Mailänder Silvesternacht: Köln 2.0?

17. Januar 2022

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Nada El-Azar
(C)Zoe Opratko

Vor dem Mailänder Domplatz wurden in der Silvesternacht junge Frauen von Männern sexuell genötigt. Die Bilder erinnern stark an jene aus Köln im Jahr 2015. Ein Aufschrei bleibt diesmal aber aus. Warum?

Die Empörung in Mailand ist groß: Videoaufnahmen zeigen, wie sich Männer vor dem berühmten Domplatz um feiernde Frauen gruppieren, sie begrapschen und anpöbeln. Mindestens neun Frauen sollen von den Übergriffen betroffen gewesen sein. Medienberichten zufolge wird nun wegen sexueller Nötigung gegen 18 Jugendliche ermittelt. Drei von ihnen sind nicht volljährig. Das Täterprofil: Männlich, aus dem nordafrikanischen Raum stammend. Die Bilder erinnern stark an jene der Kölner Silvesternacht 2015, die wiederum an die Gruppenbelästigungen am Tahrir Platz in Kairo erinnern, als die ägyptische Bevölkerung dort zur Zeit des Arabischen Frühlings 2011 im großen Stil demonstrierte. Hier ein Auszug aus den Aufnahmen:

Der arabische Begriff „Taharrusch Dschama’i“ ist im Zusammenhang mit den Vorfällen in Köln auch in heimischen Medien geläufig geworden. Zusammengesetzt wurde diese Bezeichnung aus den Begriffen für „Belästigung“ und „Gruppe“. Scrollt man sich durch die Kommentarspalten der Zeitungsberichte über die jüngsten Ereignisse in Mailand, wird schnell klar, dass vor allem das Profil der mutmaßlichen Täter kontrovers diskutiert wird. Demnach soll es sich um Männer nordafrikanischer Abstammung, vorwiegend aus muslimisch geprägten Herkunftsländern, handeln. Schon wieder!, schreibt manch einer. Wieder ein Beweis dafür, dass Gewalt gegen Frauen ein importiertes Problem sei und Integration scheinbar nicht funktioniert. Undankbar seien die neuen Europäer, die sich so etwas erlauben! Dass dies so nicht stimmt, sollte sich natürlich jedem vernünftigen Menschen von alleine erschließen. Wir haben auch in Österreich bekanntlich ein großes Problem mit Frauengewalt – erst vor Kurzem hat ein Mann in Oberösterreich seine Ehefrau mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet. Die Zahl der Femizide seit Anfang 2021 hat somit die 30er-Marke überschritten. Eine traurige Bilanz.

Schweigen, statt Wut und Betroffenheit

Es ist offensichtlich, wie zaghaft über die Herkunft der Täter diskutiert wird, und was die Sozialisierung im Zusammenhang mit den Angriffen bedeuten kann. Man wolle schließlich nicht zur Rassifizierung von Gewalt beitragen oder Ausländer als Frauenbegrapscher verunglimpfen. Jo eh. Aber was hat sich eigentlich seit der Kölner Silvesternacht getan? Ich diskutierte intensiv über dieses Thema mit meiner Jugendfreundin Nada, die nicht nur denselben Vornamen mit mir teilt, sondern ebenfalls eine aus Ägypten stammende Mutter hat. Mit großem Interesse verfolgte sie etwa im September 2021 den Gerichtsprozess gegen den 47-jährigen Landsmann, der seine Exfreundin in einer Trafik mit Benzin übergossen und angezündet hatte. Und das nicht nur als Jurastudentin, sondern auch mit einer gewissen persönlichen Betroffenheit, die dieser Fall auslöst. Erst kürzlich ging ich an der besagten Trafik am Alsergrund vorbei. Es stehen immer noch Kerzen und Kränze vor dem Eingang. Der Geruch von Ruß und Asche ist auch nach all diesen Monaten nach dem Angriff immer noch wahrnehmbar. Eine unglaubliche Wut erfasste mich in diesem Moment. Genauso dieses Betroffenheitsgefühl muss wohl die Kommunikationsforscherin Hanan Badr von der Arab-German Young Academy of Sciences and Humanities (AGYA) in Berlin gemeint haben, als sie sich im Deutschlandfunk äußerte: „Gerade als Frau treffen mich die Vorfälle in Köln sehr, da ich ja das Phänomen kenne und darunter in meinem Heimatland Ägypten leide.“

Belästigung ist keine „Kultur“

Im Gegensatz zu meinen Geschwistern mache ich niemals Heimatbesuche bei meiner Verwandtschaft in Ägypten. Der Grund dafür ist simpel: Ohne Begleitung durch meine, teilweise sogar jüngeren, männlichen Cousins, würden mich meine Tanten nirgendwo hingehen lassen. Meine jüngere Schwester verbrachte einmal einen Sommer in Kairo und ächzte vor den ganzen Bemerkungen, die man dort ungefragt von fremden Männern auf der Straße bekommt. In Alexandria trug sie am Strand lockere, lange Shorts und ein T-Shirt zum Schwimmen, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Trotzdem versuchten sich im Wasser Männer zu nähern und sprachen sie an. Ich möchte an dieser Stelle bei Weitem nicht ausdrücken, dass Belästigung im Allgemeinen oder das „Taharrusch Dschama’i“ ein Teil der arabischen Kultur sind. So ein Verhalten in einem Satz mit „Kultur“ zu erwähnen ist schon absurd genug. Die allermeisten Menschen verurteilen diese Umstände, auch vor Ort in Ägypten, oder in der breiten arabischen Diaspora. Aber man darf eben nicht ignorieren, dass dies ein bekanntes Phänomen ist, und beinahe fast geläufig erscheint. Sonst wären meine Tanten nicht so besorgt darüber, ob ich als erwachsene Frau in Kairo ohne Begleitung herumschlendern sollte. Das sind eben die Tücken patriarchaler Rollenverteilungen in der Gesellschaft, überall auf der Welt werden Frauen aus diesem Grund Opfer von Männergewalt.

Der Elefant im Raum

Solche Tatsachen aber medial unter den Tisch zu kehren, und aus reinem Gutdünken nicht anzusprechen trägt nicht zuletzt dazu bei, dass sich nichts an der Situation ändert. Den zugehörigen Artikel zu den Übergriffen in Mailand findet man beispielsweise auf der Webseite des „Standard“ erst versteckt, in der Unterrubrik „dieStandard“, unter dem Reiter „Geschlechterpolitik“ und schließlich „Gewalt gegen Frauen“. Warum wird diesen schrecklichen Vorfällen nicht mehr Präsenz geschenkt, wo doch erst kürzlich die „16 Tage gegen Gewalt an Frauen“ verstrichen sind? Die Übergriffe von Köln sind sechs Jahre her, jene aus der Zeit des Arabischen Frühlings liegt bereits zehn Jahre zurück. Und was muss noch passieren, bis wir so weit sind, offen über diese Missstände zu sprechen? Ich vermisse vor allem Empörung von linker Seite, die doch sonst so schnell auf die Barrikaden geht, wenn Frauen jegliche Ungerechtigkeit widerfährt. Der Elefant im Raum – das „M-Wort“, wie in „Muslime“ – lässt scheinbar aber kein derartiges Echo zu. Kein Problem. Dann wird die Diskussion eben wieder von (rechts-)konservativer Seite aufgegriffen, die dabei bekanntlich noch andere Absichten als den tatsächlichen Schutz von Frauen im Hinterkopf hat. Dann würde die Linke schnell reagiert, aber auf das „R-Wort“, für „Rassismus“.

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