Cafe Melange: Biber-Interview "Über das Schreiben in zwei Sprachen"

19. September 2008

Im Zuge des Cafe Melange Schwerpunktes „Sprache“ führte ich letzten Di, 16.9 für Biber, als Medienpartner, mit den drei Schriftstellern Seher Çakir, Şerafettin Yildiz und Vladimir Vertlib ein Interview. Die drei Autoren verbindet, dass sie keine keine „Urösterreicher“ sind, auch nicht in diesem Land das Licht der Welt erblickten, aber schon sehr lange hier leben und auf deutsch, einer Sprache, die sie nicht von Geburt an lernten, schreiben.
Anschließend gab es in der Hauptbücherei am Urban-Loritz-Platz eine Lesung und sehr interessante Podiumsdiskussion.

Seher Cakir: 1971 in Istanbul geboren, lebt seit 1981 in Wien, Staatsstipendiatin, Oktober 2008 ercheint der Kurzgeschichtenband  “Zitronenkuchen für die 56. Frau” Hans  Schiler Verlag, Berlin. http://sehercakir.spaces.live.com/

Şerafettin Yıldız: 1953 in der Türkei geboren, lebt seit 1978 in Wien, Studium der Volkswirtschaftslehre in Izmir und Wien, seit 1986 Schulberater für Ausländer im Stadtschulrat. http://www.serafettinyildiz.at/

Vladimir Vertlib: 1966 in Leningrad geboren, nach einer langen Odysee in Israel, Italien, Holland und USA seit 1981 in Österreich, lebt in Salzburg, Studium der Volkswirtschaftslehre. http://de.wikipedia.org/wiki/Vladimir_Vertlib

 

Suzan Aytekin (das Biber) im Interview mit Seher Çakir, Vladimir Vertlib und Şerafettin Yildiz

  ©der blaue kompressor


  • Wie sieht der Arbeitsalltag eines Schriftstellers aus?

CAKIR: Aufstehen, frühstücken, lesen, schreiben, E-mails beantworten, Menschen treffen, wieder schreiben. Das ist aber seit kurzem so, da ich stolze Staatstipendiatin bin. Davor sah es so aus: tagsüber Arbeiten gehen, in der Nacht schreiben. Ich bin froh, dass ich mich jetzt nur dem Schreiben widmen kann.
YILDIZ: Wie ein Poet einmal so schön sagte: „Ich höre das Gras wachsen.“  Das sind die Augenblicke der Intensität, nach denen ich in meinem ganz gewöhnlichen Alltag suche. Augenblicke, die zu außergewöhnlichen Bilder und Metaphern führen, denen außergewöhnlichen Geschichten entspringen.
VERTLIB: Ich bin kein Morgenmensch und schreibe fast immer nachmittags, abends oder in der Nacht. Die meisten meiner Texte tippe ich direkt in den Computer ein. Nur wenn ich unterwegs bin oder ins Kaffeehaus gehe, schreibe ich mit der Hand. Die besten Einfälle habe ich, wenn ich mich bewege. In den Nächten (auch im Winter) gehe ich oft stundenlang spazieren und notiere mir dabei Gedanken oder einzelne Sätze in ein Notizbuch, das ich immer mit mir herumtrage. Ich arbeite mich von Parkbank zu Parkbank oder lege unter einer Straßenlaterne eine längere Schreibpause ein. Außerdem mag ich Kaffeehäuser. Ich mag sie, weil man dort unter Menschen und zugleich allein sein kann. Ein Tisch im Kaffeehaus ist in gewissem Sinne die Verlängerung der Privatsphäre des eigenen Wohnzimmers. Ich fühle mich nicht einsam und habe doch meistens meine Ruhe.

  • Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?

