MANUŠ HEISST MENSCH. Averklub Collective.

19. Juli 2021

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Rozana Kuburovič, Rom*nja-Flagge, 1971, Courtesy private Sammlung

Die neue Ausstellung des Averklub Collective in der Kunsthalle Wien in Museumsquartier thematisiert die Stellung der Rom*nja in unserer Gesellschaft und schaut über den Tellerrand der Identitätspolitik.

Von Nada El-Azar

 „Manuš heißt Mensch“ ist der Titel eines Buches des kommunistischen Politikers und tschechoslowakischen Roms Vincent Danihel, in dem er die Regierungsmaßnahmen und deren Bedeutung für die Rom*nja fein seziert. Der Begriff Manuš ist Sanskrit für „Mensch“ und ein Wort, dass in jeder Sprache der Rom*nja bekannt ist – egal ob Sinti, Balkan-Ägypter*innen oder auch Aschkali. Der Begriff im Titel des Buches, der gleichzeitig auch Titel der aktuellen Ausstellung in der Kunsthalle Wien ist, verweist auf ein universelles Denken, in dem ein Bündnis unabhängig von Sprache, Kultur und Geschichte von Roma-Völkern stattfinden kann.

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Ausstellungsansicht: Averklub Collective. Manuš heißt Mensch, Kunsthalle Wien 2021, Foto: © eSeL.at - Lorenz Seidler

Fallstudie Chanov-Siedlung

In den 70er Jahren galt die Chanov-Siedlung als progressives, modernistisches Wohnprojekt für die Arbeiter*innen für das dortige Bergbaugebiet. Sie befindet sich in einem kleinen Teil der Stadt Most im östlichen Teil von Tschechien. Ladislava Gažiová ist eine in Prag lebende Künstlerin und Initiatorin eines Projekts in der Mährischen Galerie in Brno namens „The Universe is Black“, das sich mit der fehlenden Kunstgeschichte des Rom*nja-Volkes auseinandersetzte[KS1] . Sie war ebenfalls Gründerin der Romafuturismo-Bibliothek, welche Artefakte aus der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung mit den Kämpfen der Romavölker in Europa zusammenträgt und emanzipatorische Literatur in den Fokus stellt. Die Bibliothek war ein Teil des internationalen Kunstnetwerks „Tranzit“ in Prag – wurde allerdings kaum von Rom*nja besucht, sondern vermehrt von der heimischen Kunstszene. Deshalb entschloss sich Gažiová, die Bibliothek in die Chanov-Siedlung umzusiedeln. So entstand die Zusammenarbeit zwischen dem örtlichen Averklub Collective. Das Averklub Collective entstand aus dem Zusammenschluss zwischen der Romafuturismo-Bibliothek (heute: Josef-Serinek-Bibliothek) und des Aver-Roma-Vereins. Gemeinsam gründete man in der Chanov-Siedlung das Aver-Roma-Kulturzentrum.

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Die Chanov-Siedlung, 1980er, aus dem Archiv von Helena Nistorová

Stalin als „Bruder“

Die Ausstellung ist in sechs Kapitel unterteilt, welche die Situation, nach dem Zweiten Weltkrieg, im Sozialismus, und in den 30 Jahren bis heute vergangen sind. Wohnsituation, Arbeit, Zugang zu Bildung, und die Umstände zur Kreation von Kunst werden in verschiedenen Teilen der Ausstellung beleuchtet. Der kontrovers gewählte Titel „Stalin, mein Bruder“ eines der Ausstellungsbereiche wirft so ein Licht auf die weitläufige Förderung von Roma-Kultur innerhalb der Staatsdoktrin der Sowjetunion. In den späten 20er bis 30er Jahren wurden in der Sowjetunion tausende Bücher wurden in die russische Romani-Sprache übersetzt und gedruckt, es gab eine weitläufige Förderung von Theater und Kulturzentren, von denen einige Institutionen bis heute noch ihre Bedeutung nicht verloren haben. Eine Installation zeigt etwa 200 Buchcover berühmter literarischer Werke und Schlüsselwerke des Marxismus-Leninismus, die in die Romani-Sprache übersetzt wurden.

