Warum ich keine Lust habe, einen Tyrannen zu erziehen.

23. Februar 2023

Die Ehre der Familie und das Gesicht zu wahren, sind das Alpha und auch das Omega. Nicht aufzufallen und den Namen der Familie in den Schmutz zu ziehen, sind deshalb die ersten Gebote der balkanischen Erziehung. Schluss damit, sagt Filloreta: Und erzieht ihren Sohn ganz anders, als sie es selbst erlebt hat.

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Filloreta Bennett, Foto: Zoe Opratko

 

Von Filloreta Bennett, Fotos: Zoe Opratko

 

Als wir vor der Armut flohen, war ich drei Jahre alt. Wir waren Wirtschaftsflüchtlinge. Meine Eltern hatten Angst, dass uns das neue Land vergessen lässt, dass wir Kinder aus dem Kosovo kommen und wir somit auch die Kultur, Traditionen und Sitten verlieren würden. Im Grunde genommen ähnelt die albanische Kultur in vielen Dingen anderen Ländern des Balkans, deshalb erlaube ich mir es auch, in diesem Artikel über die balkanische Erziehung und ihre Stolpersteine zu schreiben. 

Warum Stolpersteine? Nun, das habe ich auch erst begriffen, als ich selbst Mutter geworden bin. Erst seit ich mich mit der Erziehung meines eigenen Sohnes auseinandersetze, sehe ich all diese erzieherischen Missstände, unter denen ich und viele andere Balkankids leiden mussten. Kinder sollten keine Angst vor ihren Eltern (vor allem den Vätern) haben, um zu lernen, was Respekt bedeutet. Sie müssen nicht mit Sprüchen wie „Wenn du nicht das machst, was ich will, bist du kein gutes Kind” manipuliert werden. Vor allem sollten sie aber nicht in eine Position der Bringschuld gebracht werden, dass sie für das Seelenheil der gesamten Familie zuständig wären. Wenn wir funktionierten, dann funktionierten alle. Und genau diese Missstände meine ich, die ich seit zehn Jahren immer wieder in unterschiedlichen Situationen wiedererkenne.

Erzwungene Unterwürfigkeit

Wieso begrüßt du deine Tante nicht? Wieso gibst du deinem Onkel keinen Begrüßungskuss? Ich wurde immer gezwungen, alle Verwandten, egal ob ich sie kannte oder nicht, zu umarmen, oder Bussis auf die Wangen zu geben, nur damit meine Eltern voller Stolz sagen können: Ja, meine Kinder wissen, wie sie sich zu benehmen haben, und wissen, wem sie Respekt zollen müssen.

Einmal verweigerte ich die Bussis und Umarmungen und wurde dafür, nachdem wir vom Besuch zurückgekommen waren, geschlagen. Ich hätte mich respektlos den anderen gegenüber verhalten – schließlich muss ich immer auf meine Eltern hören und den Älteren gegenüber Respekt zeigen. So wurde es mir, wie vielen anderen Kindern vom Balkan, von klein auf eingetrichtert. Aber dass ich da genötigt werde, als Kind lieb und nett zu sein, weil ich es muss und nicht, weil ich es will, hat niemanden interessiert. Der erzwungene und falsche Respekt, aber auch diese „Unterwürfigkeit“ gegenüber Älteren, Männern und auch Frauen, ist schlichtweg falsch! Damit bringst du deinem Kind nur bei, dass es erst was wert ist, wenn es erwachsen ist, andere unterdrückt und vielleicht auch das richtige Geschlecht hat. 

Das erste Mal wurde es mir mit etwa 18 Jahren bewusst. Als ich es nicht mehr aushalten konnte, mich selbst als wertlos, unwichtig und Objekt zu sehen. Ich habe es damals auch geschafft, aus diesem Muster auszubrechen, aber nur für vier Monate. Durch die balkanische Erziehung hatte ich immer das starke Gefühl von Schuld und habe mich dann wieder untergeordnet. Auch hat man mir beigebracht, dass ich die Familie zusammenhalten muss, indem ich als gutes Beispiel vorangehe und immer für sie da bin, egal ob es mir guttut oder nicht. Ich hatte irgendwann so einen Druck auf meinen Schultern, dass ich geglaubt habe, dafür verantwortlich zu sein, dass wir als Familie funktionieren. So lernte ich, meine Bedürfnisse hintanzustellen, oder noch besser gesagt, die Bedürfnisse meiner Eltern als meine eigenen anzusehen.

