„Ihr macht Erdoğan groß!“

09. August 2016

Erdogan

Erdogan
OZAN KOSE / AFP / picturedesk.com

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan dominiert seit Wochen die Schlagzeilen der westlichen Medienwelt. Viele der österreichischen Türken stehen der Berichterstattung kritisch gegenüber – obwohl sie Erdoğan-Gegner sind.  

„Hunderttausende demonstrieren in Izmir heute für Demokratie & Laizismus, nicht für Erdoğan und die DE Medien schweigen. Warum findet die Opposition in den deutschen Medien praktisch nicht statt? Warum? Angeblich will man die Demokratie in der Türkei stärken und die andere, nicht Erdoğan Türkei existiert nicht für die Medien.. Ich ärgere mich darüber.“ Dieser Facebook-Beitrag von Ali Utlu wurde 862 Mal geteilt. Ali Utlu ist Erdoğan-Gegner. Das äußert er öffentlich auf seinem Facebook-Profil, trotzdem stört ihn die einseitige Berichterstattung der westlichen Medien, die sich nur auf Erdoğan konzentriert. Die hohe Resonanz auf seinen Facebook-Beitrag zeigt, dass viele Türken und Türkinnen enttäuscht von der westlichen Berichterstattung sind.

Zuerst gefeiert, jetzt verhasst

Auch die 24-jährige Hatice hat Alis Beitrag auf Facebook geteilt, obwohl sie den in Deutschland lebenden gebürtigen Türken nicht persönlich kennt. „Ich finde die westliche Berichterstattung lächerlich. Jahrelang wurde Erdoğan von europäischen Medien gefeiert. Sie haben damals geschrieben: ‚Der super Erdoğan, der die Türkei wirtschaftlich als auch gesellschaftlich vorantreibt’. Schon damals wurde die Opposition in der Türkei von den westlichen Medien nicht gehört.“

Überrumpelt

Hatice ist in Österreich geboren, ihre Eltern sind als Gastarbeiter aus der Türkei nach Österreich gekommen. Die 24-Jährige kommt aus einem modernen Elternhaus, sie ist nicht anders aufgewachsen als ihre österreichischen Freundinnen. Hatice studiert, ist politisch interessiert - sie und ihre Familie stehen Erdoğans Aufstieg von Anfang an skeptisch gegenüber. „Seit 2002, das Jahr in dem Erdoğan erstmals gewählt worden ist, gab es viele Zeitungen, Politiker und Journalisten, die die heutigen Tage vorausgesehen haben und gegen Erdoğan waren. Schon damals haben die westlichen Medien nicht über die Zweifel dieser Menschen berichtet. Heute sind alle auf einmal gegen Erdoğan.“ Tatsächlich vergeht seit Wochen kein Tag, an dem nicht über den türkischen Präsidenten geschrieben wird. Vor allem nach dem Putschversuch des 15. und 16. Juli ist das verständlich. Erdoğans Machtzunahme muss thematisiert werden. Trotzdem fühlen sich viele in Österreich lebende Türken überrumpelt von dieser Berichterstattung.

Unsichtbar

„Ich bin seit Jahren gegen Erdoğan. Meine gesamte Familie, Freundes- und Bekanntenkreis sind gegen ihn. Genauso wie meine Familie und Freunde, die in der Türkei leben. Trotzdem sind wir für die westlichen Medien unsichtbar. Sie zeigen nur den Diktator Erdoğan und sein „dummes“ Volk, das sich ihm bereitwillig unterworfen hat. Damit ist keinem geholfen, im Gegenteil“, sagt der 28-jährige Cihan. Er befürchtet, dass die Darstellung der westlichen Medien nur noch mehr Türken dazu verleitet, Erdoğan zu unterstützen: „Wenn du als Türke ständig liest, wie scheiße Erdoğan und die Türkei ist, wirst du wütend. Wieso berichten sie nur negativ über mein Heimatland? Vielen kommt es wie eine Propaganda-Aktion der westlichen Medien vor. Verschwörungstheorien nehmen so ihren Lauf und Leute, die früher gegen Erdoğan waren, fangen an, mit ihm zu sympathisieren und ihn als Opfer der Berichterstattung zu sehen.“

Zu einseitig

Cihan selbst ist nach wie vor Erdoğan-Gegner, er hat auch an den Solidaritäts-Demos zu den Gezi Protesten 2013 in Wien teilgenommen – damals war sein gesamtes Umfeld auf derselben Seite, heute zeigen sich immer mehr ehemalige Erdoğan-Gegner aus seinem Umkreis plötzlich neutral. „Auf der einen Seite treibt diese einseitige Berichterstattung immer mehr Türken in Erdoğans Arme, auf der anderen Seite bietet sie denen, die eh schon immer etwas gegen Türken hatten, Projektionsfläche das nun öffentlich unter dem Deckmantel der Kritik an Erdoğan zu machen – was wollen die europäischen Journalisten damit bewirken, indem sie alle nur noch dasselbe schreiben?“, so Cihan. Der 28-Jährige versteht nicht, wieso gerade die österreichischen Journalisten, die meinen, man solle Hofer-Wähler nicht als dumm darstellen, sonst würde man sie noch mehr stärken, die, die fordern, nicht zu viel über den IS zu berichten, weil man ihnen dann das gibt, was sie wollen, nicht dieselben Maßstäbe bei ihrer Berichterstattung zu Erdoğan gelten lassen.

