizieren könnte. Auf allen Gräbern prangt dasselbe Todesdatum: der 6.2.2023. 

 

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Die Versprechungen zu einem schnellen Wiederaufbau

Im Rathaus von Yayladağı treffen wir den Bürgermeister Mehmet Yalçın, er ist Mitglied der Regierungspartei. Wir werden in seinem Büro empfangen, sein pompöser Schreibtisch ist verziert mit goldenen Details, die an kitschige Szenen des osmanischen Reichs erinnern. Dahinter auf der linken Seite hängt an der Wand ein großes Porträt des Präsidenten. Rechts von ihm hängt ein noch größeres Bild von Mustafa Kemal Atatürk – zwischen ihnen eine große Türkei-Fahne. „Wir planen innerhalb der ersten anderthalb Jahre alle Bauten hier in Yayladağı fertigzustellen, sodass die Menschen danach in die Häuser ziehen können. Im Zentrum von Antakya darf auf vielen Flächen in der Nähe der Verwerfungslinie nicht gebaut werden, stattdessen sollen diese mit Grünflächen umsäumt werden. Und wie unser Präsident bereits sagte, es darf nicht mehr als Erdgeschoss plus drei Stockwerke gebaut werden. Der Bebauungsplan für Yayladağı liegt bei zwei Etagen im Neubaugebiet.“ Die Regierung plant zwar eine schnelle Umsetzung des Wiederaufbaus, diese erscheint unter den aktuellen Bedingungen allerdings sehr unrealistisch. Die Menschen sind verängstigt und ringen mit Existenz- und Zukunftsängsten. Das Einzige, das ihnen bleibt, ist die Hoffnung darauf, dass die Regierung ihre Versprechen auch nach dem erlangten Sieg hält.

 

Enttäuschung, Wut und Unverständnis

Die Stimmung in den Regionen ist politisch enorm gespalten, so wie in den restlichen Teilen der Türkei auch. „In der ersten Nacht haben sie bis in den Morgen hinein gefeiert und sich gefreut. Die Menschen, die noch vor einigen Monaten ihre engsten Verwandten verloren, haben sich in dieser Nacht grölend mit Fahnen in der Hand versammelt und den Sieg von Erdoğan gefeiert, als sei ein Fußballspiel gewonnen worden. Ich kann das einfach nicht verstehen, erzählt mir Hatice am Telefon. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Yayladağı. Auch sie hat, wie fast alle Menschen in Hatay, Familienmitglieder und Freund:innen verloren, die Reaktionen auf den Wahlsieg machen sie wütend. „Trotzdem frage ich mich auch, ob man ihnen das überhaupt vorwerfen kann. Die Propaganda, die die Regierung jetzt schon seit Jahren betreibt, hat eine Mentalität geschaffen, in der Erdoğan wie ein Vater gesehen wird. Es gibt sogar Menschen, die sagen, dass sie auch dann noch dankbar wären, wenn sie nur noch trockenes Brot zu essen hätten, Hauptsache ihr Reis (Türkisch für Obmann) bleibt. Wir hatten so viel Hoffnung, dass sich endlich etwas ändert, aber vielleicht verdienen wir es als Volk auch, so geführt zu werden, schließlich war es unsere Entscheidung.“ Enttäuschung und Unverständnis herrscht zwischen jenen, die sich mit dem Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu nach 20 Jahren AKP-Regierung eine Veränderung und Rückkehr in politische Entscheidungsmacht erhofft hatten. 2018 hatte Erdoğan eine Verfassungsreform durchgesetzt, um Präsident werden zu können. Sümbül gibt der Regierung die Schuld an der immer stärker werdenden Polarisierung der türkischen Gesellschaft. „Die Türkei entwickelt sich immer weiter zurück, am meisten hat die Bildung darunter zu leiden. Und das ist auch die Politik der AKP – sie wollen ein ungebildetes Volk, das keine Entscheidung, kein Versagen hinterfragt und ihnen blind gehorcht. Und alle, die das nicht tun, stempeln sie als Staatsfeinde oder Terroristen ab und hetzen die Menschen noch mehr gegeneinander auf.

 

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„Erdoğan ist ein Macher!

Aber das sehen nicht alle aus der Region so – der Präsident stößt noch bei vielen Menschen auf Zuspruch: „Als Erdoğan nach dem Erdbeben versprach, das eingestürzte Krankenhaus hier in Defne, einem Stadtteil von Hatay, innerhalb von zwei Monaten neu zu errichten, hat sich die Opposition nur darüber lustig gemacht. Sie haben ihn nicht ernst genommen. Aber er hat sein Versprechen gehalten, obwohl er hier normalerweise sehr wenig Stimmen bekommt. Das Krankenhaus ist wieder funktionsfähig. Er hat bisher alle Projekte realisiert, die geplant waren. Bevor die Opposition Erdoğan kritisiert, sollte sie sich vielleicht fragen, warum sie nicht genug Stimmen bekommt. Wir können ihnen nicht vertrauen, sie sehen uns sowieso als ungebildet und minderwertig an. Erdoğan hingegen ist ein Macher, er tut, was er sagt, erklärt Yusuf. Auch er wohnt in einer Kleinstadt in Hatay mit seiner Familie und hofft auf einen schnellen Wiederaufbau seiner Heimat. „Als die Menschen mit Hassnachrichten und Drohungen auf die Wahlergebnisse reagiert haben, waren wir unglaublich verletzt.“ Er glaubt, diese Reaktionen hätten zusätzlich dazu beigetragen, dass Menschen aus den Erdbebenregionen aus Trotz Erdoğan wählten. 

Denn Erdoğan versprach nicht nur allen Eigentümer:innen eine Wohnung, die zu 60 % von der Regierung finanziert werden soll, sondern auch konkrete Bebauungspläne, um eine Zukunft in Hatay zu sichern. Die Menschen aus Hatay sind sehr verbunden mit ihrer Heimatstadt, viele der Geflüchteten hoffen auf eine baldige Rückkehr. Einzelne Lokale und kleine Geschäfte, die bei dem Erdbeben nicht zerstört worden waren, haben wieder geöffnet, die Bevölkerung vor Ort versucht, mit aller Kraft in einen normalen Alltag zurückzukehren. Ob die Bebauung tatsächlich innerhalb der geplanten Zeitspanne umgesetzt wird, lässt sich wohl erst nach dem Abriss der restlichen leerstehenden Gebäude abschätzen. Nach dem Erdbeben machte sich bei der türkischen Bevölkerung ein kollektives Gefühl der Trauer, Einigkeit und des Zusammenhaltes breit – doch das wich schnell dem Misstrauen, der Spaltung und der geflüsterten Regierungskritik. Wird die „neue“ Ära Erdoğan tatsächlich Veränderungen mit sich bringen? Den Hataylis (Selbstbezeichnung der Menschen, die aus Hatay kommen) bleibt vorerst nur die Hoffnung. ●

 

 

Kommentare

 

Das eigentliche grosse Problem der Türkei ist, dass es keine Partei gibt, die nicht entweder extremistische, nationalistische, kommunistische oder religiöse Schwerpunkte hat.

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