Polen spielen Krieg

06. Mai 2015

Die jüngste ist 16, ihre Kameraden höchstens Mitte 20. Eine wachsende Anzahl Junger Polen bereitet sich auf den Krieg vor. In "Heimat-Schutzvereinen" ist Kriegssimulation mit Gummi-Gewehr und Granaten das beliebteste Wochenendprogramm. Biber-Redakteur Dawid Biela war einen Tag mitten im Gefecht und fragt sich: vor wem hat man Angst?

Von Dawid Biela und Marko Mestrovic (Fotos)

Gib Rückendeckung!“, ruft mir Natalia zu. „OK, alles sauber. Los, weiterstürmen!“ Dicht hintereinander laufen wir durch die Ruine. Schutt und Glasscherben liegen überall am Boden. Jeder in unserer Truppe hält seine Waffe schussbereit in eine andere Richtung. Der nächste Korridor ist stockdunkel. Plötzlich fliegt ein glühender Gegenstand an meinen Füßen vorbei. „Granate!“ Blitzartig springen wir in eine Nische. Der daraufhin folgende Knall ist ohrenbetäubend. Staub wirbelt auf und füllt meinen
Mund. Sand knirscht ab jetzt zwischen meinen Zähnen. Keine Zeit nachzudenken. Da kommt die nächste Granate. BUMM!

Polen Krieg Russland Armee
Foto: Marko Mestrovic

HEIMATSCHUTZVEREINE

Falsch gedacht! Ich befinde mich nicht in Syrien oder der Ukraine, sondern in einem knapp 50.000 Seelen-Städtchen in Polen. Hier in Wodzisław Śląski hat der Schützenverein „Jednostka Strzelecka 2023“ seinen
Sitz. Er ist gleichzeitig ein Heimatschutzverein. Was das ist, fragt ihr euch? In ganz Polen gibt es 120 Heimatschutzvereine. Ihre grundlegende Idee ist es, eine Bürgerwehr für territoriale Verteidigung zu errichten. Die Berufsarmee mit ihren 100.000 Soldaten und 80.000 Reservisten könne nur 2% des polnischen Territoriums beschützen, sagt Stanislav Drosio, Gründer des Heimatschutzvereins. Im offenen Krieg wäre Polen chancenlos, deswegen sind gut ausgebildete „lokale Armeen“ wie die
Heimatschutzvereine von entscheidender Wichtigkeit.

Polen Krieg Russland Armee
Foto: Marko Mestrovic

Es sind Schüler und Studenten, aber auch junge arbeitende Leute, die an den Übungen der Heimatschutzvereine teilnehmen. Sie lernen hier mit Waffen, Geschossen und Granaten umzugehen. Es wird ihnen Kriegstaktik vermittelt und generelles Wissen darüber, wie sie sich während eines Krieges verhalten sollen, um ihr Land nicht wehrlos an den Feind übergeben zu müssen. Einen Tag bin ich mitten im Geschehen. Ich bereite mich mit den Freiwilligen auf einen möglichen Kriegszustand vor. Nur wer ist eigentlich der Feind? Seit dem Kaukasuskrieg 2008, bei dem russische Truppen in Georgien einmarschierten, verzeichnet man unter polnischen Jugendlichen ein steigendes Interesse an paramilitärischen Organisationen. Der Krieg in der Ukraine, gleich nebenan im östlichen Nachbarland, regt Polen umso mehr zum Nachdenken an. Laut Umfragen befürchten 39% der Polen einen Krieg.

Polen Krieg Russland Armee
Foto: Marko Mestrovic

STILLGESTANDEN!

Während andere Jugendliche noch ihren Kater ausschlafen, treffen sich meine 30 Kameraden am Samstagmorgen auf einem Schulgelände. Um Punkt 9:00 stehen die uniformierten Schützen stramm. Es erfolgt ein Uniformcheck. Sobald alle Baskenmützen im richtigen Winkel angebracht sind, wird salutiert. „Rührt euch!“, erschallt es und ich bin wach.

Den Appell führt Łukasz Naczyński, ein 31-jähriger Polizist, durch. Als Vereins-Mitbegründer und Befehlshaber der Einheit überprüft er die Anwesenheit, verkündet welche Schützen im Rang auf- bzw. abgestiegen sind und streicht kurzerhand Mitglieder von seiner Liste, die sich nie blicken lassen. Dann beginnt der erste und zweite Zug mit Laufen, Hampelmann springen und Liegestützen, um ein wenig warm zu werden. Zug, so nennt man in Militärsprache übrigens „Gruppen“. Vom Kriegszustand ist noch nichts zu spüren.