CAKIR: Schreiben war immer schon mein größter Traum und ich habe schon in der Volksschule Geschichten geschrieben und wollte, dass meine LehrerInnen daraus Bücher machen.
YILDIZ: Als junger Mensch entdeckte ich die Magie des Schreibens. Woher das kam, weiß ich bis heute nicht. Ich wollte mir aus der Seele schreiben, damit ich mein Sein schütze. Das Talent dafür ist rationell nicht erklärbar. Dann schrieb ich für meine Freunde Liebesbriefe auf Bestellung. So begann meine schriftstellerische Laufbahn.
VERTLIB: Als ich vierzehn war, begann ich Tagebuch zu führen. Meine Eltern versuchten gerade - nach einer längeren Odyssee durch verschiedene Länder - in die USA einzuwandern. Doch auch dieser Immigrationsversuch scheiterte, endete mit Schubhaft und Abschiebung. Damals beschloss ich, alles festzuhalten, was ich nie mehr vergessen wollte. Doch was ich vergessen musste, vergaß ich schließlich trotzdem, und was ich aufschrieb, war bald keine Chronik mehr. Die Wirklichkeit erschien mir als karge und trockene Oberfläche dessen, was ich als eigentliche Wahrheit hinter der Wirklichkeit zu erkennen glaubte. Es war nicht allzu schwer, zu dieser Wahrheit vorzustoßen. Ich brauchte sie nur zu erfinden. Zur Realität der Welt in ihrer Gesamtheit gehörte immer auch der Konjunktiv. Die Realität der Welt war vielschichtiger als die Realität der Fakten. Die meisten meiner Geschichten sind auf diese Weise entstanden – aus Erfahrung und Anschauung und aus deren kreativer Ergänzung. Nur so hatte ich das Gefühl, die Welt als stimmiges Ganzes zu erleben. Manchmal frage ich mich, ob Kreativität nicht bedeutet, eigene Vorstellungen so lange zu hinterfragen und zu variieren, bis sie den scheinbar fremden Gegebenheiten oder irritierenden Eindrücken eine Dimension des Vertrauten und somit Greifbaren geben. Oder wird nicht umgekehrt das scheinbar Vertraute zum irritierend Fremden und gerade dadurch umso greifbarer und verständlicher? Kaum hatte ich mich auf diese (Schreib)welt mit ihren vielfältigen Fragen und Möglichkeiten eingelassen, konnte ich nie mehr aufhören. Allerdings musste ich noch einige Umwege nehmen (ein Studium der Volkswirtschaftslehre, eine Arbeit als Bankbeamter und einige andere Jobs), bevor ich mit Ende zwanzig den Mut aufbrachte, mir ein Leben als Schriftsteller zuzugestehen. Es gab viele Menschen, die mich auf meinem Weg zu einem Leben als Schriftsteller ermuntert und unterstützt haben. Dem Schriftsteller und Exilforscher Konstatin Kaiser gilt dabei mein besonderer Dank.

  • Was fasziniert Sie am Schreiben?

CAKIR: Der Aufbau einer Welt, der Charaktere, der Situationen.
YILDIZ: Was täte ich, wenn ich nicht geschrieben hätte? Diese Frage stelle ich mir noch immer. Picasso sagte einmal: „Kunst wischt den Staub des Alltags von der Seele.“ Durchs Schreiben entfliehe ich der gegebenen Wirklichkeit, die oft monoton, trist, langweilig ist. So gelange ich zu meiner eigenen Wirklichkeit, von der ich träume.
VERTLIB: Der eigenen Phantasie, den Tagträumen, Ängsten, Sehnsüchten und Emotionen eine Form zu geben, die nicht nur für mich allein, sondern auch für andere - die Leserinnen und Leser meiner Texte - von Bedeutung ist. Parallelwelten zu erschaffen und die Welt, in der ich lebe, durch die Brechung, Distanzierung und Wiederannäherung - was für mich erst mit Hilfe der Sprache und des Erzählens möglich wird - besser verstehen und ertragen zu können. Schreiben ist auch ein Mittel, um sich in der Welt zurecht zu finden und ihr mit Ironie zu begegnen.

  • Träumen Sie deutsch?

CAKIR: ja
YILDIZ: Ich träume in beiden Sprachen, in meinem Fall in Türkisch und Deutsch, weil ich in beiden Sprachen zuhause bin.
VERTLIB: Seltsamerweise träume ich oft chinesisch, obwohl ich in Wirklichkeit kein Wort Chinesisch kann. In meinen Träumen allerdings beherrsche ich diese Sprache fließend. Normalerwese träume ich aber in reinen Bildern - die Sprache bzw. das Gesprochene bleiben vage im Hintergrund. Ich bin mir aber nicht immer sicher, ob es sich bei meiner Traumsprache um Chinesisch oder Vietnamesisch handelt. (Das hat vielleicht damit zu tun, dass ich in meiner Schulzeit in den USA viele MitschülerInnen aus Vietnam hatte. Vielleicht hat das aber auch andere Gründe…) Wenn allerdings jene Personen, die ich aus dem realen Leben kenne, in meinen Träumen vorkommen, sprechen sie auch ihre jeweiligen Sprachen. Manchmal erscheint mir mein verstorbener Vater. Mit ihm spreche ich selbstverständlich russisch. Deutsch oder chinesisch zu reden, würde ihm nicht einmal post mortem im Traum einfallen… Natürlich träume ich auch deutsch.

