Mein Bruder Innocent

12. September 2016

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Innocent, Pflegebruder, Kind
Foto: Bella Haltrich

Er sieht mir nicht ähnlich, hat andere Eltern und trägt einen anderen Nachnamen. Wir sind nicht verwandt. Er ist aber mein Bruder.

Fast jeden Abend will Innocent, dass ich mich zu ihm aufs Bett setze, wenn Schlafenszeit ist. Ich lese ihm dann etwas vor oder wir kuscheln und unterhalten uns, bis er einschläft. Er erzählt mir, wenn er mit einem Jungen aus der Schule streitet oder Angst vor etwas hat. Ich genieße solche Abende mit ihm, denn dann merke ich, wie viel er dieser Welt zu sagen hat und wie stolz ich auf ihn bin.

Emotionale Mutprobe

Inno, wie ihn meine Mutter und ich nennen, ist nicht mein leiblicher Bruder. Als er zu uns kam, hat meine Mutter als Krisenpflegemutter gearbeitet. Damals haben wir alle paar Wochen ein Baby oder Kleinkind bekommen, welches aus Gründen wie Vernachlässigung, Misshandlung oder ähnlichem nicht länger bei seiner leiblichen Familie bleiben konnte. Sie hat sich im Zeitraum von meistens ein paar Wochen um diese Kinder gekümmert, bis eine passende Pflegefamilie gefunden wurde.
Eins habe ich schon von klein auf sehr schnell gelernt: Man darf sich nicht zu sehr an diese Kinder binden, denn Krisenpflegeeltern ist es untersagt, diese Kinder selbst in Dauerpflege zu übernehmen – eine klare Regel in diesem Beruf, die oft zur emotionalen Mutprobe wird.

Vier Wochen alt und auf Entzug

Spulen wir 10 Jahre zurück: Ich bin neun Jahre alt, als meine Mutter mit einem vier Wochen alten Baby zur Tür reinkommt. Bisher waren die Krisenkinder immer etwas älter, zum ersten Mal also haben wir ein Neugeborenes zu Hause.
Seine Mutter hat ihn in einem Krankenhaus in Wien zur Welt gebracht und ist dann einfach verschwunden. Ich erinnere mich, dass Inno unheimlich viel geschrien hat. Damals wusste ich noch nicht, warum. Erst später hat mir meine Mutter erklärt, was mit ihm los war: Er war auf Entzug.

Seine Mutter war schwer drogenabhängig und hat auch während der Schwangerschaft nicht von den Drogen ablassen können. Als er durch die Geburt aus ihrem Kreislauf entbunden wurde, war es, als würde man einen Junkie in eine Entzugsklinik bringen. Inno war gerade erst auf diese Welt gekommen und schon wurde er mit etwas konfrontiert, dem selbst die meisten Erwachsenen kaum standhalten können – einem Drogenentzug.

Illegal und sehbehindert

Seine Umstände waren von Anfang an nicht einfach. Die Drogensucht seiner leiblichen Mutter während der Schwangerschaft hatte nicht nur einen schweren Entzug als Folge, sondern verursachte auch eine erhebliche Sehbehinderung bei Innocent. Hinzu kam noch, dass beide leiblichen Eltern keine Staatsbürger waren. Der Vater aus Nigeria, die Mutter aus der Slowakei, beide illegal in Österreich. In so einem Fall sind also die entsprechenden Landesbotschaften der letztendliche Entscheidungsträger über sein Schicksal. Bis hier jedoch eine Entscheidung getroffen wird, dauert es meistens mehr als nur ein paar Wochen. So auch in diesem Fall – die Krisenpflege zog sich letztendlich ein ganzes Jahr.
All diese Umstände sorgten nur dafür, dass Innocent unfreiwillig den Status „schwer vermittelbar“ bekam. Ein Kind ohne Staatsbürgerschaft, der Vater ein Drogendealer, beide Eltern abhängig, keine Akademiker, illegal in Österreich und er hat als Folge der Drogen eine Sehbehinderung – „schwer vermittelbar“ also. Dass Innocent jedoch kein „Fall“, sondern ein Kind wie jedes andere ist, das Liebe und eine Familie braucht, das ein Zuhause und Fürsorge braucht, rückt dabei wohl in den Hintergrund.
Man will kein Kind mit „solchen Umständen“ in Pflege nehmen, wenn man schon „die Wahl“ hat. Demnach wurde der unmittelbare Ausgang dieser Geschichte langsam immer klarer – Inno würde in ein Kinderheim in der Slowakei kommen. Der kleine, aufgeweckte Inno, der dauernd in sich hinein kichert, als wäre alles auf dieser Welt aus Zuckerwatte, sollte in einem Kinderheim irgendwo in der Slowakei aufwachsen, weit weg von uns.

