Aktivismus aus dem Exil

02. Juni 2023

Bevor sie ihrer Heimat den Rücken kehrte, wurde sie drei Mal verhaftet: Lolja Nordic ist eine der bekanntesten Feministinnen Russlands. Nun lebt sie in Wien und betreibt weiterhin Antikriegsaktivismus aus dem Ausland. Die Künstlerin und DJ aus Sankt Petersburg im Porträt.

 

Von Nada El-Azar-Chekh, Fotos: Atila Vadoc 

 

Foto: Atila Vadoc
Foto: Atila Vadoc

 

"Es sprach sich herum, dass die Polizei einige bekannte Leute aus der aktivistischen Szene verhaften wird. Ich verwendete mein Handy außerhalb meiner Wohnung, damit man meinen genauen Standort nicht ermitteln konnte. Solche Gerüchte bewahrheiten sich leider fast immer, deshalb musste ich meine Ausreise planen, erinnert sich Lolja Nordic.

Die queerfeministische Antikriegsaktivistin und Künstlerin ist in ihrer Heimat Russland bereits drei Mal verhaftet worden, bevor sie im März 2022 beschloss, das Land zu verlassen. Als Teil der Organisation „Feminist Anti-War Resistance“ geriet sie schnell auf das Radar der russischen Behörden, weil sie über den Krieg in der Ukraine aufklärte: Unter anderem verbreitete sie die fiktive Zeitung „Zhenskaya Pravda“ (dt. „Die weibliche Wahrheit / Realität), die im PDF-Format zum Download frei verfügbar ist und selbst gedruckt werden kann. Darin befinden sich Informationen über den Krieg sowie Fotos von zerstörten ukrainischen Städten.

Mithilfe einer Menschenrechtsorganisation gelang Lolja die Flucht aus Russland. Seit Herbst 2022 lebt sie nun in Wien, wo sie an der Akademie der Bildenden Künste studiert.

 

Bekanntes Gesicht der Aktivistischen Szene

Bis zu ihrer Ausreise dachte Lolja, dass sie als prominente Aktivistin leicht an ein humanitäres Visum in Europa kommen würde. Doch durch die Reisebeschränkungen für russische Staatsangehörige musste sie erfinderisch werden. „Ich bin durch Zufall in Wien gelandet, weil ich an der Akademie aufgenommen wurde und so ein Student:innenvisum bekam. Für mich ist es eine Ausnahmesituation, einfach in ein Land zu gehen, nur weil ich mich dort aufhalten darf – ohne Gewissheit, ohne Geld, ohne die Sprache zu sprechen.

Zuvor hatte Lolja in Estland und Litauen ein halbes Jahr lang ukrainische Flüchtlinge unterstützt und feministische Aktionen aus dem Exil koordiniert – das macht sie auch heute noch, jetzt eben von Wien aus. 

Bereits vor Beginn der großflächigen Invasion Russlands in die Ukraine war Lolja ein bekanntes Gesicht der aktivistischen Szene. Ihre Anfänge finden sich vor mehr als sechs Jahren, als sie begann, an politischen Demonstrationen teilzunehmen. „Zu Beginn war ich mehr eine Zivilrechtsaktivistin, nahm an Oppositionsdemos teil und kämpfte für einen besseren Umweltschutz. Sehr bald wurde ich eine feministische Aktivistin, da ich nicht nur in meinem Privatleben mit Sexismus zu kämpfen hatte, sondern auch in der aktivistischen Szene innerhalb der russischen Opposition, so die Aktivistin. Sie trat Lesekreisen bei und informierte sich in feministischen Klubs über Frauenrechte. „Ich wurde in der feministischen Szene in Sankt Petersburg und Moskau aktiv, bin viel herumgereist und habe viele Freund:innen gefunden. Als Video- und Performancekünstlerin habe ich politische Themen in meine Praxis aufgenommen. Bis zur Corona-Pandemie und dem Krieg habe ich auch als DJ regelmäßig queere, feministische und Safer-Space-Partys organisiert. Besonders bekannt ist Lolja als Co-Gründerin des gemeinnützigen Musikfestivals „Ne Vinovata“ („Nicht ihre Schuld), das per DIY-Prinzip in jeder beliebigen Stadt selbst organisiert werden kann und auf häusliche Gewalt aufmerksam macht, die auch in Russland ein weit verbreitetes Problem ist. Lolja hat selbst in ihrer Familie Gewalt erlebt und wenig Unterstützung dagegen erfahren, woraufhin sie den Kontakt zur Familie abbrach.

