Verkehrte Demokratie

27. April 2023

Kılıçdaroğlu oder Erdoğan – CHP oder AKP. Ein Duell zwischen zwei Politikern, welches zu keiner angespannteren Zeit im Land stattfinden könnte. Knapp drei Monate nach dem verheerenden Erbeben - genauer am Sonntag, den 14. Mai - ist es so weit. Für die Menschen in der Türkei bildet dieser Sonntag ein besonderes Datum. Es entscheidet sich, ob der aktuelle politische Kurs des Landes, unter der Führung des konservativ-rechten Präsidenten Erdoğans weitergeführt wird, oder eine neue Richtung unter Kemal Kılıçdaroğlu von der Oppositionspartei CHP, welche mitte-links einzuordnen ist, angestrebt wird. Interesse an den Wahlen und dem Ergebnis haben aber nicht nur die in der Türkei ansässigen Staatsbürger:innen.

AKP-Support unter den im Ausland lebenden Türk:innen

Ab heute bis zum 9. Mai können etwa 1,5 Millionen Wahlberechtigte türkische Staatsbüger:innen in Deutschland und knapp 100.000 in Österreich ihre Stimme für die Präsidentschaftswahlen in der Türkei abgeben. Knapp zwei Wochen vor den offiziellen Wahlen in der Türkei. Eine Debatte über die Verhältnismäßigkeit dieser Regelung kommt bei jeder Wahl erneut ins Rollen. Die aktuelle Gesetzesgrundlage sieht es vor, dass Menschen mit der Staatsbürgerschaft eines Landes, in welchem Wahlen stattfinden, abstimmen dürfen. Das alles abgesehen davon, ob sie überhaupt im betroffenen Land leben oder nicht. Wie fair ist diese Regelung für die Menschen, die im Endeffekt aktiv von den politischen Entscheidungen der gewählten Parteien oder Personen betroffen sind?

Bei den letzten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 in der Türkei, haben 65 Prozent der in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürger:innen die AKP unter der Führung von Erdoğan gewählt. Das ist sogar noch mehr als in der Türkei: dort stimmten zirka 53 Prozent für Erdoğan und seine Partei. Ähnlich sieht die Situation in Österreich aus, hier erhielt die rechts-konservative Partei sogar 72 Prozent der Stimmen. Was ist so attraktiv an der Partei, die mehrheitlich von Bürger:innen aus dem Ausland gewählt wird? Die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ ist eine als rechtspopulistisch und neoosmanisch kategorisierte Partei. Bereits ein Jahr nach ihrer Gründung gewann die AKP die Parlamentswahl 2002. Seither erhielt die Partei bei allen folgenden Parlaments- und Kommunalwahlen die meisten Stimmen. Unter Erdoğan, welcher seit 2014 amtierender Präsident in der Türkei ist, wurde die Partei immer konservativer und strebt einen Regierungsstil an, welcher als autoritär wahrgenommen wird. Mangelnde Pressefreiheit, Zwang zum Religionsunterricht und die Einschränkung der in der Türkei lebenden Kurd:innen sind nur wenige Missstände, die auf das Konto des Regimes gehen. Unter Kritik steht die Regierung auch auf Grund mangelnder Maßnahmen im Bereich des Erbebens im Februar, wie beispielsweise dem Ignorieren von Bauvorschriften, welche zur Vorkehrung von Erdbebenkatastrophen eingeführt wurden. Große Zustimmung seitens der türkischen Community im Ausland, wie in Deutschland oder Österreich, bekommt die Partei dennoch. Die hohen Zahlen sprechen klare Worte. Durch den aktiven Wahlkampf, welcher von der AKP auch im Ausland betrieben wird, schafft es Erdoğan und seine Partei Wähler:innen abzuholen. Besonders mit seiner nationalistischen und populistischen Art werden gewisse Sehnsüchte und ein Nationalstolz in der Diaspora geweckt und verleiten diese zu einer Wahl der rechten Partei. Auch der Gedanke an den Verlust der eigenen Werte und dem Glauben, auf Grund eines Lebens im westlichen Ausland, kann zum hohen Ergebnis beigetragen haben.

Konsequenzen der Wahlergebnisse

Die Leittragenden der Wahlergebnisse sind im Endeffekt die Menschen, die im betroffenen Land leben oder den größten Teil ihrer Zeit in diesem Verbringen. Besonders Oppositionspolitiker:innen, Journalist:innen und Kurd:innen sind diejenigen, die tagtäglich mit den Konsequenzen leben müssen. Die Demokratie in einem Land auskosten, während man für eine antidemokratische Partei in einem anderen Land stimmt, ist meiner Meinung nach unangemessen. Hier wäre eine Reform des Wahlgesetztes angebracht, dass wirklich nur die Menschen, die in einem Land ansässig sind, über politische Abstimmungen entscheiden dürfen. In Österreich lässt sich ein umgekehrtes Problem beobachten: Knapp 1,4 Millionen Einwohner:innen Österreichs sind auf Grund einer fehlenden österreichischen Staatsbürgerschaft nicht wahlberechtigt. Viele von ihnen leben und arbeiten schon seit Jahren in Österreich, bekommen aber dennoch nicht die Möglichkeit politisch mitzubestimmen. In Niederösterreich, wo vor mehreren Wochen Landtagswahlen stattgefunden hatten, waren zwölf Prozent der ansässigen Personen betroffen. Hier regiert nun ein konservativ-rechts orientierter Landtag – ob das Ergebnis mit den Stimmen der fehlenden zwölf Prozent anders ausgesehen hätte, werden wir nicht erfahren. 1,4 Millionen Menschen wird eine politische Stimme genommen. Um ihren Problemen Gehör zu verschaffen, da sie in Österreich nicht angehört werden, könnte ein weiterer Grund für die hohe Wahlbeteiligung der im Ausland lebenden türkischen Staatsbürger:innen sein. 

Eine Sache ist klar: Die Zukunft der Demokratie ist davon abhängig, wie viel Teilhabe Wähler:innen an der Politik in dem Land haben, in dem sie auch tatsächlich leben. Ohne baldige Reformen wird Demokratie zum Privileg, statt zur Selbstverständlichkeit.

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