„Ich war mit Herz und Seele dabei“ – Eine ehemalige Altenpflegerin erzählt

12. Mai 2017

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Foto: Inka Pluhar
Foto: Inka Pluhar

Eines Nachts werden wir von Geräuschen im Nebenzimmer geweckt. Daraufhin öffnet eine Gestalt unsere Zimmertür und nähert sich dem Bett. Es war Baki (übers.: Omi). Ganz verwirrt im Dunkeln, einem 5-jährigen Kind gleichend, fragt sie, wer wir sind. Mama legt ihren Arm ganz sanft um ihre Mutter und entgegnet zittrig: „Mama, was hast du denn? Wir sind’s doch!“. Ich verkrieche mich mit meiner Schwester unter die Bettdecke.

Wir verstanden damals nicht, was sich da vor unseren Augen abspielte. Schnell fand Oma wieder zu sich und antwortete barsch: „Was soll denn mit mir sein? Warum hast du mich geweckt?“ Mama begleitete Großmutter in ihr Schlafzimmer und wartete bis sie einschlief. Danach legte sich unsere Mutter wieder zu uns ins Bett. Zu groß waren Angst und Trauer, dass sie wieder einschlafen konnte. Sie weinte. Von nun an war klar: Oma hatte Alzheimer.

Bei minus 10 Grad im Nachthemd draußen

Mit der Zeit verschlimmerte sich die Krankheit. Spät aber doch wurde die Familie wachgerüttelt. Daraufhin organisierten wir eine ausgebildete 24-Stunden Pflegekraft, die bereits pensioniert war. Sie verbrachte Tag und Nacht mit Großmutter. Doch es wurde schlimmer. Als es dann so weit kam, dass Omi mit ihrem Nachthemd bei minus 10 Grad auf die Straße vor ein Auto lief, mussten ihre Kinder handeln. Sie brachten ihre alte und schwerkranke Mutter in ein Alten- und Pflegeheim. Das Ins-Heim-Verfrachten half ihr nicht sonderlich viel. Ich würde sogar behaupten, dass es sie kränker machte.

Oma wurde aus ihrem gewohnten Lebensraum gerissen und kam in ein fremdes Umfeld. Beinahe ihr ganzes Leben verbrachte sie in dem Haus, in dem sie bis dato lebte. Und ganz plötzlich war es nicht mehr da. Natürlich, sobald ein alter Mensch unberechenbar und gefährlich für sich selbst wird, kann auch eine 24-Stunden Betreuung nicht mehr viel anrichten. Eine solche Position bringt viel Verantwortung mit sich. Wäre Oma unter Aufsicht ihrer Pflegekraft etwas Schlimmeres passiert, hätte das ihre Freundin keineswegs verkraften können. Es kam einfach die Zeit, wo sich Baki der strengen Beobachtung stellen musste. Nach einigen Monaten starb sie.

„Ich habe es mir leichter vorgestellt“

Dass es damals nicht nur für meine Großmutter, sondern auch für ihre Betreuung eine schwierige Zeit war, ist mir durchaus bewusst. Um zu erfahren, mit welchen Herausforderungen eine Pflegekraft tagtäglich konfrontiert wird, wollte ich mit einer solchen Person darüber sprechen.

„Ich habe es mir leichter vorgestellt, als es ist. Ich dachte, man ist unterwegs und hilft den Menschen. Doch dir fehlt die Zeit dazu. Es ist alles minutengenau angegeben.“, sagt meine Gesprächspartnerin, eine ehemalige Altenpflegerin. Viele der ihr zugewiesenen Pflegebedürftigen hatten keine Angehörigen mehr. Und die, die doch eine Familie haben, sind trotzdem im Stich gelassen worden. Die Heimhelferin ist oftmals die einzige Bezugsperson für ihre Patienten, die die Minuten zählen, bis sie kommt. So gesehen ist man als Pflegekraft eine Stütze für sehr einsame alte Menschen. Es sind Personen mit ganz langen und individuellen Lebensgeschichten.