 

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©Atila Vadoc

 

Propaganda und Kriegslust

Das letzte Mal, dass Lolja Kontakt mit ihrer Familie hatte, war im Jahr 2021, nachdem es bei ihren Eltern zu einer Hausdurchsuchung aufgrund ihrer Aktivitäten gekommen war. „Meine Familie unterstützte meinen Aktivismus eigentlich nie, obwohl sie früher sogar recht liberal war. Ich würde sagen, dass sich meine Familie über die letzten 20 Jahre sehr verändert hat und immer konservativer geworden ist, gemeinsam mit dem Regime unter Putin, erklärt die Russin. In ihren Augen ist ihre Familie ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Staatspropaganda auf die Bevölkerung auswirkt. „Sie sind überzeugt von den traditionellen Werten, die propagiert werden, also sehr Anti-LGBTQ und Anti-Feminismus. Sie unterstützten die Annexion der Krim 2014 und begrüßen die fortschreitende Militarisierung Russlands seither.

Lolja wurde zum ersten Mal im Jahr 2021 bei einer sogenannten „Navalny-Demonstration verhaftet. „Ich mag den Begriff Navalny-Demo eigentlich nicht. Die russische Opposition ist nämlich eine sehr vielfältige, heterogene Szene und besteht bei Weitem nicht nur aus Alexey Navalnys Unterstützer:innen. In den Medien wird das aber oft verkürzt dargestellt.“ Dem Oppositionspolitiker selbst steht sie mit gemischten Gefühlen gegenüber. „Ich finde, Navalny ist zu liberal und ich betrachte seine politische Vergangenheit in der rechtsextremen Szene sehr kritisch. Gleichzeitig schätze ich die Recherchen über die Korruption in Russland aus seinem Team sehr und bin gegen seine Inhaftierung.“ Sie trat gegen die Verfolgung politischer Gegner auf die Straße und kann sich gut an ihre erste Verhaftung erinnern. „Ich saß mit vielen anderen Demonstrant:innen in einem großen Polizeiwagen und sammelte gleich alle Namen, um sie an Menschenrechtsorganisationen zu schicken, die kostenlos Anwält:innen zur Verfügung stellen. Die Polizei belügt dich und übt psychischen Druck auf dich aus, damit du das tust, was sie von dir will. Einige andere und ich weigerten uns, Dokumente zu unterschreiben, also steckte man uns zur Strafe in eine Zelle in der Polizeistation, wo Beamt:innen uns anschrien, bedrohten und uns den Zugang zu Toiletten und Wasser verwehrten.“ Am Tag darauf wurde Lolja vor Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt. „Einige Monate zuvor wurde die Wohnung meiner Eltern von der Polizei durchsucht, sie waren auf der Suche nach mir, also hatte man mich schon einige Monate vor der Verhaftung auf dem Schirm. Als ich das Gericht verließ, war ich erleichtert, dass es nur zu einer Geldstrafe gekommen war. Es gibt Spendenaktionen für Aktivist:innen, die in solchen Fällen helfen, dass man Bußgelder nicht aus eigener Tasche zahlen muss. Gleich vor dem Gericht wurde ich jedoch erneut verhaftet – zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden – da ich einige Monate zuvor eine friedliche Protestaktion für politische Gefangene organisiert hatte, bei der damals niemand verhaftet wurde.

 

Hoffnung auf Rückkehr

Im November 2021 wurde Lolja nach einer Straßenaktion gegen Gewalt an Frauen zum dritten Mal verhaftet. „Zwei Tage lang waren wir in einer Zelle auf der Polizeistation, die voller Blut gewesen ist, weil dort jemand vermöbelt worden war. Wir waren insgesamt vier Frauen und fühlten uns dort unwohl – man sagte uns, wenn wir es sauberer haben wollten, sollten wir mit unserer Kleidung selber putzen.“ Die feministische Bewegung in Russland habe über die letzten zehn Jahre stark an Zuwachs gewonnen, erzählt sie. „Ich glaube, unsere Stärke liegt darin, dass wir auf einer Grassroots-Ebene überall und ohne Hierarchien Aktivismus betreiben können und uns flexibel organisieren können.“ Neben ihrem Studium an der Akademie versucht sie, möglichst viel Zeit in den Aktivismus zu investieren, und machte sich auch mit der hiesigen Szene bekannt. Die Zukunft sieht ungewiss aus – Lolja gibt die Hoffnung nicht auf, eines Tages in ihre Heimatstadt Sankt Petersburg zurückkehren zu können. Einstweilen muss sie sich auf das Studium konzentrieren, da ihr Aufenthalt davon abhängt.

„Ich möchte betonen, dass ich eine von sehr vielen bin. Natürlich protestieren eine Menge Leute in Russland nicht, weil es in einem autoritären Regime wirklich furchteinflößende Konsequenzen geben kann – du kannst deinen Job und einfach alles verlieren, wegen eines bloßen Tweets gegen den Krieg. Ich kenne so viele Aktivist:innen, die genau wie ich mehrmals verhaftet wurden und das Land verlassen mussten. Und ich kenne auch solche, die noch öfter verhaftet wurden und nicht gegangen sind.“ Schätzungen zufolge sollen bereits über 900.000 Russ:innen seit Februar 2022 ihre Heimat verlassen haben. ●

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