Ich bin ein Syrer. Aber eigentlich bin ich Albaner. Aber vielleicht bin ich Türke.

21. Oktober 2020

Vor einer Woche war ich mit Freunden bei einem syrischen Bekannten und seiner Familie zum Essen eingeladen. Nach dem üppigen und bunten Abendessen servierte er uns eine Nachspeise mit Mokka. Ich naschte ein kleines Stück Baklava und eine langsam wachsende Enttäuschung bahnte sich in meinem Inneren an. Es schmeckte zu süß und fast faulig. „Das hast du sicher beim Türken gekauft, oder? Das 
ist keine Baklava! Wer noch keine Baklava aus Damaskus gegessen hat, hat die Hälfte seines Lebens verloren!”, protestierte ich. Unser Gastgeber schaute mich kurz nachdenklich an, lächelte spöttisch und sagte: „Ich habe diese Baklava direkt aus Damaskus geschenkt bekommen.” Dann zeigte er mir die Verpackung mit der Aufschrift eines Spezialitätengeschäftes in Damaskus. Nach dem Abend blieb mir eine Frage für einige Tage
 im Kopf hängen: Warum hat der Heimatort für mich und für viele Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, einen Stellenwert, der fast ideal und heilig ist?

Als ich vor sechs Jahren nach Österreich kam, dachte ich jeden Tag in der Früh an Damaskus. Ich litt an einer Krankheit namens Sehnsucht. Ich wusste nicht, dass ein Exilmensch so viel an seine Heimat, die man ihm verboten hat, denken kann. Wenn mich damals jemand gefragt hat: „Willst du zurück nach Syrien gehen, wenn der Krieg vorbei ist?”, war meine Antwort eindeutig: “Ja.” Und jedes Mal, wenn ich mit meiner Familie in Damaskus telefonierte, haben sie meine Wünsche zurückzukehren heftig und verständnislos kritisiert: „Was willst du da machen? Alle jungen Männer sehnen sich danach auszuwandern und diese Hölle zu verlassen und du willst zurück?”

Flucht und Migration sind eine uralte Realität, über die unzählige Romane, Gedichte und Odysseen geschrieben wurden. Als ich noch in Syrien lebte, traf ich täglich auf Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund. Aus heutiger Sicht irritiert mich meine damals fehlende Sensibilität und mein geringes Verständnis für diese Menschen. Syrien, wie es die amerikanische Sozialanthropologin Dawn Charry bezeichnet, ist ein Asylstaat. In Syrien leben seit Generationen Circassianer, Albaner, Griechen, Armenier, Somalier, Iraker und Palästinenser. Ich habe mich mit dem Leben dieser Menschen nie bewusst auseinandergesetzt. Es schien mir, dass es niemanden interessieren würde, über das Thema Heimat, Exil oder Zugehörigkeit zu reden. Im Nachhinein finde ich das schade. Aber auf der anderen Seite erlebte ich in Damaskus nie eine Integrationsdebatte oder überhebliche Anpassungsanforderungen an eine bestimmte Kultur. Damaskus und Syrien waren ein Mosaik-Kunstwerk. Die Armenier z. B. pflegen sorgfältig das Erlernen ihrer Sprache und ihrer Traditionen und sie sind mittlerweile bewundernswerterweise ein Teil von Syrien. Mein 98-jähriger Opa hat mir bei unserem letzten Telefonat offenbart, dass sein Großvater aus Albanien stammte. Er war im Ersten Balkankrieg (1912/1913) nach Syrien geflohen. Und jetzt lebe ich, sein Ururenkelkind, in Österreich und fühle mich beheimatet. Vielleicht ist mein Uropa selbst aus Syrien gewesen 
und wurde von den Osmanen zwangsweise zum Krieg nach Europa mitgeschleppt? Immerhin war Syrien 400 Jahre lang Teil des Osmanischen Reiches.

Wenn ich heute gefragt werde: ”Willst du zurück nach Syrien, wenn keine Gefahr mehr für dich besteht?”, komme ich ins Zögern. Meine emotionale Verbindung mit dem Land hat sich langsam abgeschwächt. Ich wüsste nicht, was ich dort machen würde. Mein Leben ist jetzt in Österreich. Meine Freunde, Arbeit und Zukunft sind da. Ich denke, wenn ich wieder nach Syrien muss, wäre das für mich eine erneute Flucht.

Ich weiß auch nicht, wie ich Heimat definieren kann. Es gibt viele Sätze, die besagen, was Heimat ist. Ich bin aber der Überzeugung, dass wir Heimat nicht mit einem Aspekt, Wort oder Gefühl beschreiben können. Wenn ich an Heimat denke, flimmern vor meinen Augen verschiedene Bilder: meine Mutter, mein erstes Fahrrad, der Duft von Jasmin; aber auch der See in Mattsee, mein österreichischer Bruder Moritz und die deutsche Sprache.

Ich fühle mich weder wie ein Syrer noch wie ein Österreicher. Vielleicht fühle ich beides. Keine Ahnung. Aber ich fühle mich auf jeden Fall wie ein Erdbewohner mit menschlichem Hintergrund. 

 

Jad Turjman 
ist Comedian, Buchautor und Flüchtling aus Syrien. In seiner Kolumne schreibt er über sein Leben in Österreich.

turjman@dasbiber.at 

 

 

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