Gesucht: Eltern auf Zeit

22. Oktober 2019

In Wien werden dringend Pflegeeltern gesucht. Biber hat mit Jürgen Czernohorszky, Stadtrat für Bildung, Integration und Jugend, und Josef Taucher, SPÖ-Klubvorsitzender und selbst Adoptiv-Vater, über das Modell, über „Matching“ und den Bedarf an Eltern mit Migrationshintergrund gesprochen. Und dabei den Unterschied zwischen „Herz-“ und „Bauchmamas“ gelernt.

Von: Delna Antia -Tatić und Aleksandra Tulej, Fotos: Christoph Liebentritt

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BIBER: Was macht Kinder zu Pflegekindern?

JOSEF TAUCHER: Wenn die leiblichen Eltern sich nicht um ihr Kind kümmern können, übernimmt der Staat. Das kann aus unterschiedlichen Gründen sein, zum Beispiel wenn die Eltern sterben, auf der Straße landen oder sie das Kind nach der Geburt erst gar nicht annehmen wollen. Auch in Fällen von familiärer Gewalt, Vernachlässigung oder Drogensucht greift die Stadt Wien ein. Es geht darum, den Kindern einen sicheren Rahmen zu bieten, in dem sie sich geborgen fühlen.

JÜRGEN CZERNOHORSZKY: Jedes Kind, egal, welches Geschlecht oder Alter, hat ein Recht auf Liebe, Geborgenheit und Schutz und darauf, gewaltfrei aufzuwachsen. Wenn die leiblichen Eltern dies nicht erfüllen können, kommen Pflegefamilien zum Einsatz. In Wien leben derzeit 1700 Kinder in Pflegefamilien.

Wie lange bleiben solche Kinder dann in der Regel bei Pflegeeltern?

CZERNOHORSZKY: Das ist sehr situationsabhängig. Es gibt Fälle, wo die Kinder in Krisensituationen aus der Familie geholt werden und dann wieder nach der Überbrückung der Krise zu den Eltern zurückkehren. Andere bleiben über Jahre oder auch für immer bei den Pflegefamilien.

Wie werden die Pflegeeltern ausgewählt?

CZERNOHORSZKY: Es gibt immer eine genaue Auseinandersetzung mit den jeweiligen InteressentInnen. Das ist oft ein mehrmonatiger Prozess, es gibt Schulungen von der Kinder- und Jugendhilfe, die für die BewerberInnen verpflichtend sind. Ist das einmal abgeschlossen, bekommen die potentiellen Pflegeeltern eine Pflegebewilligung. Man braucht aber keine pädagogische Ausbildung.

Auf was wird da genau geachtet?

CZERNOHORSZKY: Es gibt das sogenannte „Matching“, wo dann von SozialarbeiterInnen der MA11 genau geschaut wird, welche Eltern zu welchem Kind passen, welche Vorgeschichte das Kind hat, welchen Lebenslauf die Eltern. Das gilt natürlich für beide Seiten, zwangsbeglückt wird niemand. Die SozialarbeiterInnen besuchen die Familien auch vorab zuhause und prüfen, ob das Umfeld kindgerecht ist.

TAUCHER: Wenn es zum Beispiel eine Wohnung ist, in der alles etepetete eingerichtet ist und man beim Hineinkommen Angst hat, etwas kaputt zu machen, ist das nicht gut. Aber ein Messie-Haushalt darf es natürlich auch nicht sein. Es geht darum, ein möglichst familienfreundliches Umfeld für das Kind zu schaffen.

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„In der Regel sind Pflegeeltern oft reflektierter als biologische Eltern“

In der Regel dürfen Kinder, die bei Pflegeeltern aufwachsen, Kontakt zu ihren biologischen Eltern haben. Gestaltet sich das in der Praxis schwierig?

CZERNOHORSZKY: Es darf keinem Kind vorenthalten werden, seine Geschichte und die Geschichte seiner Herkunft zu erfahren. Meistens klappt das auch ganz gut, wenn die Kinder Kontakt zu den leiblichen Eltern haben. Das ist dann oft so wie in Patchworkfamilien. Natürlich gibt es Fälle, wo die Kinder zuhause zum Beispiel Gewalt erlebt haben und dann keinen Kontakt mehr zu der biologischen Familie haben können.

Herr Taucher, Sie selbst haben Ihre Tochter adoptiert. Wie war das in Ihrem Fall?

TAUCHER: Wir sind von Anfang an sehr offen mit dem Thema umgegangen. Wir sprechen zuhause von einer „Bauchmama“ und einer „Herzmama“. Meine achtjährige Tochter ist stolz drauf, dass sie so gesehen zwei Mamas hat. Sie kam durch eine anonyme Geburt zu uns, das heißt, über die leibliche Mutter ist nichts außer einem Pseudonym bekannt. Ich bin aber der Meinung, dass man dem Kind von Anfang an die Wahrheit erzählen sollte. Irgendwann kommt es so oder so raus, und dann steht man als Vertrauensperson wie ein Lügner da.

