Leiden beeindrucken Leute

14. April 2021

„Die Leiden des jungen Todor“

Leiden beeindrucken Leute

Von Todor Ovtcharov

Es gibt unterschiedliche Wege, um andere Menschen zu beeindrucken. Einige setzen auf ihre muskulösen Körper, andere auf ihren Intellekt und dritte auf ihr Vermögen. Es gibt aber auch einen vierten Weg, um aus der Menge herauszustechen: Man erzählt über seine schwierige Kindheit und Leiden beim Aufwachsen, wie schwer sie es in der Vergangenheit hatten – und schon erwarten sie Aufmerksamkeit. Man kommt sich vor wie in einem Monty-Python-Sketch.

Tobi aus Frankfurt erzählte einmal einer Gruppe von jungen Mädchen, wie schwer seine Kindheit in Frankfurt am Main war. Drogensüchtige hatten ihn am Bahnhof mit einem Messer bedroht und wollten sein Taschengeld. Frankfurt am Main sei nicht so sicher wie Wien. Nur die Starken schaffen es dort. Tobi schaut die Mädchen mit Hoffnung in den Augen an, sucht nach ihrem mitfühlenden und bewundernden Urteil - schließlich steht er lebend und gesund vor uns und das kann doch nur heißen, dass er stärker als jeder Gangster ist.

Jose aus Lima greift ins Gespräch ein und erzählt uns, wie er eines Tages auf dem Schulweg von einer Bande Gleichaltriger angegriffen wurde. Sie hätten ihn nackt ausgezogen und ihm seine Kleider gestohlen. Alles hätten sie ihm genommen – die Klamotten, die Schuhe, selbst die seit drei Tagen nicht gewaschenen Socken. Danach habe er stundenlang versteckt in einer Baustelle auf den Einbruch der Dunkelheit gewartet – wie sonst hätte er nackt nach Hause kommen sollen? Einer fragt ihn, warum er seine Freunde nicht angerufen hatte, begreift aber sehr schnell die Absurdität seiner Frage. Wo sollte das Handy versteckt sein, wenn er doch ganz nackt war?

Ali aus Aleppo erzählt, wie er sich auf der türkisch-griechischen Grenze stundenlang unter einem Lkw verborgen gehalten hatte, in der Hoffnung, dass ihn die Grenzbeamten nicht finden und blau verprügeln. Er erzählt mit allen Einzelheiten, was mit denen passiert war, die gefangen worden sind. Diese Erzählung ist so blumig, dass wir mittlerweile vergessen, dass er unter einem Lkw gelegen ist, und sind einfach froh, dass er nicht gefangen worden war.

In dieser Situation muss ich mich einmischen, um auch als ein harter Typ zu gelten. Ich erzähle, dass es in der Plattenbausiedlung, wo ich aufgewachsen bin, keinen einzigen Baum gegeben hatte und meine Familie sich entschied, den ersten einzupflanzen. Wir kauften also einen Baum, gingen auf die Wiese vor unserem Bau und setzten ihn in ein Loch, das mein Vater gegraben hatte. Ich bin sehr zufrieden schlafen gegangen.

Am nächsten Tag war der Baum weg. Wir kauften einen neuen Baum und pflanzten ihn wieder ein. Dieses Mal mit drei Metallstäben dazu, um den Baum besonders vor Diebstahl zu schützen. Am nächsten Tag war der Baum wieder weg und die Stäbe auch. Wir pflanzten zum dritten Mal einen Baum und auch ihn ereilte das gleiche Schicksal wie die vorigen zwei. Danach entschied mein Vater, dass wir umziehen sollten. Wenn wir es weiter versucht hätten und irgendwann Erfolg gehabt hätten, würde heute Mitten im Plattenbaudschungel ein kleiner Wald stehen.

Ali aus Aleppo, Jose aus Lima und Tobi aus Frankfurt vergessen ihre fürchterlichen Geschichten und schlagen mir vor, mit mir dorthin zu fahren, um neue Bäume einzupflanzen. Hoffentlich ist es nicht schon zu spät.  ●

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