Wir Kinder vom Gemeindebau

10. September 2020

Arbeitslose, Proleten und Ausländer: Wer wenig Geld und Bildung hat, der landet im Gemeindebau, so das gängige Vorurteil. Wird hier zu viel gesudert oder ist das Leben im Karl Marx Hof, am Schöpfwerk & Co. mit einem gesellschaftlichen Abstieg gleichzusetzen? Gemeindebaukinder erinnern sich.

Von: Naz Kücüktekin, Fotos: Zoe Opratko

Ich war voller Vorfreude. Von der kleinen Dachgeschosswohnung im 23. Bezirk sollte es in den 12. gehen, in eine größere und schönere Wohnung. Mein Bruder und ich sollten endlich unser eigenes Zimmer bekommen. Zuvor mussten wir uns mit den Sofas im Wohnzimmer begnügen. Die kalten Winter und heißen Sommer im schlecht isolierten privaten Neubau gehörten nun der Vergangenheit an. Zwei Jahre hatten meine Familie und ich auf den kommunalen Wohntraum gewartet. Am Schöpfwerk ging er in Erfüllung. Gemeindebau, wir kommen!

Leistbares Wohnen mit einer guten Infrastruktur ist das Konzept des kommunalen Wohnbaus im Roten Wien. Rund 500.000 Menschen leben in der österreichischen Hauptstadt in einer Gemeindewohnung. Das ist im Schnitt jeder Vierte. Was für viele ein wahrer Wohnsegen ist, stellt für andere einen sozialen Brennpunkt dar. Arbeitslose, Proleten und ausländische Großfamilien, die nur laut sind und Dreck verursachen. Von Medien und Politik wird dieses Bild nur bestärkt. Maxl, aus der ATV-Sendung „Wir leben im Gemeindebau“ gibt den ungebildeten, primitiven und hoffnungslosen Proleten wieder, den sich eh jeder von einem Bewohner des Gemeindebaus erwarten würde. „Best of Maxl“ ist das vierte Video, das auftaucht, wenn man Gemeindebau auf YouTube eingibt. „Der Gemeindebau muss wieder zum Österreicherbau werden“, hetzte erst kürzlich der Landesparteiobmann der Wiener FPÖ Dominik Nepp in einem OE24-Interview. Für die Wien-Wahlen 2020 steigt auch die ÖVP auf den populistischen Zug auf. Spitzenkandidat Gernot Blümel ist für Deutschkenntnisse auf B1-Niveau als Voraussetzung, im Gemeindebau zuleben. Der Gemeindebau. Ein Ort, für den uns ganz viele im Ausland beneiden. Aber auch ein Ort, der für soziales Elend, politische Vereinnahmung und Kulturkämpfe steht.

Mein Ghetto, mein Block: Naz und Alper Am Schöfperk (Foto: Zoe Opratko)
Mein Ghetto, mein Block: Naz und Alper Am Schöfperk (Foto: Zoe Opratko)

KLISCHEE OLÉ

Schon bald nach unserem Umzug Am Schöpfwerk merkte ich, wie schlecht mein neues Zuhause in meiner Schule wegkam. Fast beschämt antwortete ich, wenn nun Klassenkameraden nach meinem Wohnort fragten. Denn vom Schöpfwerk, da höre man doch nur Schlechtes. Drogen sollen dort verkauft werden. „Ja oida, voll das Ghetto dort. Polizei ist jeden Tag vor Türe“, hätte ich im Nachhinein im gebrochenen Deutsch antworten sollen. Jedes Klischee und Vorurteil wäre damit bestätigt gewesen. Der Realität entsprach das nicht, zumindest nicht meiner. Ich wurde nie Zeuge eines Drogenhandels. Unsere Maisonette-Wohnung war geräumig, wir hatten einen Balkon und Nachbarn, die uns mit einem Lächeln begrüßten. Von Drogenhandel und Alk-Exzessen keine Spur. Ganz im Gegenteil. Am Schöpfwerk war mein stinknormales Zuhause. Ja, es war sogar oftmals langweilig. Das Highlight des Tages war der Döner vom „Alaturka“, direkt bei der U-Bahn-Station. Mit Salat und Weißkraut. Laut wurde es nur bei Schönwetter, wenn viele Kinder im Park spielten, oder wenn mein Bruder wieder mal meine Dolma (gefüllte Paprika) weggegessen hat. So weit, so normal. Ist am schlechten Ruf des Gemeindebaus was dran? Wer weiß das besser als andere Gemeindebauern?