Bei einer Pflegeelternschaft ist ja das Ziel, anders als bei einer Adoption, dass das Kind wieder zurück zu den Eltern kommt. Ist dieses Ziel für die Pflegeeltern nicht emotional schwer zu verfolgen?

CZERNOHORSZKY: Es gibt Settings, wo es sehr wahrscheinlich ist, dass das Kind wieder zu den ursprünglichen Eltern zurückkehrt, vor allem im Bereich der Krisenpflege. Da ist auch die Betreuung und Unterstützung seitens der Kinderjugendhilfe sehr groß. In anderen Situationen weiß man relativ schnell, dass das Kind nicht in die biologische Familie zurückkann. Im Mittelpunkt aller Überlegungen steht aber immer das Wohl des Kindes, das ist auch für die Pflegeeltern ein wichtiger Aspekt.

TAUCHER: Pflegeeltern lieben ihre Kinder oft genauso als wären sie ihre leiblichen. Natürlich kann man da die Sorge haben, dass das Kind nach zehn Jahren wieder zu seinen biologischen Eltern zurückkehrt. Aber das bedeutet nicht zwangsläufig einen Kontaktabbruch. Man kann ja später auch mit dem Kind in Kontakt bleiben, gemeinsam ins Kino gehen oder es auf den Ski-Urlaub mitnehmen. Wenn das gewollt wird. Ein Kind ist ja kein Besitz, auch ein leibliches nicht. Ein Kind ist nichts, was ich mir anschaffe.

Wieviel bekommen Pflegeeltern für ihre Tätigkeit?

CZERNOHORSZKY: Grundsätzlich bekommen alle Pflegeeltern je nach Alter des Kindes Pflegekindergeld. Darüber hinaus gibt es für Pflegeeltern zusätzlich die Möglichkeit, sich anstellen zu lassen – hier haben wir zwei verschiedene Anstellungsmodelle entwickelt, um Pflegeeltern auch besser abzusichern.

Hat das Kind, wenn es schon alt genug ist, Mitentscheidungsrecht, in welche Familie es kommt?

CZERNOHORSZKY: Das Wichtigste ist, dass die Situation sowohl für die Eltern als auch für das Kind passt. Dazu ist das Matching da. Durch die intensive Betreuung durch SozialarbeiterInnen gibt es auch immer jemanden, an den man sich wenden kann, wenn es nicht passt. Man kann an jedem Punkt sagen „Stopp. Ich möchte das doch nicht“. Das gilt sowohl für Eltern als auch für die Kinder.

Gibt es viele Pflegeeltern mit Migrationshintergrund?

CZERNOHORSZKY: Da ist auf jeden Fall noch Luft nach oben: Pflegeeltern mit Migrationshintergrund gibt es tendenziell zu wenige. Grundsätzlich ist das Pflegemodell aber auch für gleichgeschlechtliche Paare oder Alleinstehende offen, da wird nicht diskriminiert. TAUCHER: Die leiblichen Eltern dürfen auch Ansprüche stellen, was die Pflegefamilie betrifft. Manche Eltern wollen zum Beispiel, dass ihr Kind in einer musikalischen oder tierlieben Familie aufwächst. CZERNOHORSZKY: Das gilt auch für kulturell-religiöse Vorbehalte. Wenn sich zum Beispiel gläubige Eltern nicht vorstellen können, dass ihr Kind zu einer laizistischen Pflegefamilie kommt, wird das auch berücksichtigt. Was sind die größten Vorurteile, mit denen Pflegeeltern konfrontiert werden? TAUCHER: Dass eine Pflegefamilie auch nur in irgendeiner Art eine andere Lebensweise vermittelt als eine biologische Familie. Da gibt es genau dieselben Erziehungsherausforderungen und Probleme wie in leiblichen Familien. Meine Tochter kam zu uns, als sie zwei Tage alt war. Ich hatte anfangs Sorge, wie wohl die Gefühle zwischen dem Baby und mir sein würden. Als ich sie dann zum ersten Mal im Arm gehalten habe, sind alle diese Gedanken verflogen. Meine Frau und ich hätten zwar ein biologisches Kind haben können, haben uns aber bewusst für eine Adoption entschieden.

CZERNOHORSZKY: In der Regel sind Pflegeeltern oft reflektierter als biologische Eltern. Allein, weil es diese Monate der intensiven Vorbereitung gibt und man sich bewusst darauf einlässt. Außerdem ist man dann in der Pflegeeltern-Community vernetzt und kann sich austauschen.

Seit wann gibt es das System der Pflegeelternschaft in Österreich?

CZERNOHORSZKY: Das gab es so gesehen schon seit Anfang der zweiten Republik. Aber Mitte der 1990er-Jahre wurden im Zuge der sogenannten „Heimreform“ alle heimähnlichen Institutionen der Stadt Wien geschlossen und man hat mehr auf familienähnliche Modelle gesetzt. So gibt es heutzutage statt Kinderheimen Wohngemeinschaften, in denen bis zu acht Kinder leben. Dort wird dann darauf geschaut, dass die Kinder so normal wie möglich in einem familiären Umfeld aufwachsen.

TAUCHER: Liebe und Geborgenheit hängen ja nicht von einer biologischen Verwandtschaft ab.

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