Die Chanov-Siedlung und ihre Bewohner*innen

Einige der Ausstellungsstücke sind Kopien, die durch das Averklub Collective angefertigt würden. Auch befinden sich viele Stücke aus der Sammlung des Museums für Roma-Kultur in Brünn im Ausstellungsraum wieder. Zentral in der Ausstellung steht eine Videoarbeit des Averklub Collectives, in denen Bewohner*innen der Chanov-Siedlung über ihre Lebensrealitäten im "Ghetto" sprechen. Unter ihnen Menschen der älteren Generation, die miterlebten, als die Siedlung gebaut wurde und, die über die Vergangenheit einer Zeit der Gleichberechtigung und Teilhabe erzählen. Und Jugendliche, die in der Chanov-Siedlung zur Welt kamen und Diskriminierung und erschwerten Zugang zu Bildung und Arbeit erzählen. Die Arbeit ist ganze 53 Minuten lang und gibt ein facettenreiches Bild der Situation der Rom*nja wieder, und wie sie sich mit dem Systemwechsel verändert hat.

Die Ausstellung fordert auch die stereotype Vorstellung von Rom*nja als inhärent nomadisch lebendes Volk heraus. Im Bereich „Lenin war kein Rom“ zieht man Parallelen aus dem einjährigen Exil von Vladimir Iljitsch Lenin am Rasliw-See und die anschließende Revolution von 1917, nach der die Rom*nja in der Sowjetunion die damals undenkbare Möglichkeit eines Vorwärtskommens auf dem neuen Territorium der UdSSR bekamen. Immer wieder begegnet man dem auftauchenden Symbol des indischen „Chakra“-Speichenrads, wie es von der internationalen Flagge der Roma bekannt ist. Nicht unumstritten ist das Symbol heute innerhalb der verschiedenen Communitys der Roma, in denen man das Bild vom Nomadenvolk hinter sich lassen will. Auf die Flagge einigten sich internationale Vertreter*innen beim ersten Welt-Roma-Kongress, der sich im Jahr 1971 in der Nähe von London zugetragen hat.

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Ausstellungsansicht: Averklub Collective. Manuš heißt Mensch, Kunsthalle Wien 2021, Foto: © eSeL.at - Lorenz Seidler

Identitätspolitik allein schafft keine Gleichberechtigung

„Manuš heißt Mensch“ ist wie ein visueller Essay aufgebaut und sollte keineswegs einen Überblick über Rom*nja-Kunst geben. Viel mehr steht sie konzeptuell für folgende These: Aus der Identitätspolitik alleine könne keine Emanzipation von Rom*nja stattfinden, es brauche viel mehr einen umfangreichen Systemwechsel. Seit Jahrhunderten sind Rom*nja in Europa von Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung betroffen. Die einzelnen Panels sind farblich an die Navigation zum Beginn der Ausstellung angepasst. Die Ausstellung zeugt auch eines: Im Sozialismus, in dem die Rom*nja Arbeit und Teilhabe hatten, war die Situation vergleichsweise gut. Die Chanov-Siedlung ist eine exemplarische Fallstudie, die unterstreicht, wie sich das Zusammenleben über die Zeit verändert hat. Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Übergangsperiode in den frühen 90er Jahren verließen viele Tschechen und Slowaken die Bergbaugebiete, übrig blieben überwiegend Rom*nja in der Chanov-Siedlung, was sie zu einem der größten Ghettos im Land machte.

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Averklub Collective, Sozialer Mord (Videostill), 2021, Courtesy die Künstler*innen

***

„Manuš heißt Mensch. Averklub Collective“ ist bis 5. September 2021 in der Kunsthalle Wien Museumsquartier zu sehen.

Weitere Informationen, Termine für Workshops und Führungen sind unter www.kunsthallewien.at abrufbar!

 

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