Ich bin kein Opfer und auch kein Täter

27. Mai 2020

In Workshops von biber und ÖIF lernten Mädchen und Buben in getrennten Gruppen, wie sie in brenzligen Situationen die Ruhe bewahren und Gewalt vermeiden. Themen, die dabei vorkommen: toxische Männlichkeit, Genderstereotype und Gewaltprävention.

Von Aleksandra Tulej und Amar Rajkovic, Fotos: Soza Jan


ÖIF
Foto: Soza Jan

Ich schreib‘ nicht. Die schreiben für mich.“ – der 14-jährige Abu sitzt breitbeinig auf seinem Sessel und grinst uns entgegen. Seine Mitschüler sind am Boden des Klassenraums im Kreis über ein Plakat gebeugt. Die Jugendlichen überlegen, welche Stereotype sie den Begriffen „Frau“ und „Mann“ zuordnen würden. „Mann: Stark, Uhren, Arbeit, schreibt das!“, schreit Abu* in die Runde. Auf die Frage, warum er nicht selbst den Edding in die Hand nimmt, zuckt er mit den Schultern. „Wieso sollte ich? Keinen Bock.“ Aber zu sagen hat Abu einiges. „Komm, schnapp dir einen Stift und mach mit, die anderen machen auch mit“, versuchen wir ihn zu überzeugen. Nach einigem Augenrollen schleppt sich der junge Mann dann tatsächlich vom Sessel auf den Boden und fragt „Wie schreibt man Uhr? Das schreib ich auf.“ Es folgt eine angeregte Diskussion darüber, ob denn Frauen keine Uhren tragen. „Ja, na schon, aber das ist bei Männern halt sowas wie eine Tasche bei Frauen“, erklärt Abus Klassenkamerad Omar*. Stichwort Stereotype: Was bedeutet das eigentlich?

ÖIF
Foto: Soza Jan

Können Frauen von Geburt an kochen?

Genau dieser und anderen Fragen ist die biber-Redaktion gemeinsam mit den Vereinen Drehungen und poika schon im Winter- und nun auch im Sommersemester an Wiener Neuen Mittelschulen sowie einer AHS im Rahmen des Projekts „Ich bin kein Opfer – und auch kein Täter“ nachgegangen. Die Mädchen und Buben sind in dem Alter, in dem Themen wie Geschlechterrollen, Gewaltprävention, Stereotype und Selbstbewusstsein gerade so prägend und wichtig sind. Es wurde in getrennte Mädchen- und Bubengruppen viel diskutiert, gesprochen, gelacht, überlegt, und reflektiert. Mit Erfolg: Jeder der Jugendlichen konnte am Schluss etwas für die Zukunft mitnehmen – sei es der Umgang mit MitschülerInnen, Aufbrechen von Geschlechterstereotypen oder das Stärken des eigenen Selbstbewusstseins. „Also, das ist ja nicht so, dass eine Frau von Geburt an kochen kann“, sagt Martin, als seine Klassenkameraden beginnen, dem Wort „Frau“ Assoziationen zuzuschreiben. „Ja eh nicht, aber mein Vater kocht nie. Aber meine Mutter schon“, zuckt Ali mit den Schultern. Nachdem sich die Jugendlichen einigermaßen auf Adjektive geeinigt haben, die sie den beiden Begriffen zuordnen wollen, präsentieren sie ihre Ergebnisse. Diese sind ziemlich klar gegliedert: Frau: einfühlsam, Kinder, lange Haare, Makeup, schön. Mann: stark, Arbeit, Auto, Gucci-Kappe. Das sind die Begriffe, die sich immer wiederholen. „Muss das denn so sein?“, fragt Trainer Rick in die Runde der jungen Männer. „Können nicht beide Geschlechter mit beidem in Verbindung gebracht werden?“. Es folgt eine Diskussion darüber, ob jede Frau ein Kind bekommen muss, ob es Männer mit langen Haaren gibt und wieso Autos etwas „typisch Männliches“ sind. Dicht gefolgt von einer Debatte über Homo- und Transsexualität.

ÖIF
Foto: Soza Jan

„Schwul“ ist keine Beleidigung

Für die Jungs, die so ziemlich alle Migrationshintergrund haben und oft in stark traditionellen, patriarchalen Elternhäusern aufgewachsen sind – was man an ihren Aussagen merkt – ein unbequemes Thema. Trotzdem sieht sogar Klassen- Babo Abu am Ende ein:“Ich darf das Wort schwul nicht als Beleidigung benutzen, das habe ich heute gelernt. Aber ich bin’s nicht. Wollt ich nur sagen“, sagt er kopfschüttelnd. Bildungsauftrag erfüllt, finden wir. Und damit sind wir nicht allein: Das Projekt „Ich bin kein Opfer und auch kein Täter“ macht die Runde – wir bekommen Anfragen von den verschiedensten Schulen und Lehrkräften, die von ihren KollegInnen davon gehört haben. So viele, dass wir einigen absagen müssen. Dabei ist der Bedarf sichtlich da:Egal ob an einer NMS mit hohem Migrationsanteil oder an der Maturaklasse einer AHS in einer „feinen“ Gegend.

ÖIF
Foto: Soza Jan

Es betrifft uns alle

In einer solchen Klasse wird der Wunsch geäußert, vermehrt auf das Thema sexuelle Belästigung und sexuelle Übergriffe einzugehen. Vor allem bei den Mädchen. Jede Einzelne in der Klasse hat etwas zu dem Thema zu sagen – leider. Sie Belästigung beim Fortgehen, verbale Gewalt von Gleichaltrigen. Die Liste ist lang. Trainerin Renate Wenda hört den Mädchen zu und gibt ihnen Tipps, wie sie sich in Zukunft in solchen Situationen am besten verhalten. Es werden Selbstverteidigungstechniken gezeigt und selbstbewusstes Auftreten geübt. Schreien, stampfen, sich bemerkbar machen. „Das ist schon cool, man fühlt sich gleich irgendwie stärker“, sagt die 17-jährige Lena. Doch auch beim männlichen Part der Klasse wird das Thema sexuelle Gewalt – egal, ob verbal oder körperlich – nicht ausgelassen. „Wenn ich als Mann vom Fortgehen heimgehe, kann es sein, dass mich wer ausraubt. Aber mal ehrlich, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit? Einem Mädchen kann viel Schlimmeres passieren“, so Markus. „Mir war ehrlich gesagt nicht bewusst, wie viele Situationen es für Frauen gibt, die ur unangenehm sind, aber uns Männern gar nicht auffallen“, resümiert der 17-jährige Felix* den dreistündigen Workshop. Am Ende ist in jeder Klasse, mit der wir gearbeitet haben, die Erkenntnis da: Beide Geschlechter haben mit Stereotypen und Hürden zu kämpfen – egal in welchem Alter. Überwinden kann man das nur gemeinsam, wenn alle mit anpacken. Bis wir keine Opfer und auch keine Täter mehr sind.

ÖIFÖIF

ÖIF

Bereich: 

Das könnte dich auch interessieren

Foto: Zoe Opratko
Das Ende von biber ist auch das Ende...
Foto: Moritz Schell
Kein Geld, keine Redaktion, aber eine...
Screenshot: Stadt Wien
Die Stadt Wien und der Bezirk Neubau...

Anmelden & Mitreden

3 + 10 =
Bitte löse die Rechnung