Mein Bruder Alper, der noch in der Wohnung wohnt, auf die wir uns so gefreut hatten und aus der ich mit 19 ausgezogen bin, sieht das Ganze entspannter: „Ich wohne gern hier. Manche Sachen nerven mich schon, dass zum Beispiel unsere Nachbarin immer so laut Karaoke singt“. Alper war es, im Gegensatz zu mir, nie peinlich im Gemeindebau zu leben. „Es gibt zwar schon viele Vorurteile, dass da die Leute ungebildet und unfreundlich sind und viel gestritten wird, aber das stimmt ja nicht“, sagt er nur gleichgültig und winkt ab. Sehr überraschend kommt die Reaktion meines Bruders für mich nicht, er ist eher der pragmatische Typ. Von haltlosen Vorwürfen und Vorurteilen lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen.

 

OMA VOM GEMEINDEBAU

Monika ist 65 und wohnt schon seit 36 Jahren in einem Gemeindebau. Mehr als die Hälfte ihres Lebens ist die Anlage im 23. Bezirk schon ihr Zuhause. Sie erzählt mir viele Geschichten. „Bei mir wurde mal untertags eingebrochen, das war ein Wahnsinn“, so Monika. Auch von ihren Nachbarn erfahre ich viel. „Die tratschen alle viel. Da wird oft geflüstert, wenn ich vorbeigehe. Aber Nachbarn kann man sich halt nicht aussuchen”, lacht die Pensionistin. Viele Freunde habe sie in ihrem Haus nicht. Angst vor einer Überfremdung in Wiener Sozialbauten, wie sie oft von rechten Politikern an die Wand gemalt wird, auch nicht: „Dass viele Ausländer hier leben, stört mich nicht. Früher waren es mehr alte Leute, jetzt sind es halt junge migrantische Familien”, so Monika. „So ästhetisch finde ich es zwar nicht, wenn z.B. Nachbarn ihre Teppiche aus den Fenstern hängen, aber das ist halt eine kulturelle Sache”, erzählt mir Monika schulterzuckend. Sie lebt gerne im Gemeindebau. „Es kommt halt auch drauf an, in welchem. Vom Schöpfwerk zum Beispiel, da hört man nur Schlechtes.“ Ich muss schmunzeln, als sie das sagt. Es erinnert mich an die alten Zeiten. Dieselben Gefühle, dieselben Phrasen. Ja, sogar von „Verbündeten“, die in anderen Sozialbauten wohnen, kommt wenig Liebe für mein „Schöpfwerk“. Ich bin mir mittlerweile sicher: Nein, so verzerrt habe ich das alles nicht wahrgenommen. Was ich aber als Jugendliche nicht erkannt habe: Gemeindebau-Kritiker leben gar nicht im Gemeindebau. Sie haben keine Ahnung, was in den großen Höfen von Karl Marx Hof bis zur Albin Hansson Siedlung passiert.

AKADEMISCHE DISKRIMINIERUNG

Bei Nici sieht das anders aus. „Meine Freunde haben alle im Gemeindebau gewohnt. Da hat sich niemand beschwert“, sagt die 22-jährige Studentin. Sie wohnt ebenfalls ihr ganzes Leben lang im Gemeindebau. Sie habe sogar ein paar Freunde, die sie für ihre jetzige Gemeindewohnung beneiden. Das schlechte Image sei ihr aber schon bewusst: „Auf der Uni hat mal eine Professorin erzählt, dass man bei Bewerbungen früher niemanden eingestellt hat, der drei Zahlen in der Adresse hatte, also Hausnummer, Stiege und Türnummer, weil das meist auf einen Gemeindebau hindeutet”, erzählt Nici. 

Gimme me some Gemeidebau-Ralph und Nici (Foto: Zoe Opratko)
Gimme me some Gemeidebau-Ralph und Nici (Foto: Zoe Opratko)

Auch Laurin bricht eine Lanze für das Leben im Gemeindebau. Der schlechte Ruf ist auch nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er kann ihn inhaltlich nicht verstehen, sehr wohl aber den geschichtlichen Ursprung des Bashings nachzeichnen. „Der Gemeindebau war von Anfang an umstritten. Schon in den 1920er waren die konservativen Parteien dagegen. Argumente dafür waren, dass der Wohnungsmarkt geschädigt wird, was man heute noch hört, oder dass die Bauqualität nicht gut wäre. In den 70er und 80er Jahren war vor allem die parteipolitische Vergabe von Gemeindewohnungen ein großes Thema. Der Gemeindebau war also immer schon ein politischer Kampfbegriff“, so der 31-Jährige Museumsmitarbeiter. Laurin hat selbst während seiner Studienzeit im wohl bekanntesten Sozialbau Wiens gewohnt – dem Karl-Marx-Hof. „Ich habe den schon lange bewundert und wollte unbedingt dorthin ziehen“, so Laurin. Wie es der Zufall will, arbeitete er bei der Dauerausstellung „Das Rote Wien im Waschsalon Karl-Marx-Hof“. Seitdem kann man den jungen Wiener getrost als Gemeindebau-Experten bezeichnen.

