Bist du Christ?

10. September 2020

Unser Autor Jad Turjman hat den Kriegsausbruch in Syrien 2011 miterlebt und schreibt seine Gedanken und Parallelen zu der heutigen Situation in Wien nieder. Er sieht in dieser Krise aber auch eine Lektion und großes Potenzial.

Bist du Christ? Du bist offener und aufgeschlossener als deine Landsleute! Du bist aber sicher kein strenger Muslim, daher kommst du mit der österreichischen Mentalität zurecht. Was ist dein Geheimnis, so gut integriert in Österreich zu sein? All diese und andere Fragen und Aussagen bekomme ich oft bei meinen Auftritten zu hören. Dabei fühle ich mich selbst nicht gut integriert. Worin denn? Ich kann für mich selbst nicht definieren, was diese sogenannte Integration ist. Ich weiß nur, dass Flucht oder Migration oft bedeutet, dass du auf den Startpunkt des Lebens zurückgeworfen wirst. Und das ohne die Fürsorge deiner Eltern und die vertraute Umgebung! Natürlich war mir all dies auf der Flucht und bei meiner Ankunft nicht bewusst. Ich wollte einfach so weit es geht von dem Wahnsinn in Syrien wegkommen und in einem Land leben, in dem ich als Mensch respektiert werde. Die ersten Wochen nach meiner Ankunft waren voller Erleichterung. Ich war froh, in so einem hochentwickelten Land angekommen zu sein und fasziniert von der Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit der ÖsterreicherInnen, die uns in vielerlei Hinsicht unterstützten. Aber diese Phase hielt nicht lange an. Abgesehen vom Heimweh und dem schweren Rucksack der Erlebnisse des Kriegs und der Flucht, wird die Erfahrung, fremd zu sein, und die Perspektivlosigkeit zu einer zunehmenden Bürde. Es war für mich klar, um wirklich anzukommen, muss ich mich auf das Leben hier einlassen und Näheres kennenlernen. Ich habe die Wohnung in Wien abgelehnt und bin in das Salzburger-Land eingezogen. Ich habe die deutsche Sprache bis zum C1-Niveau gelernt. Was dann passierte: Je mehr ich mich mit ÖsterreicherInnen umgeben habe, desto stärker wurde das Gefühl des Andersseins.

ICH FÜHLTE MICH SPRACHBEHINDERT

Die fehlenden sozialen Codes und Beherrschung der Sprache wurden immer mehr zur hemmenden Barriere. Oft erlebte ich, wenn ich etwas Kompliziertes artikulieren wollte, dass die Worte in meinem Mund stockten und ich lange brauchte, bis ich die passenden Begriffe fand, und dann fällt dir jemand ins Wort und das Gespräch geht weiter und ich fühlte mich sprachbehindert. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wurde mir deutlich, dass einen gleichwertigen Ersatz zu dem, was ich an Zugehörigkeit nach der Flucht verloren habe, zu finden, nicht möglich ist. Im übertragenen Sinne könnte man sich die Sache mit den sozialen Codes wie einen KabelAdapter vorstellen. Das Kabelende soll in den Anschluss des Gerätes hineinpassen, aber man kommt oft mit einem ganz anderen Adapter, der sich nicht anschließen lässt. Sprich, die Sozialisierung in der Heimat hat einen nicht auf diese Lebensstile und Lebenssituationen vorbereitet. Es fehlen gemeinsame Themen, Interessen und Werte.

ICH MAG ES, VON ZWEI KULTUREN ZU PROFITIEREN

 Problematisch bei diesem Anpassungsprozess ist das Gefühl der zunehmenden Entfremdung. Ich habe mich langsam vom alten, gewohnten Leben und Herkunftsmilieu distanziert, ohne irgendwo anzukommen und ohne unmittelbar eine soziale Heimat zu finden. Diese Entfremdung und Veränderung werden mir klar, wenn ich mit meiner Familie telefoniere oder mit Landsleuten unterwegs bin. Es klingt bis jetzt sehr nach schmerzhafter und verwirrender Erfahrung. Aber diese Erfahrung hat auch positive Aspekte. Ich habe durch diese intensive Auseinandersetzung mit mir und meiner neuen Umgebung mehr zu mir selbst gefunden und habe mich mehr kennengelernt. Ich bin mehr als je zuvor im Einklang mit mir selbst und habe mittlerweile meinen personalisierten Lebensstil. Ich habe das Privileg, aus zwei verschiedenen „Kulturen“ zu profitieren. Denn genau diese Unterschiede machen das Leben bunt und bereichernd. Je mehr ich Menschen, die anders als ich sind, kennenlerne, umso schärfer wird mein Blick auf die Wirklichkeit.

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