Leben im Containercamp in Malatya: „Hauptsache, es geht weiter.”

15. September 2023

Ein halbes Jahr nach dem Erdbeben in der Türkei: Containercamps gehören mittlerweile zum Stadtbild und sind der neue Lebensmittelpunkt tausender Menschen. Wie sieht der Alltag in den Containern aus?

Von Aleksandra Tulej

Malatya/Türkei
Foto:Rahma Austria

„Ich werde nicht über den Tag sprechen, als es passiert ist. Alles andere könnt ihr mich fragen”, stellt Songül sofort klar, als sie uns die Tür ihres Containers öffnet. Songül ist eine von 1.500 Personen, die seit Juli hier in dem Camp in Malatya, der Hauptstadt der gleichnamigen ostanatolischen Provinz, wohnen. Das Camp ist überschaubar, die Container sind in Reihen angeordnet, die mittlerweile von den Bewohner:innen „Straßen” genannt werden – immerhin leben sie schon seit drei Monaten hier. Man kennt sich untereinander, nicht zuletzt durch kollektives Trauma-Bonding. Der Alltag im Camp ist längst eingetreten, zumindest an der Oberfläche. Das Erdbeben in der Türkei liegt nun sieben Monate zurück. Insgesamt sind laut offiziellen Angaben mehr als 57.000 Menschen verstorben. Die Aufräumarbeiten sind in vielen Städten immer noch in Gange. Vereinzelt sieht man noch Zelte, in denen Familien unterkommen. Viele sind weggezogen – in andere Städte, in denen sie Familie oder Freunde haben. Aber vor allem in die Containersiedlungen, die mittlerweile zum Stadtbild gehören. Auch hier in Malatya, wo insgesamt über 20.000 Container stehen.In Malatya leben etwa 600.000 Einwohner:innen. 2.300 Menschen sind hier beim Erdbeben ums Leben gekommen, etwa 300.000 haben ihr Zuhause verloren – manche auch ihre gesamte Familie. Wie Erol, der bei dem Erdbeben seine Tochter und seine zwei Enkel verloren hat. Er ist geschieden und lebt alleine in dem Container. Spartanisch eingerichtet: ein Bett, ein Sofa, ein kleiner Tisch, auf dem eine Zeitung und Zigaretten liegen. „Ich brauche nicht viel zum Leben. Der Container reicht völlig aus, ich beschwere mich nicht. Es ist auf jeden Fall besser als im Zelt.”

 

Schritt für Schritt in den neuen Alltag

In den meisten Containern leben ganze Familien mit oft bis zu sieben Personen. „Das wird dann schon eng. Wenn wir die Waschmaschine anmachen, dann wackelt der ganze Container. Wir sind sehr froh, ein Dach über dem Kopf zu haben, jetzt im Sommer war alles gut, aber wir haben alle Sorge davor, wie der Winter aussehen wird”, erzählt Nadrie.Laut der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD soll das Containercamp noch für die nächsten zwei Jahre bestehen bleiben, danach wolle man „je nach Schweregrad der einzelnen Situationen der Familien” graduell die Menschen in günstigen Wohnungen unterbringen, erzählt Metin, der AFAD-Koordinator im Camp. Wie oder wann genau das passieren wird, weiß noch niemand so richtig.

Jetzt gilt es erstmal, den Alltag zu bewältigen, Schritt für Schritt. Der österreichische Spendenverein Rahma Austria stellt hier die Container auf, verteilt Lebensmittelpakete, Schultaschen, Hygieneprodukte – alles, was man hier eben zum Leben braucht. Am 9. September fand unter breiter Medienpräsenz die Eröffnungsfeier der Container statt. Die Feier hätte eigentlich im Juni stattfinden sollen, aber es hätte einige Probleme mit der Infrastruktur des Camps, wie beispielsweise den Wasserleitungen, gegeben und man hätte sichergehen wollen, dass alles stehe und funktioniere, bis man das Camp offiziell eröffne, so Tarkan Tek, Leiter von Rahma Austria. Für Kinder gibt es hier einen Spielplatz, eine kleine Kletterwand, eine Sandkiste – um ihnen einen möglichst normalen Alltag zu ermöglichen. „No happiness, no hope, stay positive” schreibt Medine immer und immer wieder mit lila Marker in ihren Notizblock. In ihren Zeichnungen verarbeitet sie das Erlebte: Sie zeichnet leere Schaukeln, Trümmer und dunkle Nächte. „Aber ich habe mich schon daran gewöhnt, dass wir hier jetzt leben: Ich stehe morgens auf, lese ein bisschen und gehe dann zur Schule, ganz normal eigentlich”, erzählt sie. Die Kinder hätten sich an das Leben im Camp am schnellsten akklimatisiert, so die Mutter des dreijährigen Umut. Ihr kleiner Sohn läuft uns in die Arme, begrüßt jeden, als wäre er der Hauptverantwortliche hier. Er weiß, wo was ist, kennt jeden, strahlt und lacht – man bekommt den Anschein, als wäre er noch zu klein, um zu verstehen, was passiert ist oder warum er hier lebt. „Als wir vor einiger Zeit in der Straße in Malatya waren, in der unser Haus einst stand” erzählt Umuts Mutter, „hat er begonnen, zu weinen, und meinte immer wieder: „Ich will in mein Zuhause, das hier ist mein Zuhause!“ Vom Haus der Familie erkennt man jedoch wirklich nichts mehr wieder, es ist alles dem Erdboden gleich. „Er kriegt das also sehr wohl mit“, bekräftigt Umuts Mutter, „auch wenn er sonst so glücklich herumläuft, das sitzt tief.” Den Tag des Erdbebens wollen alle hier am besten vergessen, man blickt in die Zukunft – immer wieder kommen Flashbacks, Rückschläge, Probleme – aber man versucht, das irgendwie gemeinsam zu überwinden: „Hauptsache, es geht weiter!“, ist hier die Devise.

 

 

 

*Der Besuch erfolgte auf Einladung von Rahma Austria.

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