Mit "Bruda, du musst so posieren" craschte Frankie das Fotoshooting (Foto: Zoe Opratko)
Mit "Bruda, du musst so posieren" craschte Frankie das Fotoshooting (Foto: Zoe Opratko)

FRISCH IM GEMEINDEBAU

Ralph ist Nicis Freund und ist vor knapp einem Jahr in ihre Wohnung im 12. Bezirk eingezogen. Er kommt aus Niederösterreich und hatte vor seinem Einzug wenig Wissen über den Gemeindebau. “Ich kannte es nur von der ATV-Sendung. Der Maxl aus dem Gemeindebau hat das Bild schon geprägt. Daher dachte ich schon, dass im Gemeindebau nicht das beste Publikum ist oder die Wohnungen nicht schön sind”, schmunzelt er. Ralph tat gut daran, nicht zu viel auf diese Vorurteile zu geben „Wenn man selbst im Gemeindebau lebt und sich auch mit dem Thema des Sozialbaus beschäftigt, kann man sich glücklich schätzen, hier zu leben“, frohlockt Ralph. Ähnlich sieht das Ivan. Auch er betont die finanziellen Vorteile einer Gemeindewohnung. “Ich habe eine super Wohnung in bester Lage im sechsten Bezirk. Für 37 m² zahle ich 345 Euro. Für die müsste ich sonst sicher das Doppelte Zahlen”, erzählt er. „Nur das Doppelte?“, frage ich mich in meinen Gedanken und denke an Wohnungen in Bezirken innerhalb des Gürtels, die gar das Dreifache kosten. Seit drei Jahren wohnt der Kellner im Gemeindebau in der Grabnergasse, nähe Linke Wienzeile. Auch, wenn es ein paar Menschen im Haus gibt, die offensichtlich an einer Sucht leiden, denkt Ivan nicht daran, seine Bleibe aufzugeben. Manchmal findet er Möbel im Stiegenhaus, wie er ironisch anmerkt: „Es steht schon seit Monaten ein Glastisch am Gang. Ich überlege, ob ich den mitnehme. So schlecht schaut er nicht aus.”

Billige Miete, gutes Leben:Ivan freut sich sogar über den Spielplatz (Foto: Zoe Opratko)
Billige Miete, gutes Leben:Ivan freut sich sogar über den Spielplatz (Foto: Zoe Opratko)

Klischees und Vorteile, sie werden von jedem genannt, mit dem ich über den Gemeindebau spreche. Beim Blick von oben herab wird allerdings oft vergessen, was der Gemeindebau wirklich ist. Er ist ein Wohnsystem, das unterschiedlichsten Menschen leistbaren Wohnraum bietet, die meist sehr zufrieden damit sind. Ich war es ja auch. Mein Auszug hatte persönliche Gründe. Der Gemeindebau war nicht das Problem. Und auch jetzt, wo ich in einem der „Bonzen“-Bezirke im Wiener Westen wohne, kann ich keinen großen Unterschied in der Wohnqualität feststellen, außer dass ich jetzt viel länger zur U-Bahn brauche. Das nervt.

Der Autorin Naz Kücüktekin war es ein großes Anliegen, die unzähligen negativen Klischees, die am Gemeindebau haften, zu widerlegen. Ihr müsst beurteilen, ob ihr das gelungen ist. (Foto: Zoe Opratko)
Der Autorin Naz Kücüktekin war es ein großes Anliegen, die unzähligen negativen Klischees, die am Gemeindebau haften, zu widerlegen. Ihr müsst beurteilen, ob ihr das gelungen ist. (Foto: Zoe Opratko)

 

HAST DU GEWUSST?
→ Rund 500.000 Menschen leben in 220.000 Gemeindewohnungen in Wien.
→ Der erste Gemeindebau war der Metzleinstalerhof. Er wurde von 1916 bis 1925 errichtet und beherbergt 252 Wohnungen im 5. Bezirk.
→ Im Herbst 2019 wurde der Barbara-Prammer-Hof in der Fontanastraße im 10. Bezirk als neuester Gemeindebau fertiggestellt.
→ „Die Türe des geförderten Wohnbaus ist in Wien für die Mittelschicht ganz bewusst weit geöffnet. Auch Besserverdienende sind im Gemeindebau willkommen, denn niemand soll für sozialen Aufstieg bestraft werden“, laut Wiener Wohnen. Die monatliche Einkommenshöchstgrenze für eine einzelne Person beträgt 3.372,14 Euro netto monatlich.
→ Die durchschnittliche Gemeindewohnung ist laut Statistik Austria im Jahr 2018 59m2 groß. Im Vergleich dazu: Eine durchschnittliche Mietwohnung hat 68m2, 72m2 sind es bei Genossenschaftswohnungen, 90m2 bei Eigentumswohnungen.
→ Favoriten hat mit rund 27.500 die meisten Gemeindewohnungen.

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