Zunehmende Türkenfeindlichkeit

Viele europäische Journalisten sehen es aber als Pflicht, sich vor allem mit den in der Türkei inhaftierten Journalisten zu solidarisieren. Sie sehen es als ihre Aufgabe, darüber zu schreiben, wofür ihre in der Türkei lebenden Kollegen im Gefängnis landen. Hatice steht dem kritisch gegenüber: „Die westlichen Medien wissen genau unter was für einem Druck die Opposition und die Journalisten in der Türkei stehen. Andersdenkenden wurde das Sprachrohr zum Volk weggenommen. Von türkischen Erdoğan-Gegnern wird in den europäischen Nachrichten kaum berichtet. Mir kommt es so vor, als würden alle österreichischen Medien die Nachrichten aus der Türkei von ein und derselben Agentur übernehmen.“ Hatice fordert eine differenziertere Herangehensweise. Letzte Woche hat ihr ein in der Türkei lebender Freund geschrieben, dass er Urlaub in Bratislava machen möchte und eine Absage von einem Apartment–Anbieter bekommen hat, weil er Türke ist. Er hat ihr die E-Mail des Anbieters weitergeleitet, in der steht, dass sie aufgrund von Sicherheitsmaßnahmen keine Zimmerreservierungen von Türken oder Arabern akzeptieren.

Alle sind betroffen

Hatice hat die E-Mail auf ihrer Facebook-Seite veröffentlicht, schnell wurde der Beitrag von anderen geteilt. Unter anderem vom 29-jährigen Emre, der das als Konsequenz der Berichterstattung sieht. „Die negativen Berichte der Journalisten der Türkei gegenüber treffen nicht Erdoğan, sie treffen alle Türken, auch die, die nichts mit seiner Politik zu tun haben.“ Emre hat am eigenen Leib erfahren, dass die Türkenfeindlichkeit zugenommen hat. „Ich muss mich auf einmal vor allen rechtfertigen, dass ich nicht pro Erdoğan bin. Für Österreicher gilt das „Wahlgeheimnis“, ich muss sagen, dass ich Erdoğan nicht wählen würde, sonst bin ich in ihren Augen ein zurückgebliebener, fundamentalistischer Bauer. Wenn sogar Politiker öffentlich sagen, dass Türken sich schleichen sollen, wenn sie Erdoğan unterstützen, dann ist Türken-Bashing offiziell salonfähig geworden.“

Mehr Sensibilität

Emre spielt damit auf die Aussage von Außenminister Kurz in einem Interview an: "Wer sich in der türkischen Innenpolitik engagieren will, dem steht es frei, unser Land zu verlassen.“ Auch Hatice ist diese Aussage sauer aufgestoßen: „Grundsätzlich finde ich richtig, was Kurz sagt, aber das möchte ich nicht von einem Außenminister hören, das ist in meinen Augen politisch nicht korrekt.“ Hatice weiß, wie viele Türken in Österreich leben und dass alles, was in der Türkei passiert, somit auch die Türken hier beeinflusst. Deshalb fordert sie mehr Sensibilität von Seiten der österreichischen Journalisten. „Nach dem Putschversuch habe ich in den Nachrichten gehört, dass so und so viele Journalisten festgenommen worden sind. Darunter sind auch ein paar aus der Gülen-Bewegung dabei, darüber spricht man aber nicht." (Anm. d. Red.: Als Gülen-Bewegung wird eine religiöse und soziale Bewegung bezeichnet, die vom türkischen islamischen Prediger Fethullah Gülen ausgeht. Gülen wird vorgeworfen, eine Unterwanderung der türkischen Polizei und Justiz anzustreben)

Heuchlerisch

Auch Cihan vermisst Zusatzinformationen bei der Berichterstattung: "Plötzlich geht es nur noch um Erdoğan. Über die PKK wird nicht mehr berichtet, obwohl Bürgerkrieg-ähnliche Zustände herrschen, dort wo die PKK wütet. Stattdessen bezeichnen sie manche Medien sogar als „verbotene Arbeiterpartei“ und sprechen nicht offen aus, was sie ist: Eine Terrororganisation. Durch diese Verschleierung verlieren die Medien bei mir an Glaubwürdigkeit. Bei Erdoğan offen von einem Diktator sprechen, aber die PKK als Arbeiterpartei verharmlosen – das ist heuchlerisch.“

Hatice, Cihan und Emre haben den Glauben an die objektive Berichterstattung verloren. „Dass in der Türkei wegen Erdoğan nicht objektiv berichtet wird ist fürchterlich, aber, dass die europäischen Journalisten, die Erdoğan dafür kritisieren, selbst nicht objektiv berichten, lässt mich an allen Medien zweifeln“, sagt Cihan. Auch Emre geht mit den Medien hart ins Gericht: „Die westliche Berichterstattung stärkt Erdoğan. Ihr macht Erdoğan groß! Ihr treibt die Unschlüssigen auf seine Seite, da sie ihn als Opfer einer westlichen Hetzkampagne sehen und wir andersdenkenden Türken dürfen das dann ausbaden, vielen Dank!“

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Kommentare

 

Noch besser: organisiert euch und geht zahlreich auf die Strasse!! Wenn die Medien nicht herschauen, müsst ihr so laut sein, damit sie nicht wegschauen *können*.

Tausende, die immer und immer wieder gegen die FPÖ auf die Strasse gehen, müssten sich eigentlich auch nicht "Rechtfertigen" oder "Distanzieren" - aber sie tun es trotzdem, weil es in einer Demokratie notwendig ist. Solche Demos/Distanzierungen sind Widerspruch und Zeichen an die Rechten und den Rest der Gesellschaft, das deren Überzeugungen relativiert und den Grad der gefühlten öffentlichen Akzeptanz zurechtrückt. (Das Thema kennt man ja: wieso distanzieren sich Moslems nicht von xyz, etc...)

Nicht vergessen: Schweigen heisst zustimmen. Es ist unsere eigene Verantwortung zumindest so laut zu sein, damit man als schweigende Masse nicht den Raum freimacht für Ansichten, die man ablehnt.

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