  • In welcher Sprache lässt es sich für Sie leichter schreiben?

CAKIR: Die deutsche Sprache ist meine Arbeitssprache.
YILDIZ: Ich war 25 Jahre alt, als ich die deutsche Sprache kennen lernte. Da meine emotionale Welt noch immer ihre Nahrung in meiner Muttersprache findet, ist für mich leichter in ihr zu schreiben. Auch in Deutsch ist die Zeit dafür doch gekommen. Wie sagte einmal Ingeborg Bachmann: „Ohne neue Sprache, keine neue Welt.“
VERTLIB: Auf Deutsch. Meine Muttersprache ist zwar Russisch, da ich aber in meinem Alltag die meiste Zeit deutsch spreche, ist dies inzwischen zu jener Sprache geworden, mit der ich am besten kreativ umgehen kann. Mein Russisch hingegen ist ein wenig antiquiert. Es ist viel mehr die Sprache meiner Eltern und der Bücher, die ich gelesen habe, als das moderne Russisch unserer Zeit. Insofern habe ich oft das Gefühl, dass meinem Russisch etwas Statisches und Mechanisches anhaftet. Sollte ich aber jemals wieder einige Zeit in Russland gelebt haben, könnte mir meine Muttersprache vielleicht wieder als kreatives Instrument zur Verfügung stehen.

  • Wer sind Ihre Vorbilder?

CAKIR: Ich habe keine Vorbilder. Allerdings gibt es viele Autoren, die ich immer wieder gerne lese.
YILDIZ: Da ich beim Schreiben doch meinen eigenen Weg gegangen bin, bin ich mein eigenes Vorbild selbst. Ein bisschen narzistisch bin ich schon.
VERTLIB: Vorbilder habe ich im engeren Sinne gar nicht, weil ich schon sehr früh verstanden hatte, wie gefährlich es ist, sich an bestimmten großen Namen oder Schreibstilen orientieren zu wollen. Vielmehr waren es jene Autorinnen und Autoren (bzw. deren Bücher), die ich gerade verehrte oder mit denen ich mich zu einem bestimmten Zeitpunkt intensiv beschäftigte, die mir eher unbewusst als gewollt als Vorbilder dienten. Ich denke, dass mich in meiner Jugend der Russe Michail Bulgakow und der Amerikaner O. Henry am meisten beeinflusst haben. Es kann aber auch sein, dass ich mich irre und dass mich Hermann Kesten, Anna Mitgutsch oder Alexander Kuprin noch mehr geprägt haben. In meiner Literatur habe ich immer versucht, Geschichten zu erzählen und dabei – bei aller Ernsthaftigkeit – nie das Skurrile und Humorvolle unserer Existenz aus den Augen zu verlieren. Natürlich habe ich zahlreiche nicht literarische Vorbilder, Menschen, die ich bewundere und deren Leben und Handeln ich im wahrsten Sinne des Wortes als vorbildlich ansehe..

  • Was ist Ihr Lieblingsbuch?

CAKIR: Da es so viele Bücher gibt, die ich liebe, kann ich nicht ein einziges nennen. Beispiele für die tollen Bücher sind: „Zähne zeigen“ ; „Melancholie der Ankunft“, „Middlesex“, „Engelszungen“…das sind einige meiner Lieblingsbücher…aber das ist eben noch lange nicht alles.
YILDIZ: „Camila“ von Cengiz Aytmatov. Dies ist für mich nach wie vor die schönste Liebesgeschichte der Welt.
VERTLIB: Ich meiner Kindheit war dies lange Zeit Jules Vernes Abenteuerroman Die Kinder des Kapitäns Grant, später wurde es Puschkins Novelle Die Hauptmannstochter, danach Prosper Mérimées romantischer Historienschinken Eine Chronik der Zeit Karls des Neunten, gefogt von der Sowjetsatire von Ilf und Petrow Die zwölf Stühle und Jack Londons autobiographischem Roman Martin Eden (all diese Bücher las ich auf Russisch und die meisten von ihnen mehr als nur einmal), danach kamen Michail Bulgakows Der Meister und Margarita, Isaak Babels Geschichten aus Odessa, Joseph Roths Radetzkymarsch, Erich Hackls Auroras Anlass, die Erzählungen der polnischen Schriftstellerin Hanna Krall, Ruth Klügers Weiter leben… Und als ich selbst Bücher zu publizieren und Bücher anderer AutorInnen in Zeitungen und Zeitschriften zu rezensieren begann, war ich ohnehin so intensiv mit Literatur beschäftigt, dass sich die Frage nach einem „Lieblingsbuch“ gar nicht mehr stellte. Zwar musste ich sehr viele mittelmäßige und sogar einige katastrophal schlechte Bücher lesen, aber auch so viele gute und faszinierende, dass es mir heute schier unmöglich erscheint, ein „Lieblingsbuch“ zu benennen.