Die goldene Regel der Krisenmütter

Ich hatte den kleinen Jungen mit den dicken Backen und dem breiten Grinsen schon längst in mein Herz geschlossen. Nicht nur ich, auch meine Mutter konnte sich mit diesem Gedanken einfach nicht zufriedengeben, dass er nach so langer Zeit von uns weg in ein Kinderheim sollte. Sie wollte ihn bei uns behalten. Da gab es nur ein Problem. Die goldene Regel für Krisenpflegemütter: Krisenkinder dürfen nicht selbst in Dauerpflege genommen werden! Ich bewundere meine Mutter noch heute zutiefst für ihren unerbitterlichen Einsatz und ihre Hartnäckigkeit bei diesem Dilemma.

Dass Inno nun bei uns lebt, wird wegen ihres Berufs als Krisenpflegemutter weiterhin nur als „von Österreich zur Verfügung gestellter Dienst“ gesehen. Aber trotzdem, nach Monaten des Telefonierens, Recherchierens, Argumentierens und Schlupflöcher Suchens, hat es meine Mutter geschafft – Innocent darf bleiben.
Er hat nun den Status „Dauerpflege-Kind“ und wird bis zu seinem 18. Lebensjahr unter unserer Obhut stehen. Danach, wenn er es so will, können wir ihn dann endlich adoptieren.

Offiziell ist er also nicht mein Bruder. Aber mal ehrlich, was bedeuten schon ein paar unnötige Unterlagen, bei denen er als „adoptiert“ vermerkt wird? Im Gegensatz zu ein paar Dokumenten kann man Geschwisterliebe nicht einfach zerknüllen und wegwerfen.

Es ist nicht immer einfach

Das Schwierigste scheint also überwunden. Hier und da ist es immer noch kompliziert mit den Behörden, wenn es zum Beispiel um Versicherung, Pass oder die Staatsbürgerschaft geht, aber wenigstens kann mein Bruder nun vorläufig bei uns bleiben.
Für mich und meine Familie war es nie eine große Sache, dass Inno nicht mit uns verwandt ist. Es hat sich ehrlich gesagt auch zu keinem Zeitpunkt für mich komisch angefühlt. Bei Außenstehenden war das allerdings anders. „Wieso hat er einen anderen Nachnamen?“, „Wie, er ist ein Pflegekind? Weiß er das auch?“ oder „Werdet ihr es ihm sagen?“ - die Standardfragen eben.
Ja, natürlich weiß er, dass er nicht mein leiblicher Bruder ist.
Meine Mutter hat ihm von Anfang an erklärt, dass er nicht eine, sondern zwei Mütter hat. Eine „Bauch-Mama“, die ihn zur Welt gebracht hat und eine „Herz-Mama“, die ihn liebt und für ihn sorgt. Er hat es auch immer sehr gelassen genommen, was mehr als bewundernswert ist.

Ich weiß, dass noch Zeiten kommen, die für uns sehr schwierig zu bewältigen sein werden. Es ist generell nicht immer einfach, einen „Dauer-Pflegebruder“ zu haben. Ich muss Loyalität beweisen, mit sehr komplizierten und schwierigen Zeiten rechnen und dafür sorgen, dass er niemals an seinem Platz im Leben zweifelt. Aber das ist okay.

 

Man sagt, Familie kann man sich nicht aussuchen, aber das sehe ich anders. Wer zu deinem Leben gehört und für dich Familie ist, bestimmst du und Innocent ist ein wichtiger Teil meines Lebens und definitiv Familie für mich.
Er ist mein Bruder, da kann man sagen, was man will. 

 

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