Polen Krieg Russland Armee
Foto: Marko Mestrovic

IRGENDWO IM NIRGENDWO

Mittlerweile bin auch ich umgezogen. Jakub (23), ein Ingenieurstudent, hat mich mit dem Nötigsten ausgestattet: Stahlhelm, ein fetter Rucksack, Knieschoner und das Gummi-Gewehr AKM. Mein Uniform-Set besteht aus Lederstiefeln, Pullover, Hose, Gürtel und Baskenmütze. Ab 300 Złoty (ca. 75€) sind die gesamten Sachen beispielsweise im Internet zu erwerben. Hierbei werden Vorschriften der Genfer Konventionen scharf beachtet. Nicht jede Art eine Uniform zu tragen ist nämlich erlaubt.

Wir steigen in mehrere Autos und fahren zum „Kriegsschauplatz“. Geschätzte fünf Kilometer außerhalb der Stadt befindet sich eine abgelegene, stillgelegte Kohlemine. Gegen elf Uhr sind wir dort. Die Fassaden der zwei Fabriken sind schon längst abgebröckelt. Der Boden drinnen ist wie Schweizer Käse. Auf Schritt und Tritt stößt man auf Löcher, durch die man ein Stockwerk tiefer schauen kann. Alleine beimDurchlaufen entstehen Staubwolken, die das Atmen nicht gerade erleichtern. In diesen kriegerischen Bedingungen bereitet der Heimatschutzverein seine Schützlinge mit Attrappen aller Art, von Gewehren bis hin zu Rauchgranaten, auf den „worst case“ vor.

Polen Krieg Russland Armee
Foto: Marko Mestrovic

LET’S RUMBLE!

Mit gefühlten 30 Kilo mehr auf dem Buckel betreten wir die Ruinen. Artur (23) alias „The Gun“ ist der Anführer des ersten Zuges. Der hauptberufliche Bergmann gibt noch die letzten Tipps ab. „Halte dich an Natalia und Robert. Sie führen an.“ Meine Mannschaft, aus 14 Kämpfern bestehend, stopft sich Ohrenschützer rein. Ich bekomme Watte. Wozu das denn, frage ich mich noch. Wir stürmen das Gebäude, „säubern“ es und laufen lange dunkle Gänge entlang, Treppen auf und ab. Plötzlich explodiert
der erste Böller. Was für ein Krach! Die Explosion hallt über mehrere Stiegen. Ich weiß nun warum Watte aus meinen Ohren schaut. Jedes Mal zucke ich zusammen.

Wenn China-Böller als Granaten explodieren, ist Asthma vorprogrammiert. Immer wieder werde ich von den höchst konzentrierten Kämpfern wie Robert (18) korrigiert, da ich falsch positioniert bin. In einem Krieg wäre ich an diesem Tag 100 Male gestorben, mindestens. Für Natalia ist das hingegen Routine.

Sie ist eine der fünf Mädels, die heute dabei sind. Jeden Samstag zwischen 9-15 Uhr verwandelt sich die 20-jährige Studentin in eine motivierte Kämpferin. „Die anderen Mädchen machen was im Haushalt, schauen Fern oder hocken vor dem PC“, sagt sie. 20 Prozent der Schützen-Mitglieder sind Frauen. In anderen Heimatschutzvereinen ist eine ähnliche Quote anzutreffen. Geschlecht, aber auch Religion spielen keine Rolle. Jeder kann ein guter Kämpfer sein.

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Foto: Marko Mestrovic

FRAUENPOWER

Natalia und ihre Freundin, die dieses Jahr maturieren, können sich keine bessere Freizeitbeschäftigung vorstellen. Sie lieben die Trainings. Hier sind sie unter sich, machen ihr Ding.

Auch die Buchhaltung des Vereins liegt in den Händen einer jungen Frau. Klaudia (23) arbeitet während der Woche in einer staatlichen Behörde und waltet am Wochenende über die gesamten Ein- und Ausgaben der paramilitärischen Organisation. Der Schützenverein mit 60 Mitgliedern ist wie eine kleine Non-profit-Firma. Dank der finanziellen Mittel von der Stadt kann laufend Geld in Schulungen investiert werden, sodass die Mitglieder so gut wie keinen Cent für ihr Hobby ausgeben müssen. Lediglich ein symbolischer Mitgliedsbeitrag in der Höhe von 10 Złoty (ca. 2,50 Euro) pro Monat muss geleistet werden.

Polen Krieg Russland Armee
Foto: Marko Mestrovic

Aber mal im Ernst, warum entscheidet man sich überhaupt dafür, einem Heimatschutzverein beizutreten? Im freien Europa? Eine eindeutige Antwort auf die Fragen bekomme ich nicht. Von den meisten wird es
einfach als Hobby gesehen. Die Frage nach dem „warum nicht was anderes“ ist für sie so, als ob jemand mich als Hobbyfußballer fragen würde, warum ich nicht Volleyball spiele. Zwischen den Trainingseinheiten ist die Stimmung daher auch sehr entspannt und das Miteinander wirkt familiär. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass das Gemeinschaftsgefühl einen hohen Stellenwert hat. „Abends geht’s des Öfteren auf ein Bier oder gemeinsam in die Disco“, wie mir Klaudia (20) berichtet. „Hin und wieder fährt man auf Schulungen. Dort trifft man neue Gleichgesinnte an. Es macht einfach Spaß neue Leute kennenzulernen.“