  • Wer ist Ihr Lieblingsschriftsteller?

CAKIR: Oh, auch da gibt es einige: Jeffrey Eugenides, ZAide Smith, Jhumpa Lahiri, Dimitre Dinev, Nagib Machfous, Murathan Mungan, Stefan Zweig, Banana Yoshimoto….
YILDIZ: Alle Schriftsteller und Poeten, von denen ich etwas gelesen habe, haben zu meinem Schriftstellerdasein etwas beigetragen. Ich habe Ehrfurcht vor allen, auch vor denen, von denen ich bis jetzt noch nichts las.
VERTLIB: Es gibt mehrere SchriftstellerInnen, die ich schätze, und deshalb nicht in eine hierarchische Ordnung von besonders geliebten oder etwas weniger geliebten pressen kann. Nur um ein paar Namen zu nennen: Isaak Babel, Michail Bulgakow, Anton Tschechow, Alexander Puschkin, Leo Tolstoj, Alexander Kuprin, Viktor Pelewin, Jack London, Walter Scott, O. Henry, Amoz Oz, Joseph Roth, Theodor Kramer, Ruth Klüger, Anna Mitgutsch, Erich Hackl, Robert Schindel, Thomas Glavinic, Konstantin Kaiser, etc., etc., etc… Außerdem ändert sich die Wahrnehmung natürlich von Jahr zu Jahr: Glücklicherweise entdecke ich immer wieder neue AutorInnen, von denen ich begeistert bin.

  • Was verstehen Sie unter „MigrantInnen“?

CAKIR: Das sind für mich Menschen, die entschieden haben, ihren Geburtsort zu verlassen um ihr Glück woanders zu suchen. Die Kinder und Enkelkinder dieser Menschen, die immer auch als MigrantInnen bezeichnet werden, sehe ich nicht als MigrantInnen.
YILDIZ: Jenseits der üblichen Definitionen sind MigrantInnen für mich, fern ab von ihrer Rasse und Nationalität, Menschen, die aus welchen Gründen wie immer irgendwo anders sesshaft geworden sind, wo sie sich geistig und seelisch noch immer nicht beheimatet fühlen. Sie sind da, sie sind doch nicht da. So lange das Fremde in uns wohnt, sind wir alle irgendwo MigrantInnen. Wir sind überall zuhause, und zugleich nirgendwo.
VERTLIB: Der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan, der 1993 aus seiner Heimatstadt Sarajevo flüchten musste, behauptete einmal, wir alle seien MigrantInnen. Wer den Lebensweg von der Geburt zum Tode nicht als permanente Emigration sehe, habe weder die Abgründigkeiten noch die Chancen menschlicher Existenz verstanden. Wer in seinem Leben einmal oder mehrere Male ein Land verlassen und in ein anderes – oft mit einer anderen Kultur und einer anderen Sprache - ziehen musste, ist nur gezwungen, den Prozess der ständigen Entfremdung und Einverleibung, der das Leben ausmacht, umfassender und bewusster, schneller und radikaler durchzuführen. Ohne Zweifel gibt es Menschen, die dies als Chance erkennen und diese auch nützen und andere, die daran scheitern, oder durch äußere Umstände, mit denen sie konfrontiert sind, zum Scheitern gezwungen werden.

  • Sehen Sie sich als „Migranten“?

CAKIR: Ich sehe mich nicht als Migrantin. Ich bin Kind von Migranten, sehe mich aber nicht als solche. Wenn Sie mich fragen würden, wie ich mich bezeichnen würde, wenn ich denn wirklich eine Bezeichnung abliefern muss, würde ich sagen, ich bin Kosmopolitin. Denn ich kann auch nicht mit ruhigem Gewissen sagen, dass ich Türkin oder Österreicherin bin, denn auch das stimmt nicht. Ich fühle es nicht. Ich fühle einfach eine Mehrfachzugehörigkeit in mir. Also, eine Kosmopolitin.
YILDIZ: „Migrant“ als Wort ist heutzutage negativ besetzt. Überhaupt im Geiste der eurozentristischen Denkstruktur. Ich bin ein Ewigsuchender. Ein Kosmopolit und Erdenbürger. Ich denke mir rückblickend, es war ein schöner Zufall, dass ich hier hängen geblieben bin.
VERTLIB:In dem oben beschriebenen Sinne: Natürlich!