„Einmal ihr Gesicht streicheln, ist ihnen mehr wert, als dass man ihnen etwas zu essen gibt“

„Wenn sie dir ihre Lebensgeschichte offenbaren, die sie zuvor noch nie jemandem erzählt haben, dann kannst du nicht einfach gehen. Ich zumindest tat es nicht.“, setzt die ehemalige Betreuerin fort. Diesen Menschen bedeutet es viel mehr, wenn man ihnen zeigt, dass man für sie da ist. „Einmal ihr Gesicht ganz sorgfältig streicheln, ist ihnen mehr wert, als dass man ihnen etwas zu essen gibt.“ Und weil sie blieb, kam es zu Verzögerungen, sodass der nächste Patient länger warten musste und unglücklich war. Aus diesem Grund hatte sie auch Schwierigkeiten mit ihrem Arbeitgeber.

Es ist im Grunde nur ein Job. Man bekommt eine Patientenliste, die man im Laufe des Tages abzuarbeiten hat. Jeder dieser Menschen hat ganz individuelle Wünsche und Bedürfnisse, natürlich gibt es auch sehr viele, die bettlägerig sind, für die man dann auch etwas mehr Zeit hat, dennoch stets unter Druck und Stress arbeiten muss. „Der Patient, der schnell gewaschen werden muss, spürt die Nervosität, die dabei mitspielt. Den Klienten Ruhe zu vermitteln, ließ der strikte Arbeitsablauf aber nicht zu.“

„Ich warte auf ihn“

Die ehemalige Heimhelferin hat mich mit der folgenden Geschichte besonders berührt. An ihrem ersten Praktikumstag in einem Altersheim hatte sie eine herzergreifende Begegnung mit einer 92 Jahre alten Dame. Über ihrem Bett hing ein Bild. „Das sind ich und mein Mann, auf den ich noch immer warte.“, sagte sie mit leiser Stimme. Kurz nach ihrem Kennenlernen heiratete das junge Paar. Fünf Wochen später musste ihr Romeo in den Krieg ziehen. Kinder hatten sie keine. Er kam nie zurück. Es war ihre erste und letzte Liebe. Ihre Lebensgeschichte beendet die Schwerkranke mit den Worten: „Entweder kommt er irgendwann durch diese Tür hinein oder er wird mich durch sie hinausziehen.“

 

Foto Inka Pluhar
Foto Inka Pluhar

 

„Sie aufzubauen ist mir nicht gelungen“

Die alte Dame ist hier kein Einzelfall. Oft hört man von seinen Patienten: „Wann kann ich endlich gehen?“. Meine Gesprächspartnerin konnte sich auch nicht einreden, dass sie sich mit der Zeit an diese Frage gewöhnen wird. Das einzige, was sie in solchen Momenten tun konnte, war sich neben ihre Patienten zu setzen und ihre Hand zu halten. „Sie aufzubauen ist mir aber nicht gelungen.“, sagt sie. Man kann diesen Menschen, die mit starken Schmerzen zu kämpfen haben, auch keine Märchen erzählen, denn sie befinden sich in der brutalen Realität.

Weil jedes einzelne Schicksal meine Gesprächspartnerin stark mitnahm und auch nach der Arbeit nicht ruhen ließ, teils Nächte verstrichen, in denen sie kaum schlief, musste sie letztlich einen Schlussstrich ziehen. „Es ist immer gut die Balance zu finden, das fehlte mir aber.“, führt sie als ausschlaggebenden Grund für ihre Kündigung an.

Keineswegs bereut sie die Zeit. Es waren so viele süße, lustige aber auch tragische Geschichten dabei, von denen sie – wie ich während unseres Gespräch bemerkt hatte – noch immer nicht loslassen kann. Diese Menschen können dir so unendlich dankbar sein, „diese Dankbarkeit drücken sie mit ihrem Strahlen aus, wenn sie dich sehen.“ Es reicht ihnen zu wissen, dass man einfach nur für sie da ist. Jede einzelne Person war eine Herausforderung für sie. Mit jedem musste sie natürlich anders umgehen, wichtig war dabei stets, ein verlängerter Arm für die Schwerkranken zu sein.

Ihr soziales Engagement hat sie dann doch nicht so ganz aufgeben können. Im Moment hilft sie an allen Ecken und Enden der eigenen Familie, vor allem ihrem Schwiegerpapa möchte sie eine große Stütze im Alltag sein.  

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