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Foto: Marko Mestrovic

DOMINOEFFEKT

Konkrete „Feindes-Angst“ hat man nicht oder zeigt man nicht. Von Russland ist gar nicht die Rede. Nicht die geringste Spur von
Panik. Um die „Kämpfer von morgen“ zu gewinnen, betreibt man für den Schützenverein Promotion an Schulen. Mitmachen darf jeder ab 16 Jahren, falls jünger nur mit
Erlaubnis der Eltern. Jeden Oktober startet eine neue Aufnahmewelle. Man muss dann nach sechs Monaten eine Prüfung ablegen. Dabei wird auch die Geschichte Polens abgefragt. Aber nicht nur Schulen sind Rekrutierungsplätze, oftmals vermitteln Mitglieder ihren Freunden die Begeisterung für das Paramilitärische. So war auch Klaudia ein Dominosteinchen und kam über Natalia rein. Der 3.Mai ist wohl der wichtigste Tag eines Heimatbeschützers. Traditionell bekennen sie sich am Tag der Verfassung, dem polnischen Feiertag, zu den Schützen. Nach dem Versprechen und der öffentlichen Äußerung der Liebe zum Vaterland sind sie offizielle Mitglieder.

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Foto: Marko Mestrovic

WIR FAHREN WIEDER ZURÜCK!

Es ist 14.45 Uhr. In der Ruine scheine ich inzwischen jeden Winkel zu kennen. Eines kann ich fix sagen: Kriegssimulation ist kräfteraubend. Mit der Autokolonne fahren wir wieder zurück zum Vereinsheim. Ich bin erleichtert, die lauten Explosionen nicht mehr hören zu müssen. Von mehreren Leuten bekomme ich sehr stolz Souvenirs des Vereins in die Hände gedrückt. Anschließend schießen wir noch paar Gruppenfotos. Mit einem neuen T-Shirt, Tasse, Kalender, Schlüsselband und gemischten Gefühlen verabschiede ich mich. Ist dieses „Hobby“ wirklich sinnvoll? Gibt’s keine Alternativen, die Freizeit zu nutzen? In dieser Nacht träume ich schlecht, schreie sogar „Nein“ im Schlaf. So, als ob ich keinen Krieg möchte. Aber obwohl ich in Polen geboren wurde, ist meine Wahrnehmung offenbar bereits zu westlich orientiert. Aus polnischer Sicht macht es durchaus Sinn zu lernen, wie man sich verteidigt. Trotzdem geh ich lieber im polnischen Trikot Fußball spielen.

Polen Krieg Russland Armee
Foto: Marko Mestrovic

DIE POLNISCHE ARMEE HAT EIN PROBLEM

Stanislaw Drosio, Gründer des Schützenvereins "Jednostka Strzelecka 2023" und Leiter des Verbandes "Lasst uns die Heimatarmee wieder aufbauen" ("Odbudujmy Armię Krajową")

biber: Was wollen Sie mit der Initiative „Lasst uns die Heimatarmee wieder aufbauen” erreichen?

STANISŁAW DROSIO: Unser Ziel ist es eine territoriale Verteidigung aufzubauen. Die Berufsarmee mit ihren 100.000 Soldaten und 80.000 Reservisten kann nur 2% des polnischen Territoriums beschützen. Im offenen Krieg wäre Polen chancenlos, deswegen sind gut ausgebildete „lokale Armeen“ wie die Heimatschutzvereine von entscheidender Wichtigkeit. Unsere Initiative gibt es seit dem 3. Mai 2014.

Vertrauen Sie der polnischen Armee nicht?

Generell wollen wir keine Armee neben der Armee aufbauen. Wir stellen die Tätigkeit der eigentlichen Armee nicht in Frage, da sie professionell aufgestellt ist. Doch während einer echten Gefahrensituationen hätte die Armee so viel Arbeit, dass sie es alleine nicht „packen“ würde. Dann bräuchte sie Hilfe und die kann nur durch Zivilisten kommen, die ausgebildet sind.

Was bemängeln Sie an der polnischen Armee?

Die polnische Armee hat ein Problem, ihre Ressourcen sinnvoll einzusetzen. Außerdem bremst oft die Mentalität alter Offiziere, die noch im Kommunismus tätig waren, notwendige Reformen und den Fortschritt. Sie vertreten die alte Definition der Armee, für sie gilt: „Armee ist aus dem Volk entnommene Kraft“. Für mich hingegen ist „ die Armee die Kraft des Volkes“. Leider sehen viele Generäle die Armee als Monopol für Verteidigung.

Wer kann mitmachen? Gibt es Ausschlusskriterien?

Jeder, der motiviert ist. Auch Frauen. Es ist vorteilhaft Pole zu sein, da es eine polnische Angelegenheit ist. Religion spielt keine Rolle, denn der Glaube ist nicht entscheidend, um gut kämpfen zu können.

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