  • In Ihren Heimatländern herrscht nicht solch eine Presse- und Meinungsfreiheit wie in Österreich. Können Sie über Ihre Erfahrungen berichten?

CAKIR: Kann ich nicht, da ich meine Publikationserfahrungen nur in deutschsprachigem Raum gemacht habe.
YILDIZ: In einem Gedicht sagte ich einmal: „Das Denken wird an den Galgen gebracht, weil es keine Heimat besitzt…“ Das sagt sehr viel über das Leid der PoetInnen, über die Geschichte der Menschheit.
VERTLIB: Ich selbst bin schon als Kind mit meinem Eltern aus der Sowjetunion in den Westen emigriert. Somit bin ich in der so genannten (mehr oder weniger) „freien Welt“ aufgewachsen und war weder mit den Problemen von Zensur, Schreib- oder Publikationsverboten konfrontiert. Ich wurde weder für einen unvorsichtig formulierten Satz verhaftet, noch wurde ich bedroht oder des Landes verwiesen. Ich weiß aber von meinen Eltern, meinen Großmüttern und von anderen Verwandten und Freunden, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben. Außerdem mussten meine Eltern die Sowjetunion verlassen, weil sie als Juden diskriminiert wurden und weil die Begeisterung meines Vaters für Israel als Landesverrat und somit als Verbrechen galt. Meine gesamte Kindheit und Jugend, die mehr als zehn Jahre dauernde Emigration, meine Unbehaustheit und unklare Identität sind demzufolge als eine direkte Folge der Diktatur und der Repressionen in meiner ursprünglichen Heimat anzusehen. Die Erinnerungen meiner Eltern, ihre Geschichten von Krieg, Diskriminierung und Verfolgung, haben mich genauso geprägt wie all die (ganz anderen) Erfahrungen, die ich später selbst gemacht habe.

  • Wie sehen Sie die Position von MigrantInnen in der Literaturlandschaft?

CAKIR: Wenn man bedenkt, dass seit mehr als 40 Jahren MigrantInnen in Österreich existieren, finde ich dass es viel zu wenige LiteratInnen gibt, die ihre Wurzeln nicht in Österreich haben. Die Literaturlandschaft spiegelt nicht die reale Gesellschaft wider. Es sollten viel mehr Menschen mit Migrationshintergrund in der Literatur- und der Medienlandschaft vertreten sein.
YILDIZ: Sie werden noch immer als Begleiterscheinung in der Literaturlandschaft gesehen. Dies ist die typische Haltung der eurozentristischen Denkweise, die auf die Ästhetik einen absoluten Anspruch erhebt. Ich sage immer, ich bin nicht der Literat der Betroffenheit, sondern, ich bin auf der Suche nach dem Universellen.
VERTLIB: Vor ein paar Jahrzehnten waren MigrantInnen in der deutschsprachigen Literatur noch inexistent. Später wurde ihnen eine Nische zugewiesen. Ihre Literatur wurde, ähnlich der so genannten „Frauenliteratur“ in den Siebzigerjahren, in erster Linie als gesellschaftspolitisch wichtig und relevant angesehen. Vom Literaturbetrieb wurden schreibende MigrantInnen jedoch nicht ernst genommen. Ihren Texten wurde keine hohe literarische Qualität zugeordnet. Das Nischenprogramm lief parallel zu dem, was als eigentliche „große Literatur“ (in der MigrantInnen als AutorInnen kaum vorkamen) betrachtet wurde. Dies hat sich in den letzten Jahren geändert. AutorInnen wie Emine Sevgi Ozdamar, Yoko Tawada, Feridun Zaimoglu, Ilja Trojanow, Radek Knapp oder Catalin Florescu sind erfolgreiche deutschsprachige Literaten. Literatur von MigrantInnen ist sogar zu einer Art Modeerscheinung geworden, was jedoch die Gefahr in sich birgt, dass sie trotzdem noch nicht als selbstverständlicher Bestandteil der deutschsprachigen Literaturen angesehen wird, dass ihr also immer noch der Hauch des Exotischen und Außenstehenden anhaftet, während die Wahl der Themen und der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten in Wirklichkeit die gesellschaftliche, atmosphärische und emotionelle Wirklichkeit des deutschsprachigen Raumes widerspiegelt und somit mit der literarischen Entwicklung in ihrer Gesamtheit untrennbar verbunden ist. Künstler und Literaten mit Migrationshintergrund sind heute noch nicht ganz „in“, aber auch nicht mehr völlig „out“. Vielmehr stehen sie, symbolisch ausgedrückt, an einer Türschwelle. Doch eine Türschwelle ist kein bequemer Ort für einen dauerhaften Aufenthalt, auch wenn einige von dieser exponierten Lage profitieren, in der man, hat man es erst einmal geschafft, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, länger sichtbar bleibt als an anderen Orten. Der Nachteil ist, dass die anderen einem permanent die etwas vordergründige Aufmerksamkeit des gerade ankommenden Gastes entgegen bringen, während man selbst der Illusion unterliegt, schon längst im Wohnzimmer Platz genommen zu haben.