Kinder am Balkan haben schon sehr früh Verantwortung zu tragen und müssen funktionieren. Indem sie im Haushalt helfen, sich um die jüngeren, aber auch älteren Geschwister kümmern. Zusätzlich mussten wir die Bildungsdefizite unserer Eltern kompensieren, indem wir bürokratische Dinge wie Anträge stellen erledigen mussten. Wir hatten keine Zeit, unsere Kindheit zu genießen und wurden von Anfang an mit der Last von Verantwortung beladen.

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Erst nachdem sie selbst Mutter wurde, wurden ihr die Missstände ihrer eigenen balkanischen Erziehung bewusst. Foto: Zoe Opratko

Harte Männer, brave Mädchen

Lange Zeit hielt ich es für normal, dass meine Erziehung auch physische Gewalt beinhaltete. Ich sah auch keinen Anlass, mit jemandem darüber zu sprechen. Mit 16 hatte ich das Glück, in Wien in die Schule zu gehen. Dort habe ich das erste Mal mit anderen Jugendlichen, die auch einen balkanischen Migrationshintergrund haben, echte Freundschaften geschlossen. Erst dort konnte ich mich mitteilen. Ohne Scham konnte ich einer Freundin anvertrauen, was ich alles erlebt habe. Die meisten Mädchen und ihre Geschwister hatten das Gleiche wie ich erlebt. Man hat uns beigebracht, still zu sein, zu gehorchen, Verantwortung für unsere kleineren Geschwister, aber auch für die gesamte Familie zu übernehmen. Wir hatten keine lange Kindheit, nein, auch die Burschen mussten früh lernen, was es alles braucht, ein gestandener Mann zu sein, der seine Macht über die Jüngeren, aber auch Mädchen oder Frauen ausüben kann. 

Jungs wird beigebracht, dass Emotionen Schwäche sind, indem man sie etwa fürs Weinen mit Liebesentzug bestraft, oder sie schlägt, damit sie „einen richtigen Grund haben, zu weinen“. Genauso werden sie – sogar von den Älteren – schikaniert, wenn sie liebevoll mit anderen umgehen. Dann kommt meistens der Spruch: „Du hast ja keine Eier. Bist du jetzt zu einer Frau geworden oder warum bist du so liebevoll?” 

Ich beobachte immer wieder, wie Männer eine abweisende Haltung ihren Kindern gegenüber haben. Sie haben es so von ihren eigenen Vätern erlebt und machen es nun selbst. Sie sind in diesem Teufelskreis gefangen, weil es verständlicherweise auch gar nicht so leicht ist, alles, was man kennt, zu hinterfragen und anders zu machen. Sich einzugestehen, dass die eigenen Eltern was falsch gemacht haben, ist, meiner Meinung nach, im balkanischen Raum noch viel schwieriger. Es ist schwierig, weil wir nach außen hin eine glückliche, funktionierende Familie präsentieren wollen. Für meine Mutter und meinen Vater ist es heute noch sehr wichtig, was die anderen Verwandten über uns denken. Es wurden so viele Emotionen unterdrückt, nur damit niemand schlecht über uns spricht.

Mädchen wird hingegen anerzogen, wie sie den Haushalt führen, wie sie kochen, wie sie sich benehmen und wie sie den künftigen Ehemann, die Schwiegermutter, den Schwiegervater und die ganze Familie ihres Zukünftigen respektieren sollen. Dabei geht es gar nicht darum, dass uns selbst gegenüber auch Respekt widerfährt. Nein, es geht darum, den Kopf geduckt zu halten und zu hoffen, dass der zukünftige Ehemann oder die Schwiegermutter oder die gesamte Familie ab und zu ein wenig Freiheiten gewährt. Sie lernen, dass sie genau nichts zu melden haben, es sei denn, man erteilt ihnen das Wort. Im Grunde werden wir Mädchen zu Sklavinnen erzogen, die keinen freien Willen haben dürfen.

Wenn einem als Mädchen beigebracht wird, vor Männern ehrfürchtig zu sein und immer einen Platz, der in der Hierarchie relativ unten ist, anzunehmen, hast du es später wirklich schwer, als erwachsene Frau für dich einzustehen. Du lernst durch Angst und Furcht, andere zu respektieren, weil du eben nicht die Konsequenzen tragen willst, und lernst dabei aber nie, dich selbst wertzuschätzen und zu respektieren.

