„Traurigsein hat keinen Sinn“

18. September 2016

Letztens habe ich bei meinem Nachbarn angeläutet, dem Herrn (Doktor) P., um mich ganz höflich als seine neue Nachbarin vorzustellen. Es dauerte recht lange bis er endlich aufmachte, aber das wusste ich schon vorher, immerhin ist er 94. Er schaute mich verwundert an, und nachdem ich zum zweiten Mal meinen Namen nannte, meinte er: „Na und ich - ich bin ein junger Mann, das sehen Sie ja.“ Das Eis war gebrochen, und ob ich wollte oder nicht, wurde ich hineingebeten.

                  

Wenig Schokolade, vieleTabletten

Kaum hingesetzt, erklärt Herr P. woran es liegt, dass er 94 Jahre alt geworden sei. Natürlich hat er nie geraucht, und getrunken hat er auch selten. Seine Zigarettenrationen hat er immer verkauft oder als Bestechungsmittel benutzt. Manchmal hat er sich aber auch Schokolade damit gekauft. Heutzutage nascht er noch immer sehr wenig. Überhaupt muss er sehr aufpassen bei der Ernährung. Er zeigt auf das große Tablett mit den vielen Pillenpackungen. Geduldig lasse ich mir alle erklären, und muss diese auch sorgfältig wieder so zurückstellen, wie sie vorher aufgereiht waren.

 

Ehefrauen und Wandteppiche

Mein Nachbar erzählt mir, dass er zweimal verheiratet war, und beide Frauen vor ihm verstorben seien. Etwas nachdenklich blickt er zu Boden, schaut schnell wieder auf, und meint mit ernsten Ton: „Aber das Traurigsein hat keinen Sinn - das Leben geht immer weiter.“  Ich würde ihn gerne mehr über seine ehemaligen Gattinnen fragen, traue mich aber nicht. Um schnell vom Thema abzulenken, bewundere ich seine Wandteppiche, die mich an jene meiner Großmutter erinnern. Auch sein Parkettboden ist von Teppichen bedeckt. „Junge Leute mögen keine Teppiche. Deswegen ist die Teppichindustrie zurückgegangen.“ Er lächelt.

 

Leut‘ heutzutag‘

Wenn wir schon bei den jungen Menschen sind, so meint mein Nachbar, dass er diese nicht mehr versteht. „Alle sind so aggressiv heutzutage. Ich komm da gar nicht mehr mit.“

„Das tue ich auch nicht“, erwidere ich, und fühle mich etwas hilflos für einen kurzen Augenblick. Er lässt seinen Blick durch die Wohnung schweifen, und überlegt, was er mir noch zeigen könnte. Da fällt sein Blick auf die abonnierte Tageszeitung, in welcher „… alle wichtigen Informationen stehen, die man so braucht.“ Theoretisch muss er also gar nicht mehr aus dem Haus gehen, erklärt er mir.

opa

Apropos Wichtiges

Herr Doktor P. berichtet mir, dass er früher sehr sportlich gewesen sei, aber seit langer Zeit aufgrund schlimmer Rückenprobleme nur noch mit der Physiotherapeutin Bewegung macht. Ich frage ihn, ob er einen Unfall gehabt hätte. Ganz verwundert schaut er mich an: „Das weiß  ICH doch nicht mehr.  Solche unwichtigen Sachen merkt man sich nicht." „Aber“, beginnt er stolz: „… ich habe früher auch geboxt.“ Plötzlich strahlt sein Gesicht und er erzählt begeistert von einem ganz besonderen Tag, welcher ihm genau in Erinnerung  geblieben ist. Es war, als man ihn zu einem Kampf herausgefordert hatte, und er den Gegner mit einem Side-Kick (da schaute ich aber, bei diesem Ausdruck) ausknockte. Herr P. steht tatsächlich auf und macht es mir vor.

Ich muss lachen und dann wird mir bewusst: DAS sind also die wundervollen Momente des Lebens, die einem im Gedächtnis bleiben.

 

Gute Gespräche

Als ich in meine Wohnung zurückkehre wird mir bewusst, dass ich schon länger nicht mehr solch ein unterhaltsames und abwechslungsreiches Gespräch mit jemandem hatte. Ich habe gelacht, wurde inspiriert und vor allem zum Nachdenken angeregt. Ich rechne nach: Beeindruckende 61 Jahre liegen zwischen unseren Welten. Und das Leben geht immer weiter …

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