  • Übersetzen Sie Ihre Texte selbst?

CAKIR: Meine Gedichte übersetze ich selber in die türkische Sprache, da ja meine Arbeitssprache deutsch ist.
YILDIZ: Ja. Es war ein beschwerlicher Prozess. Mittlerweile schreibe und denke ich aber zweisprachig. Ich zitiere wieder Ingeborg Bachmann. Sie sagte einmal: „Ohne neue Sprache, keine neue Heimat.“
VERTLIB: Nein, denn erstens fehlt mir die nötige kritische Distanz zu meinen Texten, um eine adäquate, qualitativ anspruchsvolle Übersetzung anfertigten zu können, und zweitens reicht meine sprachliche Kompetenz weder im Russischen noch im Englischen aus, um in einer Weise kreativ mit diesen Sprachen umgehen zu können, dass Literatur entstünde.

  • In welchem Medium können Sie sich vorstellen sich noch auszudrücken?

CAKIR: Schreiben ist schon das richtige Medium für mich. Aber auch die Malerei wäre eine Ausdrucksmöglichkeit für mich.
YILDIZ: Ich schreibe für Zeitungen hin und her. Wer weißt, vielleicht schreibe ich eines Tages in einer Kolumne.
VERTLIB: Bis jetzt habe ich fast ausschließlich Prosatexte, Essays, Rezensionen und Reportagen geschrieben. Vor einigen Jahren habe ich allerdings auch ein Libretto zu einem Oratorium verfasst. Theaterstücke, Drehbücher und Gedichte zu schreiben, reizt mich ebenfalls sehr. Meine Lyrik, fürchte ich, kann ich aber nur meinen besten Freunden und meiner Schreibtischschublade zumuten.

  • Welche Bedeutung hat Sprache für Sie?

CAKIR: Sprache hat für mich eine große Bedeutung. Ohne Sprache keine Ausdrucksmöglichkeit.
YILDIZ: Sprache ist für mich das elementarste Werkzeug des Lebens. Sie verbirgt eine geheimnisvolle Welt, die mit all ihren Hügeln, Tälern, Wüsten und Oasen auf unsere Entdeckung wartet. Sprache ist der Sinn meines Daseins.
VERTLIB: Ich habe in meiner Jugend Volkswirtschaftslehre studiert. Nach drei Jahren als Bank- und Versicherungsbeamter gab ich einen gut bezahlten, sicheren Job auf, um frei schaffender Schriftsteller zu werden. Dass meine Beziehung zur deutschen Sprache ambivalent ist, genauso übrigens wie jene zu meiner Muttersprache Russisch, sehe ich eher als Chance und als Ansporn denn als Hindernis an.

Kommentare

 

...ist das elementarste Werkzeug des Lebens" - Das würde ich so unterschreiben und mit einem Zitat von Wittgenstein erweitern: "Das Ende meiner Sprache ist das Ende meiner Welt"
Mich wundert ein bisschen, dass Cakir und Yildiz keine Vorbilder nennen. EIn Vorbild zu haben, bedeutet ja nicht zwangsläufig, dass man dieses auch kopieren wolle...

 

interessant, dass du das zitat von wittgenstein erwähnst. "die grenze deiner sprache ist die grenze deiner welt".
dieses zitat schrieb uns unser deutschlehrer während der matura an die tafel und sagte. schreibt jetzt 12 seiten, was dieser satz für euch bedeutet. war eine herausforderung, die ich nie wieder vergessen werde.

 

der wäre ein sehr guter professor für mich gewesen. ich schieb bei schularbeiten immer viel mehr als ich seiten zur verfügung hatte, und mit dem vorgesetzten zeitlimit hatte ich auch so meine probleme.