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Filloreta und ihr Sohn. Foto: Zoe Opratko

Niemand soll von den Problemen erfahren

Mein Papa und ich hatten einmal einen heftigen Streit, ich war damals gar nicht mehr so klein, ich war 16 Jahre alt. Ich hatte meiner Mama anvertraut, dass ich mich in einen Jungen verliebt hatte. Sie ging damit zu meinem Vater, weil sie Sorge hatte, ich würde meine Jungfräulichkeit – also das Einzige, was den Wert einer Frau auszumachen scheint – verlieren. Also war es besser, wenn ich dafür gemaßregelt werde und so, ihrer Meinung nach, zur Vernunft komme. Ich wurde lauter und schrie meinen Vater an. Sie nennen es Pubertät, ich nenne es aber Mut, für sich einzustehen. Meine Mutter war aber nur in Sorge darüber, was die anderen von uns denken würden, wenn sie mein Schreien auf dem Gang hören. Niemand soll von unseren Problemen in der Familie erfahren. Das Bild, von außen eine normale und gesunde Familie zu sein, war wichtiger, als die ganzen Probleme, die wir zu lösen hatten. Die Ehre der Familie und das Gesicht zu wahren, sind das Alpha und auch das Omega. Nicht aufzufallen und den Namen der Familie in den Schmutz zu ziehen, sind deshalb die ersten Gebote der balkanischen Erziehung.

Seit ich meinen Sohn habe, bin ich dahinter, diese Erziehungsmuster zu durchbrechen. Um das zu schaffen, muss ich aber selbst lernen – und das täglich – was eine gesunde Erziehung überhaupt ist. Und das mache ich, indem ich mich mit anderen Müttern und Eltern austausche, Erziehungsratgeber lese und gelesen habe, aber auch einfach reflektiere, wie meine Erziehung war und was daran besser hätte sein können. 

„Dein Sohn ist kein richtiger Albaner. So wie du dein Kind erziehst, wird er noch homosexuell. Warum erziehst du ihn zu einem Schlappschwanz? Du bringst ihm die falschen Werte bei. Du hast dein Kind entwurzelt. Wieso erziehst du dein Kind österreichisch?“ sind Sätze, die ich von meinen Verwandten, Angehörigen und sogar Freunden gehört habe. Aber ich sehe kein Problem darin, dass mein Sohn gegebenenfalls homosexuell oder zu feminin sein könnte, warum dann ihr? Es ist so, als wollten alle bei jeder Gelegenheit ihre Probleme zu meinen machen.

Mein Sohn soll seine sanfte Seite (aus-)leben

Ich wollte und will eben keine toxische Erziehungsmethode anwenden, um meinen Sohn zu einem Tyrannen zu machen. Es geht bei der balkanischen Erziehung nämlich in erster Linie darum, dass Familie alles und man selbst ohne Familie nichts wert ist. Um aber in dieser Familie einen Wert zu haben, muss man alle Bedürfnisse und Erwartungen von ihnen erfüllen. Die beste Strategie, um das durchzusetzen, ist mit Angst, Gewalt, Schuldgefühlen und Manipulation zu arbeiten. 

Mein Sohn – genau dafür liebe ich ihn so sehr – hat mich mal Folgendes gefragt: „Warum sollte ich denn irgendwen respektieren, wenn diese Person mich nicht respektieren kann? Nur weil ich ein Kind bin, heißt das nicht, dass ich keinen Respekt verdient habe!“ Ich muss zugeben, dass ich selbst durch meinen Sohn auf Muster und Fehler aufmerksam gemacht werde, die mir selbst nicht bewusst waren. 

Ich beobachte, wie sich mein Sohn seit seiner Geburt entwickelt, und ich wusste schon sehr früh, dass dieses Kind voller Gefühle, Empathie und Liebe ist. Deshalb habe ich ganz bewusst entschieden, die Erziehung, die ich erlebt habe, nicht anzuwenden. Für meinen Sohn wollte ich etwas anderes. Ich wollte und will, dass er seine Emotionen kennenlernt. Er soll eine sanfte Seite erleben und vor allem ausleben dürfen. 

