„Die Illusion eines geeinten Jerusalem erlischt.“

15. Oktober 2015

Wird es eine neue Intifada geben? Die Lage in Israel ist angespannt. Seit Wochen kommt es zum Teil zu tödlichen Attacken von Palästinensern auf Israelis. Nach Protesten rund um die Al-Aqsa-Moschee im Herzen Jerusalems droht die Situation in Israel und Palästina jetzt zu eskalieren.

Biber hat sich mit Sefi Kedmi, einem ehemaligen Berater der Knesset, dem israelischen Parlament, und Aktivisten unterhalten. Er spricht über persönliche Ängste, mögliche Konsequenzen der Gewalt für die Palästinenser und die Zwei-Staaten-Lösung als einzige Option für Frieden.

Biber: Was ist der Grund für den Anstieg der Gewalttaten zur Zeit?

Sefi Kedmi: Es sind vor allem drei Akteure. Hamas, die PLO und die palästinensischen Mitglieder des Parlaments. Sie alle sind frustriert über die Situation und spielen politische Spielchen. Das führt dazu, dass Menschen die vollkommen unbegründete Vorstellung glauben, dass die Moscheen in Jerusalem bedroht sind. Ich persönlich lehne viele Politiken meiner Regierung ab. Jedoch rechtfertigt keine dieser politischen Entscheidungen, unter welchen Umständen auch immer, das Töten von Zivilisten.

Hast du Angst, dass sich die Gewalt weiter ausbreitet?

Ja, ich habe vor einigen Dingen Angst. Ich habe zum einen Angst, dass sich die Gewalt ausbreitet und mehr Menschen verletzt werden. Zum Glück gibt es viele Menschen in Israel, die immer wieder versuchen, die Angriffe zu vereiteln. In vielen Fällen führt das auch zum Tod der Person, die diesen Terrorakt ausführt. Aber diese Menschen, die  zu morden versuchen, sind auch Opfer. Es sind junge Leute, Jugendliche oder Mitte-20-Jährige. Erstens werden diese Menschen einer Gehirnwäsche unterzogen, damit sie glauben, sie könnten mit dem wahllosen Ermorden von Juden ein „Übel“ verhindern. Zweitens glauben sie, dass sie dadurch die Al-Aqs-Moschee befreien könnten.

"Sie werden Hass, Misstrauen, und gegenseitige Dämonisierung säen."

Die Situation ist sehr frustrierend, denn sie werden nichts verbessern, indem sie unschuldige Menschen ermorden und sich selbst. Sie werden Hass, Misstrauen, und gegenseitige Dämonisierung säen.Das ist auch meine zweite große Angst. Ich habe viele arabische Freunde. Ich sage das sehr stolz, dass ich mit keinem Araber oder Muslim ein Problem habe und sie nicht meine Feinde sind. Sie haben das gleiche Recht in diesem Land zu sein und wir müssen miteinander leben.

Wie kann es sein, dass bereits Jugendliche, kaum älter als 13 oder 14, radikalisiert werden?

Es ist sehr leicht sie zu radikalisieren und gleichzeitig eine Schande. Ich differenziere auch zwischen den Menschen, die diese Straftaten begehen und den Brandstiftern im Hintergrund.

Wieso ist das so einfach?

"Kein Mensch wird als Rassist geboren oder wird damit geboren andere zu hassen."

Es ist einfach, weil sie leicht zu beeindrucken sind und mit dem Hass heranwachsen. Ich meine das nicht rassistisch. Kein Mensch wird als Rassist geboren oder wird damit geboren andere zu hassen. Ich verstehe die Frustration der Palästinenser in Israel und der Palästinenser generell. Israel wird jedoch nicht verschwinden, ich werde nicht verschwinden und auch die Palästinenser werden und sollen nicht verschwinden – daher müssen wir an einer besseren Zukunft gemeinsam arbeiten.  Wir haben uns fast ein Jahrhundert bekämpft und das war schlecht für uns alle. Ich habe viele Freunde verloren und ich habe Freunde, die ihre Familienangehörigen verloren haben.  Auch meine palästinensischen Freunde haben geliebte Menschen verloren. Die Anstiftung zu mehr Gewalt ist keine Lösung.

Private Waffenkäufe nehmen im Moment in Israel stark zu. Ist das ein positiver oder negativer Trend?

Ein negativer Trend. Ich bin auch sehr traurig, denn ich möchte nicht in Situationen geraten, in denen ich attackiert werde oder jemand in meiner Nähe. Das Leben hat mehr zu bieten. Ich will ein normales Leben führen, und ich wünsche mir ein normales Leben für meine palästinensischen Freunde.

Könnte es zu einer neuen Intifada kommen?

Das ist schwierig zu sagen, denn es spielen viele Faktoren eine Rolle. Es ist wahrscheinlich, dass die Regierung in Israel jetzt verschärfte Maßnahmen zur Prävention solcher Attacken treffen wird. Je mehr Angriffe es gibt, um so schwieriger wird sich das Leben der Palästinenser gestalten. Ihre Geschäfte werden leiden, das passiert bereits. Ihre Interaktion mit Juden wird schwieriger werden. Die Gemeinschaft wird behindert werden und vor allem in Jerusalem wird es schlimmer werden. Die Illusion eines geeinten Jerusalem erlischt.

"...mehr Armut, mehr Frustration, und auch mehr Gewalt..."

Auch die Sozialleistungen und andere Rechte der Palästinenser in Jerusalem könnten gestrichen werden. Das würde zu mehr Armut, mehr Frustration und auch zu mehr Gewalt führen. Niemand wird davon profitieren, höchsten einige Politiker, die sich patriotisch geben, auf Kosten ihrer eigenen Leute.

Glaubst du noch an eine friedliche Lösung?

"Wir gehen nicht weg, und sie gehen nicht weg."

Das einzige, was ich in diesen Tagen akzeptiere, ist ein Friedensvertrag. Wir haben keine andere Chance. Es ist ein bisschen wie den Krebs zu bekämpfen. Nur weil du einmal, zweimal oder dreimal verlierst, heißt das nicht, dass du zu kämpfen aufhörst.  Man muss für den Frieden kämpfen, immer wieder und wieder, bis wir es geschafft haben.  Wir gehen nicht weg, und sie gehen nicht weg. Der einzige Weg ist die Koexistenz in zwei getrennten, freien und unabhängigen Staaten. Nicht zum Nachteil des einen oder anderen, aber in einem gemeinsamen Weg.

 

 

 

 

 

 

 

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