 

über kopie und identität ist es auch am dienstag bei der veranstaltung gegangen.
Yiliz meinte jedenfalls desöfteren "ich bleibe mir treu".
aber ich muss sagen, dass ich auch nie ein vorbild hatte und habe, sondern eher bestimmte menschen faszinierend finde und deren handlungen, taten, ziele, erfolge spannend, mutig, lehrreich.. finde.

wer sind deine vorbilder linda?

 

...würde ich so schreiben wollen wie Ö.Z. Livaneli und Aziz Nesin.
packend, realistisch, ironisch, kritisch. Ich würde genau wie diese beiden die Menschen zum Nachdenken anregen, sie gleichzeitig zum Lachen und zum Weinen bringen wollen.

Ich glaube wenn man es tatsächlich mal geschafft hat, profesionell zu Schreiben und die Werke in weiten Teilen des Landes oder sogar international bekannt geworden sind, verrät man ungern seine Vorbilder, damit es bei der nächsten Kritik nicht heißt, man wäre nur ein Abklatsch dieser oder wolle sie nachahmen.
möglich, dass ich mich da irre.

 

du bist nicht nur politikinteressiert (was mir anscheinend erst später auffiel), sondern auch literaturinteressiert (was ich von anfang an mitbekam!) eine traumfrau! ;)
was hältst du davon, dass ich mit dir eine idee teile, die ich schon seit jahren habe, wir aber auf biber anwenden könnten. du könntest mitmachen & würdest nach meinem konzept gut dazupassen.
interessiert? =)

 

und worum gehts da genau?

 

ich mail dir ein mail.

 

ok

!

 

12 seiten?
das bedeutet deine Grenzen um 12 Seiten ausdehnen!

 

ist garnicht sot schwer gefallen, wie es vielleicht klingt. man muss sich nur bewusst werden, was kommunikation beinflussen kann bzw. sogar anrichten.
überzeugungskraft, manipulation durch kommunikation, trost, trauer, glück. alles lässt sich durch worte ausdrücken. und wenn man mit der sprache nicht umgehen kann, hat man auch schwierigkeiten so einiges aus sich rauszulassen, was einen belastet.
nicht nur eine andere sprache kann grenzen schaffen, sogar der wortschatz spaltet gesellschaftsschichten.
wenn du mit jemanden redest, ein wort als einen festen bestandteil deines wortschatzes ansieht, dich das gegenüber ansieht und auf einmal fragt, was dieses fremdwort nun heißt, obwohl du es nicht als fremdwort siehst. dann werden dir so einige grenzen klar.

 

eine sprache richtig zu beherrschen, also frei zu sprechen, über einen umfangreichen Wortschatz zu verfügen und seine Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen- ist gar nicht so selbstverständlich wie man meint. Das beste Beispiel sind eh wir Migranten 2., 3. Generation. Bei einem Bewerbungsschreiben geben wir an; Sprachen Türkisch Arabisch, Bosnisch/ Serbisch/Kroatisch etc.

aber KÖNNEN wir die Sprache auch wirklich?
oder ist es gerade so, dass wir uns zu einigen Themen äußern können und wir sobald es um komplexere Themen geht, anfangen zu stottern?

Ich habe dieses Manko bei mir persönlich schon lange entdeckt und tue mein Bestes, die Lücken zu füllen. Klappt soweit ganz gut. Habe mich für die eine Biber-Ausgabe z.B. mit Nilgül Raeke eine Stunde über Wirtschaft auf Türkisch unterhalten können. Für mich ein großer Fortschritt.

wie ist das bei euch?

 

geht mir auch so, dass ich mir bewusst wurde, wo ich bei meiner muttersprache stehen geblieben bin. natürlich ist man fähig smalltalk zu führen. aber irgendwie bin ich auf dem stand eines volksschülers in der eigenen sprache, da ich damals weg musste.
was ich tun konnte, eben selbst aus heimischen zeitungen die sprache etwas aufzupeppeln. aber es ist wie in einer fremdsprache. man kann es lesen, verstehen, aber selbst verfassen oder sich perfekt auszudrücken, wird dann etwas schwieriger zu bewältigen sein.
alle wörter inkl. fremdwörter sind dann erst später durch die schulbildung gekommen. die fehlen natürlich dann in der mutteersprache. deswegen kommts auch oft zum mischen.
man fängt muttersprachlich an und beendet den satz auf deutsch.