Mein Sohn ist einmal auf die Idee gekommen, sich die Nägel zu lackieren, da war er gerade mal acht Jahre alt. Während ich ihm diese nun in Pink (weil das seine Lieblingsfarbe ist) lackierte, erklärte ich ihm, wie er sich gegen dumme Sprüche wehren sollte. Als er am Abend zurückkam, sagte er voller Stolz: „Ein paar Kinder haben zwar versucht, mich zu ärgern, und auch die Lehrerin hat komisch geschaut, aber ich meinte zu ihnen, am Nagellack steht nichts davon, dass Nagellack nur für Mädchen ist, also kann ich das auch tragen. Und es gefällt mir.“

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Filloretas Sohn soll auch seine sanfte und feminine Seite ausleben können - ohne Vorurteile. Foto: Zoe Opratko

Ein paar Tage später besuchten wir dann mit den Nägeln auch noch meine Eltern. Meine Mutter war schockiert. Sie hatte die Sorge, dass er homosexuell ist und ist dann richtig sauer auf mich gewesen. Sie befürchtete, dass meine Erziehung ihm seine Männlichkeit rauben würde. Ich habe mit ihr lange und mehrmals darüber sprechen müssen und ihr erklärt, dass ich der Meinung bin, dass Kinder frei und ohne unnötige Verbote und Strenge aufwachsen sollten. Es hat lange gedauert, dass meine Mutter gelernt hat, meine Erziehung zu akzeptieren und sich wirklich bemüht, diese auch umzusetzen, wenn mein Sohn bei ihnen ist.

Männliche Verwandte meinten oft zu mir, dass mein Sohn zu soft für diese Welt wäre, er mich durch meine Erziehung nie respektieren wird und ich schuld wäre, wenn er kein richtiger Albaner wird. Und das Schlimmste: Er würde so seine Wurzeln nicht kennenlernen. Viele dieser Männer wissen aber selbst nicht, was einen richtigen Menschen ausmacht. Nicht die Herkunft, nicht die Wurzeln und auch nicht die Sprache. Ein richtiger Mensch kennt seine Bedürfnisse, seine Gefühle, kann sich in die Gefühle seiner Mitmenschen versetzen und weiß vor allem, wie er mit seinen Emotionen umgeht. 

Alte Muster durchbrechen

Einmal sagte eine Cousine zu mir: „Du hältst dich für etwas Besseres, weil du deinen Sohn anders als wir erziehst.“ Ich musste darauf lächeln und sagte: Nein, ich habe nur keine Lust, einen Tyrannen großzuziehen. Er soll lernen, dass Frauen den gleichen Wert haben wie ein Mann. Er soll lernen, dass vor allem er genauso ein wertvoller kleiner Mensch ist. Ich will aber auch nicht, dass er irgendwann vor einer Autoritätsperson steht und sich total kleinmacht, nur um geduldet zu werden. Sei es im Job oder im Privatleben. Es ist mir wichtig, dass er für das, was er ist, geschätzt wird und sich nicht verstellen muss, um angenommen zu werden. Ich habe eine balkanische Erziehung „genossen“ und heute kann ich mich keinem Balkanier nähern, ohne in die antrainierten Muster zu fallen: dem Mann gehörig zu sein, ihm alles nachzutragen und meinen Selbstwert über Bord zu werfen. Ich bin in meinem Umfeld die Erste gewesen, die diese alten Muster der Erziehung durchbrochen hat – und manchmal ist es noch immer schwer, richtig zu handeln. Auch ich habe manchmal wie meine Eltern gehandelt. Zwar ohne physische Gewalt, aber ich neige dazu, wenn ich überfordert bin, cholerisch zu sein, und das tut dem Kind genauso wenig gut.

Es geht mir gar nicht darum, perfekt zu sein. Sondern darum, zu reflektieren und zu unterscheiden, welcher Anteil meiner Erziehungsmethoden zu mir gehört, und welcher mir von meinen Eltern anerzogen wurde. Was hat mir in der Erziehung damals gutgetan und was nicht? Wo leide ich heute noch darunter und wie kann ich dieses Muster durchbrechen? Es geht nicht darum, seine Kultur zu verleugnen. Ich liebe die balkanische Kultur, die Musik, unsere Geschichte, das Essen und dieses Beisammensitzen und dabei andere zu bekochen und gastfreundlich zu sein. Aber nicht, weil ich es muss, sondern weil ich es will. Ich will mich dafür entscheiden können, ohne die Angst zu haben, dass ich anders gar nicht anerkannt werde. ●

 

 

 

Filloreta ist 35 Jahre alt, hat albanischen Background, arbeitet als diplomierte Sozialbegleiterin und Integrationscoach und interessiert sich für intersektionalen Feminismus.

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