 

...und im heimatland wist dann als "wichtigtuer" abgestempelt, weil du den satz nur aus einem einzigen grund auf deutsch beebdest, nämlich um zu zeigen, dass du woanders lebst. so ging es mir jedenfalls oft. so und nicht anders.
dass ich auf deutsch-serbisch zuhause spreche, denke und sogar träume versuche ich nicht einmal noch zu erklären, das glaubt mir ohnehin keiner.

wenn ich weiss, dass mich mein gegenüber auf deutsch nicht versteht und ich nur mit serbisch auskommen muss, passiert es nicht selten, dass mir die banalsten wörter, wie zum beispiel, "gebirge" auf sebisch nicht einfallen. dann stehe ich für gewöhnlich ziemlich blöd da und bringe nur ein paar "äähhm, ääähm,..." raus. da mir das blöde, üblich keine ruhe lässt, fällt es mir auch oft nach stundenlangen grübeln wieder ein. "planine! planine, jebo te!"

 

=)

ich glaub so gehts den meisten von uns, deswegen ist Ivanas Sprach-Tuning mithilfe heimischer Zeitungen kein schlechter Lösungsansatz.
Ich persönlich bevorzuge die Literatur- macht Spaß, bildet und hilft, den Wortschatz zu erweitern.

 

"Muss man dazu fähig sein über Ornithologie und Hängebrücken und Wahlen zu diskutieren oder genügt es Essen bestellen und eine Unterkunft finden zu können? Was ist, wenn jemand über Ornithologie und Hängebrücken und Wahlen diskutieren kann, aber nicht weiß was „Brot und Butter“ in dieser Sprache heißt?"

Muhamed Mesic, ist 84 in Bosnien geboren, und beherrscht 57 Sprachen (angefangen von Aramäisch zu Jüdisch, von Baskisch zu Kinyarwanda, von Quechua zu Georgisch)
http://muhamedmesic.com/

Dieser Typ beantwortet die Frage, ab wann man eine Sprache spricht, auf eine sehr interessante art & weise.
Er sagt: "Ich habe versucht meine eigenen Ebenen der Sprachbeherrschung zu entwickeln und auf dem niedrigsten Level – dem der täglichen Kommunikation – kann ich in 56 Sprachen kommunizieren. Auf dem nächst höheren Niveau füge ich fehlerfreies Schreiben und eine breitere Bandbreite an Themen (wie etwa Wahlen, aber nicht Ornithologie) hinzu und die Anzahl reduziert sich auf 30. Noch weiter oben auf der Skala – bei täglicher und wissenschaftlicher Kommunikation bezüglich all meiner Arbeitsbereiche - spreche ich 13 Sprachen flüssig und kann 8 Sprachen genauso gut wie Bosnisch, meine Muttersprache. Also, abhängig vom verlangten Niveau kann man sagen, dass ich 8, 13, 30 oder 56 Sprachen spreche. Und ich kenne die Höflichkeiten und Small Talks in 12 weiteren."

Na dann, rechnen wir mal aus, wievielen Sprachen wir so mächtig sind!

 

gratulation suzan, toller bericht, leider konnte ich aus beruflichen gründen nicht dabei sein. die mesic`sche antwort ist einfach herrlich und danke linda fürs wittgenstein zitat. wenn ich denke, daß ich neben meiner muttersprache und fluent english noch ein halbes dutzend sprachen auf "survival" level beherrsche möchte man ja beinahe im boden versinken. trotzdem, es macht mir einfach spass, z.B: in paris meine rudimentären französisch kenntnisse "auszupacken"
und den menschen ein lächeln zu entlocken. gibts eigentlich einen crash kurs für türkisch oder serbokroatisch, der über dobre den & co hinausgeht?

 

...an den Herren mit der Sprachbegabung! Soweit ich weiß bietet die Volkshochschule Kurse von Level A-C
Eine Sprache lernt man am Besten indem man sich in dem jeweiligen Land aufhält und sich mit Native Speakern unterhält- also ab nach Istanbul, Serbien, Bosnien, Kroatien &Co ;)

 

Linda, schöne Grüße von einer gewissen Susana!!

 

weiß schon =) grüße zurück

 

bei yildiz' antwort auf die frage "wie sind sie zum schreiben gekommen?" musste ich kurz lachen. ich habe auch immer texte für bekannte, freunde und freundinnen geschrieben. briefe, gedichte, glückwünsche, sogar bewerbungsschreiben.

es ist nun lange genug her und jetzt will ich es endlich loswerden. also, an alle damaligen freunde und freundinnen meiner freunde und freundinnen: "die liebesbriefe waren alle von mir!" :)

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